Vortrag des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten zur Zukunft der Vereinten Nationen
im österreichischen Parlament
Wien (pk) - Angesichts von 400 militärischen Konflikten in der Welt, Millionen von schutz- und hilfsbedürftigen
Flüchtlingen sowie Terrorgefahr, Klimawandel und Naturkatastrophen sind die Vereinten Nationen notwendiger
und unersetzbarer denn je, sagte Zweiter Nationalratspräsident Karlheinz Kopf bei der Begrüßung
eines prominenten Publikums mit Bundespräsident Heinz Fischer an der Spitze, das sich am 06.06. im Sitzungssaal
des Nationalrats einfand, um einen Vortrag des ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Horst
Köhler, über die Zukunft der Vereinten Nationen zu hören.
Es gibt kein Global Village, aber ein globales Problembewusstsein
"Widersprüche und Spannungsfelder bei den Vereinten Nationen" ortete Bundeskanzler a.D. Wolfgang
Schüssel, der als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und Vereinte
Nationen betonte, wie wichtig die multilaterale Kooperation und eine Balance zwischen Konsens und Konflikt, Macht
und Masse, Moral und Interesse sowie zwischen Nord und Süd bei den Vereinten Nationen sei. "Es gibt kein
Global Village, aber ein globales Bewusstsein der Probleme und große Erwartungen an die Vereinten Nationen,
sagte Schüssel. Bundespräsident a.D. Horst Köhler stellte Schüssel als einen ausgewiesenen
Experten mit großer politischer Erfahrung vor und schilderte dessen Lebenslauf (Geburtsjahr 1943) vom Flüchtlingskind
aus dem Osten Deutschlands über den Werkstudenten der Wirtschaftswissenschaften zum Regierungsberater, Staatssekretär
und Chefverhandler Deutschlands beim Maastricht-Vertrag bis hin zum Bundespräsidenten Deutschlands (2004 bis
2010).
Köhler würdigt Rolle Wiens als UN-Amtssitz
Es sei eine Ehre für ihn, ausgerechnet in Wien seinen Vortrag über die Vereinten Nationen zu halten,
zumal diese Stadt wie keine andere Geschichtsträchtigkeit mit Zukunftswillen, nationale Identität mit
Weltläufigkeit verbinde und der UNO dadurch Bodenhaftung verleihe, schickte Horst Köhler voraus. Wien
habe in seiner langen Geschichte ein feines Gespür für den Unterschied zwischen Oberfläche und Substanz
entwickelt und poche mit den hier anwesenden UN-Organisationen stets auf die konkrete Nützlichkeit internationaler
Zusammenarbeit. "Die Welt muss Wien und Österreich dafür dankbar sein".
Die Vereinten Nationen zwischen Enttäuschung und Verheißung
"Die Vereinten Nationen sind ein Spiegel der Menschheit mit all ihren Makeln und Möglichkeiten".
Ausgehend von dieser Grundfeststellung räumte Horst Köhler in seinem Referat ein, er könne kein
Loblied auf die UNO anstimmen, sein Lied sei vielmehr eines der Klage, aber auch der Dankbarkeit, der Hoffnung
und der Zuversicht. Die heute vielfach kritisierten Widersprüchlichkeiten und Unvollkommenheiten der Vereinten
Nationen seien schon den Beteiligten der Gründungskonferenz bewusst gewesen, sie hätten damals aber wohl
einfach das bestmögliche Verhandlungsergebnis dargestellt, sei es doch vor allem darum gegangen, ein Scheitern
wie beim Völkerbund nicht mehr zuzulassen.
Die Gründung der Vereinten Nationen sei kein Selbstläufer gewesen, sondern das Ergebnis von politischem
Willen, einer mutigen Vision und knallhartem Pragmatismus. Der erfolgreiche Verhandlungsabschluss von 1945 gilt
auch als Mahnung an all jene, die ihr Heil wieder in nationalen Schneckenhäusern suchen, und auch an jene,
die ihren Defätismus für Realismus halten und ihren Mangel an politischen Visionen für Realpolitik.
"Wir sitzen alle im selben Boot": Köhler ruft zu Multilateralismus auf
Spannungsfelder prägen die UNO, ist sie doch dem kollektiven Willen ihrer Mitgliedstaaten unterworfen und
dennoch ein eigenständiges Subjekt. Seinen Ausdruck findet dieses Dilemma nach den Worten Köhlers im
Sicherheitsrat, dessen Instrumentalisierung durch einzelne Staaten ein Grundübel der Vereinten Nationen darstelle
und die Weltgemeinschaft oft in ihrer empfindlichen Funktion, der Bewahrung des Friedens, lähme. Die Realität
zeige jedoch, dass die nationalstaatliche Souveränität an ihre Grenzen stoße, dies vor allem angesichts
globaler Herausforderungen wie Terrorismus, Klimawandel, Migration. All diese Themen rufen nach einer "global
governance", deren Ziel sich nicht mehr darauf beschränkt sicherzustellen, dass die nationalen Boote
nicht miteinander kollidieren. Vielmehr gehe es darum, die Weltpolitik in einem Boot zu koordinieren, in dem alle
Völker längst sitzen.
