Fernpendeln in der Erdölindustrie:
 Expertise aus Österreich

 

erstellt am
09. 06. 16
11:00 MEZ

Lebensrealität mobiler ArbeiterInnen in Russland und Kanada wird von Wien aus erschlossen
Wien (scinews) - Fernpendeln wird weltweit immer wichtiger. Der Grund: Erdöl, Erdgas und andere Bodenschätze werden zunehmend dort abgebaut, wo wenige bis gar keine Menschen leben. Wer aber sind jene mobilen ArbeiterInnen, die unsere Rohstoffe fördern und damit die Lebensadern unserer Wirtschaft speisen? Im globalen Forschungsneuland "Fernpendeln" erschließt die österreichische Sozialanthropologin und Arktisforscherin Gertrude Saxinger diese Fragen. Sie legt dazu nun im Böhlau-Verlag ein erstes Buch vor.

In „Unterwegs - Mobiles Leben in der Erdgas- und Erdölindustrie in Russlands Arktis“ bündelt die Wissenschaftlerin vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Universität Wien Resultate ihrer langjährigen Feldforschungen in der russischen Arktis. Das Buch wird kommende Woche in Wien vorgestellt werden. Das Thema "Fernpendeln" – also zyklisch etwa zwei bis vier Wochen am Arbeitsplatz zu leben und wieder zwei bis vier Wochen zu Hause zu sein – wird weltweit derzeit nur von wenigen erforscht.

Diese wissenschaftliche Community "ist wegen der rapide wachsenden Nachfrage an international mobilem Personal für Rohstoffregionen weitab von Großstädten stetig stärker gefordert. Unsere Expertise ist bei den Industriebetrieben im Bergbau und in der Petroleumindustrie, aber auch bei den ArbeitnehmerInnen-Vertretungen höchst gefragt. In den Rohstoff-Hotspots mit extremen klimatischen und geografischen Bedingungen, zum Beispiel in der Arktis oder im australischen Outback wird zum überwiegenden Teil mobil gearbeitet. Menschen legen also zyklisch sehr lange Strecken fliegend oder fahrend zurück und leben für einen maßgeblichen Zeitraum in Camps“, sagt die Forscherin.

Forschungslücken schließen
Ihr Buch versteht Saxinger als "Beitrag dazu, vor allem die Russland spezifische Lücke in der internationalen Erforschung des Fernpendelns zu schließen". Das Werk ist in Deutsch mit einer erweiterten Zusammenfassung in Englisch sowie Russisch erschienen. Es ist online frei zugänglich und bietet auch für Management-Entscheidungen in der Erdölindustrie sowie im Bergbau praktisch einsetzbares Hintergrundwissen an. „Für die Zufriedenheit der MitarbeiterInnen ist es unerlässlich, dass die Firmen in Camps und beim Transport gute Rahmenbedingungen schaffen.

Die arbeitenden Menschen müssen ihre sozial relevanten Räume, das heißt ihr Zuhause- und ihr Auf-Schicht-Sein, bestmöglich verbinden können. Sie sollten auch an ihrem entlegenen Arbeitsplatz Bedingungen vorfinden, die ihnen ein gesundes Alltagsleben ermöglichen“, sagt die Forscherin. Die Wissenschaftlerin hat seit 2007 intensiv die Lebens- und Arbeitsbedingungen von FernpendlerInnen im west-sibirischen, arktischen und subarktischen Norden Russlands erforscht. "Dazu wurde ich selbst zur Arbeitsnomadin, denn während meiner Forschung habe ich 25.000 Kilometer, vor allem in Pendlerzügen und teilweise per Flugzeug, zurückgelegt", erklärt Saxinger.

Klischees entkräften - Grundlagen anbieten
Auf Basis ihrer Hunderten von Interviews und informellen Gespräche, statistischen Umfragen mit mobilen ArbeiterInnen sowie Beobachtungen in Camps der russischen Arktis räumt die Wissenschaftlerin (43) mit Klischees auf. In ihren vergleichenden Studien in Kanada und auch Australien zeigt sich laut Saxinger, "dass mobile Arbeit keineswegs ein Job ausschließlich für ‚starke Männer‘ ist, die zu allem bereit sind, enorme Belastungen ertragen können und hauptsächlich gescheiterte Beziehung erfahren haben sowie ihre Freizeit mit Alkohol und Prostitution verbringen".

