Lebensrealität mobiler ArbeiterInnen in Russland und Kanada wird von Wien aus erschlossen
Wien (scinews) - Fernpendeln wird weltweit immer wichtiger. Der Grund: Erdöl, Erdgas und andere Bodenschätze
werden zunehmend dort abgebaut, wo wenige bis gar keine Menschen leben. Wer aber sind jene mobilen ArbeiterInnen,
die unsere Rohstoffe fördern und damit die Lebensadern unserer Wirtschaft speisen? Im globalen Forschungsneuland
"Fernpendeln" erschließt die österreichische Sozialanthropologin und Arktisforscherin Gertrude
Saxinger diese Fragen. Sie legt dazu nun im Böhlau-Verlag
ein erstes Buch vor.
In „Unterwegs - Mobiles Leben in der Erdgas- und Erdölindustrie in Russlands Arktis“ bündelt die Wissenschaftlerin
vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Universität Wien Resultate ihrer langjährigen
Feldforschungen in der russischen Arktis. Das Buch wird kommende Woche in Wien vorgestellt werden. Das Thema "Fernpendeln"
– also zyklisch etwa zwei bis vier Wochen am Arbeitsplatz zu leben und wieder zwei bis vier Wochen zu Hause zu
sein – wird weltweit derzeit nur von wenigen erforscht.
Diese wissenschaftliche Community "ist wegen der rapide wachsenden Nachfrage an international mobilem Personal
für Rohstoffregionen weitab von Großstädten stetig stärker gefordert. Unsere Expertise ist
bei den Industriebetrieben im Bergbau und in der Petroleumindustrie, aber auch bei den ArbeitnehmerInnen-Vertretungen
höchst gefragt. In den Rohstoff-Hotspots mit extremen klimatischen und geografischen Bedingungen, zum Beispiel
in der Arktis oder im australischen Outback wird zum überwiegenden Teil mobil gearbeitet. Menschen legen also
zyklisch sehr lange Strecken fliegend oder fahrend zurück und leben für einen maßgeblichen Zeitraum
in Camps“, sagt die Forscherin.
Forschungslücken schließen
Ihr Buch versteht Saxinger als "Beitrag dazu, vor allem die Russland spezifische Lücke in der internationalen
Erforschung des Fernpendelns zu schließen". Das Werk ist in Deutsch mit einer erweiterten Zusammenfassung
in Englisch sowie Russisch erschienen. Es ist online frei zugänglich und bietet auch für Management-Entscheidungen
in der Erdölindustrie sowie im Bergbau praktisch einsetzbares Hintergrundwissen an. „Für die Zufriedenheit
der MitarbeiterInnen ist es unerlässlich, dass die Firmen in Camps und beim Transport gute Rahmenbedingungen
schaffen.
Die arbeitenden Menschen müssen ihre sozial relevanten Räume, das heißt ihr Zuhause- und ihr Auf-Schicht-Sein,
bestmöglich verbinden können. Sie sollten auch an ihrem entlegenen Arbeitsplatz Bedingungen vorfinden,
die ihnen ein gesundes Alltagsleben ermöglichen“, sagt die Forscherin. Die Wissenschaftlerin hat seit 2007
intensiv die Lebens- und Arbeitsbedingungen von FernpendlerInnen im west-sibirischen, arktischen und subarktischen
Norden Russlands erforscht. "Dazu wurde ich selbst zur Arbeitsnomadin, denn während meiner Forschung
habe ich 25.000 Kilometer, vor allem in Pendlerzügen und teilweise per Flugzeug, zurückgelegt",
erklärt Saxinger.
Klischees entkräften - Grundlagen anbieten
Auf Basis ihrer Hunderten von Interviews und informellen Gespräche, statistischen Umfragen mit mobilen ArbeiterInnen
sowie Beobachtungen in Camps der russischen Arktis räumt die Wissenschaftlerin (43) mit Klischees auf. In
ihren vergleichenden Studien in Kanada und auch Australien zeigt sich laut Saxinger, "dass mobile Arbeit keineswegs
ein Job ausschließlich für ‚starke Männer‘ ist, die zu allem bereit sind, enorme Belastungen ertragen
können und hauptsächlich gescheiterte Beziehung erfahren haben sowie ihre Freizeit mit Alkohol und Prostitution
verbringen".