So gesehen war für Köhler die Gründung der Vereinten Nationen auch ein Akt der kollektiven Selbstbeschränkung,
der die Basis für das Funktionieren des Multilateralismus als Antwort auf globale Probleme bildet. Dies betreffe
insbesondere die mächtigen Staaten, die nicht alles tun dürfen, was sie können. Denn wenn der Multilateralismus
versagt, dann versage nicht nur die Menschlichkeit – dies zeigen Beispiele wie Ruanda, Srebrenica und jetzt Syrien
-, am Ende werde auch die Menschheit versagen, warnte Köhler.
Ein Spannungsfeld ortete Köhler auch zwischen dem Anspruch möglichst breiter Beteiligung einerseits und
dem Streben nach Effektivität, wie es sich etwa in der Konkurrenz von Generalversammlung und Sicherheitsrat
manifestiert. Auch hier könne nur eine Haltung der Selbstbeschränkung zu fruchtbarer Balance führen.
Nur wenn nicht immer in jeder Frage und bei jeder Stellenbesetzung alle ein Stück vom Kuchen abbekommen wollen,
sei der Kuchen noch nahrhaft. Dies setze aber Vertrauen voraus – unter den Staaten und in der Organisation.
Neue Herausforderungen fordern neuen Wertedialog
Um dieses Vertrauen aufzubauen, bedürfe es aber eines neuen Wertedialogs in der internationalen Politik, steht
für Köhler fest, der in diesem Zusammenhang auch vom Spannungsfeld der Werte sprach und dabei die Frage
in den Raum stellte, ob sich hinter dem Anspruch der UNO, universelle Werte zu vertreten, am Ende nicht doch ein
westliches Projekt verstecke. Der Vorwurf, die Menschenrechte würden die Vielfalt der Kulturen nicht respektieren,
geht nach den Worten Köhlers allerdings ins Leere, gelte es doch, gerade die Vielfalt der menschlichen Existenz
zu schützen. Die Vereinten Nationen seien in diesem Sinn auch immer Anwalt jener, die durch Armut und Unfreiheit
in ihrer Würde verletzt werden, wobei die Menschenrechtskonventionen, von der Kinderrechtskonvention bis hin
zur Behindertenrechtskonvention, globale Normen etablieren, die von den Menschen im Süden wie im Norden gegenüber
ihren Regierungen eingefordert werden können.
Universelle Menschenrechte als Selbstverpflichtung
Das Argument, es gebe aufgrund der auch von fast allen nicht-westlichen Staaten unterzeichneten Menschenrechtsabkommen
keinen Diskussionsbedarf mehr über ein gemeinsames Wertefundament der Menschheit, lässt Köhler jedoch
nicht gelten. Dafür seien die Herausforderungen zu groß und der bestehende Konsens offenbar zu brüchig.
Wir im Westen brauchen keine Angst davor zu haben, einen Wertedialog zu führen, und wir sollten uns dem auch
nicht aus Bequemlichkeit entziehen, mahnte Köhler. Wir müssen offen sein und zuhören können
– nicht um die Menschenrechte zu verwässern oder zu relativieren, sondern um sie zu ergänzen. Hinweise
auf diesem Weg könnte etwa das stärker am Kollektiv ausgerichtete Gesellschaftsmodell afrikanischer oder
asiatischer Kulturen oder auch die aus der Religionsforschung abgeleitete Idee eines Weltethos geben. Klar ist
für Köhler jedenfalls, dass die Menschenrechte "keine Erziehungsfolklore für Entwicklungsländer
und böse Diktaturen" darstellen, sondern vor allem Selbstverpflichtung sind. Die größte Bedrohung
für universelle Normen gehe möglicherweise nicht von jenen aus, die ihre Existenz grundsätzlich
anzweifeln, sondern von jenen, die sie lautstark unterstreichen, dann aber anders handeln.
Interdependenz zwingt zur Kooperation: "Hören wir den Weckruf!"
Neben der politischen bedarf es nach den Worten Köhlers aber auch einer materiellen Selbstbeschränkung.
So müsse das Projekt der Vereinten Nationen auch unser westliches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem hinterfragen,
dies vor allem angesichts des Umstands, dass 20% der Weltbevölkerung 80% der Ressourcen konsumieren. Große
Erwartungen verbindet Köhler mit der UN-Agenda 2030 und dem darin verankerten Bekenntnis zur Ausrottung der
extremen Armut, das seiner Meinung Hand in Hand zu gehen hat mit einer ökologischen Neuorientierung des Planeten.
Dieser Zielkatalog der Vereinten Nationen biete nun die Chance, dem jetzigen Zustand extremer Ungleichheit, des
Klimawandels, der Kriege und Flüchtlingskatastrophen eine strategische Alternative, eine Alternative der globalen
Partnerschaft, ein Narrativ der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Nutzen und zum Wohl aller Nationen entgegenzusetzen.
Köhler äußerte abschließend die Hoffnung, dass die Einsicht in die Notwendigkeiten der Interdependenz
dazu beiträgt, dass die Mitgliedstaaten, besonders die großen und die reichen, ihre nationalen Interessen
in neuem Lichte betrachten. Die Interdependenz zwingt zur Kooperation betonte er. Verweigern wir uns, so kommt
das Problem mit doppelter Wucht als Bumerang zurück, wie gerade die aktuelle Flüchtlingskrise zeigt.
Hören wir den Weckruf!
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