Zwischen 10% und 30% je nach Aufgabenbereich seien Frauen. Die überwiegende Mehrheit all dieser ArbeiterInnen führe ein zufriedenstellendes Privatleben und wolle auch weiterhin mobil arbeiten. "Für den anderen Teil der StudienteilnehmerInnen ist es jedoch schwer, sich an die Bedingungen anzupassen. Dann motiviert auch das hohe Gehalt nicht, das drei- bis sechsfach höher ist, als jenes der Leute zu Hause in den russischen Zentralregionen. Zahlreiche ArbeiterInnen scheiden nach nur ein paar Schichten oder Jahren wieder aus dem System aus“, erklärt die Forscherin. Durch ihre explorative Forschung zeigt Saxinger auf, dass sich die Gruppe mobiler ArbeiterInnen in der Erdölindustrie und im Bergbau aus den unterschiedlichsten Typen von Menschen zusammensetzt. Insbesondere sei die durchaus hohe Anzahl an Technikerinnen bemerkenswert, was Saxinger als soziales Erbe der sowjetischen Gleichstellungspolitik interpretiert.

Ganz im Gegensatz zum öffentlichen, teilweise auch im akademischen Diskurs gezeichneten Bild, ist das Leben zwischen Schicht, Reise und Zuhause nicht problematisch, sondern gelebte Normalität. "FernpendlerInnen leben nicht in einem sozialen Vakuum. Sie sind so different, wie es die Mehrheitsgesellschaft ist. Mobile Beschäftigte sollten daher weniger als statische Humanressource betrachtet werden, sondern vielmehr als aktive, reflektierte TeilhaberInnen der Petroleumindustrie, die klare Vorstellungen von der Ausgestaltung des Fernpendelns und eines solchen Lebens haben. Nur so können sie als GesprächspartnerInnen wertvolle Beiträge zur Weiterentwicklung dieser Arbeitskräftebereitstellungsmethode liefern", betont die Expertin.

Saxingers Arbeiten und auch die Publikation ihres Buches wurden vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF sowie von der Universität Wien, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) gefördert. Die Wissenschaftlerin ist Mitglied des Austrian Polar Research Institute (APRI). Sie forscht zur Rohstoffindustrie in der russischen und kanadischen Arktis am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien sowie am Yukon College im kanadischen Whitehorse. Saxinger ist Dissertationspreisträgerin für Migrationsforschung der ÖAW.

Stichwort Fernpendeln
Rund zwei Drittel der erwerbstätigen ÖsterreicherInnen erreichen ihren Arbeitsplatz in weniger als einer halben Stunde. In Zentraleuropa gilt ein Arbeitsweg von einer Stunde als Seltenheit. Beispielsweise sind viele russische ArbeiterInnen laut Saxinger über 30 Stunden – bis hin zu mehreren Tagen – zu ihrem Arbeitsplatz unterwegs. „Weil es mittlerweile zu teuer geworden ist, bei jedem neu erschlossenen Erdgas- oder Erdölfeld im dünn besiedelten Nordrussland eine entsprechende Siedlung und Infrastruktur aufzubauen, wird ferngependelt. Noch in den 1980er Jahren baute man in der Sowjetunion große monoindustrielle Städte am Polarkreis, wo die Beschäftigten dieser Sektoren permanent angesiedelt wurden. Heute lassen Konzerne wie Gazprom, Lukoil und viele mehr ihre MitarbeiterInnen aus den bis zu 3.000 Kilometer entfernten Regionen wie Baschkortostan, Tschuwaschien oder dem Nordkaukasus nach Nordwestsibirien zyklisch einfliegen, wo sich die derzeit größten Erdöl- und Erdgaslagerstätten befinden“, erklärt die Wissenschaftlerin.

 

 

 

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