Zwischen 10% und 30% je nach Aufgabenbereich seien Frauen. Die überwiegende Mehrheit all dieser ArbeiterInnen
führe ein zufriedenstellendes Privatleben und wolle auch weiterhin mobil arbeiten. "Für den anderen
Teil der StudienteilnehmerInnen ist es jedoch schwer, sich an die Bedingungen anzupassen. Dann motiviert auch das
hohe Gehalt nicht, das drei- bis sechsfach höher ist, als jenes der Leute zu Hause in den russischen Zentralregionen.
Zahlreiche ArbeiterInnen scheiden nach nur ein paar Schichten oder Jahren wieder aus dem System aus“, erklärt
die Forscherin. Durch ihre explorative Forschung zeigt Saxinger auf, dass sich die Gruppe mobiler ArbeiterInnen
in der Erdölindustrie und im Bergbau aus den unterschiedlichsten Typen von Menschen zusammensetzt. Insbesondere
sei die durchaus hohe Anzahl an Technikerinnen bemerkenswert, was Saxinger als soziales Erbe der sowjetischen Gleichstellungspolitik
interpretiert.
Ganz im Gegensatz zum öffentlichen, teilweise auch im akademischen Diskurs gezeichneten Bild, ist das Leben
zwischen Schicht, Reise und Zuhause nicht problematisch, sondern gelebte Normalität. "FernpendlerInnen
leben nicht in einem sozialen Vakuum. Sie sind so different, wie es die Mehrheitsgesellschaft ist. Mobile Beschäftigte
sollten daher weniger als statische Humanressource betrachtet werden, sondern vielmehr als aktive, reflektierte
TeilhaberInnen der Petroleumindustrie, die klare Vorstellungen von der Ausgestaltung des Fernpendelns und eines
solchen Lebens haben. Nur so können sie als GesprächspartnerInnen wertvolle Beiträge zur Weiterentwicklung
dieser Arbeitskräftebereitstellungsmethode liefern", betont die Expertin.
Saxingers Arbeiten und auch die Publikation ihres Buches wurden vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF
sowie von der Universität Wien, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Österreichischen
Forschungsgemeinschaft (ÖFG) gefördert. Die Wissenschaftlerin ist Mitglied des Austrian Polar Research
Institute (APRI). Sie forscht zur Rohstoffindustrie in der russischen und kanadischen Arktis am Institut für
Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien sowie am Yukon College im kanadischen Whitehorse. Saxinger
ist Dissertationspreisträgerin für Migrationsforschung der ÖAW.
Stichwort Fernpendeln
Rund zwei Drittel der erwerbstätigen ÖsterreicherInnen erreichen ihren Arbeitsplatz in weniger als einer
halben Stunde. In Zentraleuropa gilt ein Arbeitsweg von einer Stunde als Seltenheit. Beispielsweise sind viele
russische ArbeiterInnen laut Saxinger über 30 Stunden – bis hin zu mehreren Tagen – zu ihrem Arbeitsplatz
unterwegs. „Weil es mittlerweile zu teuer geworden ist, bei jedem neu erschlossenen Erdgas- oder Erdölfeld
im dünn besiedelten Nordrussland eine entsprechende Siedlung und Infrastruktur aufzubauen, wird ferngependelt.
Noch in den 1980er Jahren baute man in der Sowjetunion große monoindustrielle Städte am Polarkreis,
wo die Beschäftigten dieser Sektoren permanent angesiedelt wurden. Heute lassen Konzerne wie Gazprom, Lukoil
und viele mehr ihre MitarbeiterInnen aus den bis zu 3.000 Kilometer entfernten Regionen wie Baschkortostan, Tschuwaschien
oder dem Nordkaukasus nach Nordwestsibirien zyklisch einfliegen, wo sich die derzeit größten Erdöl-
und Erdgaslagerstätten befinden“, erklärt die Wissenschaftlerin.
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