Was Betrachterinnen und Betrachter eines Kunstwerks sehen und empfinden, ist mit ihrer sozio-kulturellen
Prägung und der Vertrautheit mit einem Bild verknüpft.
Wien (pr&d) - Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker haben diese Theorie mithilfe psychologischer
Methoden nun in einem Projekt des Wissenschaftsfonds FWF empirisch nachgewiesen. Der Einfluss der Kultur auf das
Individuum, auf seine Erfahrungen und sein Verhalten beschäftigt die Forschung seit Langem und ist gut belegt.
Auch dass das sozio-kulturelle Umfeld die visuelle Wahrnehmung prägt, zeigen Studien. Doch bis vor Kurzem
fehlten Untersuchungen aus der kunsthistorischen Forschung, die das "kulturelle Auge" im Blick des Betrachters
empirisch belegen konnten.
Die kulturelle Prägung
"Eine zentrale Frage für die Kunstgeschichte ist nach wie vor, inwiefern Sehgewohnheiten und Kunstwerke
von der Kultur einer bestimmten Zeit geprägt sind oder auch nicht", erklärt Kunsthistoriker Raphael
Rosenberg von der Universität Wien und nennt ein Paradebeispiel der Kunstgeschichte: die stark geometrisch
geprägte Malerei der italienischen Frührenaissance im Unterschied zur kalligraphisch orientierten Malkunst
der süddeutschen Spätgotik. Die kunsthistorische Forschung spricht hier vom "Period Eye" als
Ausdruck dafür, wie kulturelle und soziale Gegebenheiten die Kunst und ihre Betrachterinnen und Betrachter
beeinflussen.
Hightech-Kunstforschung
Um diese Thesen empirisch abzusichern, hat sich Rosenberg in einem aktuellen Projekt des Wissenschaftsfonds
FWF einer bewährten Methode der Psychologie bedient: den Aufzeichnungen der Blickbewegung. In dem weltweit
ersten Eye-Tracking-Labor für Kunstgeschichte, das Rosenberg 2009 von Heidelberg nach Wien übersiedelte,
wurde gemeinsam mit Fraunhofer ein Prototyp mit spezieller Software entwickelt, der die Blicke von Betrachterinnen
und Betrachtern von Gemälden ohne physischen Kontakt sowohl im Labor als auch im Museum aufzeichnet und auswertet.
Österreich vs. Japan
In Zusammenarbeit mit dem Institut für Psychologische Grundlagenforschung der Uni Wien haben Rosenberg
und sein Team in den vergangenen zwei Jahren eine kulturvergleichende Studie durchgeführt. Mit dem Eye-Tracker
wurden Daten von jeweils 50 Personen aus Japan und Österreich erhoben, die in den beiden Ländern Gemälde
aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen betrachteten. Die beiden Nationen unterscheiden sich deutlich in ihrer
visuellen Kultur, doch verrät das auch ihr Blick? Die Antwort ist "ja" und "nein". Die
Annahme der Forscherinnen und Forscher, dass etwa die Leserichtung eine Rolle bei der Betrachtung eines Bildes
spielen könnte, hat sich bis dato nicht bewiesen, wenngleich die Auswertungen noch laufen. "In beiden
Gruppen war die Tendenz zu mehr horizontalen Blickbewegungen", sagt Hanna Brinkmann vom Projektteam zu den
ersten Ergebnissen. Durch das Internet werde auch in Japan zunehmend horizontal statt von oben nach unten geschrieben,
sieht Brinkmann eine mögliche Erklärung dafür.
Analytisch vs. ganzheitlich
Sehr wohl zu bestätigen scheint sich hingegen die unterschiedliche Konzentration auf den Vordergrund beziehungsweise
Hintergrund der Bilder, die im Zusammenhang mit der Theorie vom westlich geprägten Individualismus und asiatischen
Kollektivismus steht. So hat die japanische Untersuchungsgruppe deutlich ausgeprägter auf den Hintergrund
der Bilder fokussiert als die österreichischen Personen, die sich mehr auf Figuren im Vordergrund konzentrierten.
Zusätzlich zu den beiden Vergleichsgruppen konnte das Team um Rosenberg auch zahlreiche Daten von Besucherinnen
und Besuchern des Kunsthistorischen Museums erhalten, indem vier Wochen lang die Sehgewohnheiten von mehr als 800
Personen zunächst ohne deren Wissen aufgezeichnet und anschließend mittels Fragebogen zusätzlich
evaluiert wurden. "Wir versuchen auf der Ebene der Blickbewegung einen Weg zu öffnen, um das 'Period
Eye' besser zu fassen und ein Instrumentarium zu erhalten, das historische Unterschiede erklären könnte",
erklärt Raphael Rosenberg sein Forschungsinteresse.
Kunst und Gender
Neben kulturellen Prägungen beziehungsweise kollektiven Unterschieden wie Schrift, Geometrie, analytisches
oder ganzheitliches Denken, spielen auch Geschlechterbilder eine wichtige Rolle in der visuellen Wahrnehmung. Das
Thema "Gender" ist dementsprechend der zweite Fokus des FWF-Projekts. Wie weibliche und männliche
Figuren auf die Betrachterinnen und Betrachter wirken und inwiefern wiederum sich der Blick der Frau von dem des
Mannes unterscheidet, hat Projektmitglied Mario Thalwitzer anhand der Blickaufzeichnungen im Labor analysiert.
Dabei wird untersucht, inwieweit Thesen der Forschung zutreffen, die Männern einen stärker fokussierten
Blick und Frauen ein mehr kontextbezogenes Blickverhalten zuschreiben.
Raphael Rosenberg
ist Kunsthistoriker und stellvertretender Vorstand des Instituts für Kunstgeschichte an der Universität
Wien. Rosenbergs Forschungsfokus liegt auf der Geschichte der Wahrnehmung und Interpretation von Kunstwerken. Das
FWF-Projekt "The Cultural and Gendered Eye" wird in Zusammenarbeit mit dem Psychologen Helmut Leder von
der Universität Wien durchgeführt. Rosenberg ist unter anderem auch Mitglied der Forschungsplattform
"Cognitive Science"
https://cognitivescience.univie.ac.at
|