Über die Verschiebung kultureller Kartografien – lautet das Leitmotiv des steirischen
herbst 2016
Graz (steirischer herbst) - Es ist nicht verwunderlich, wenn in diesem Jahr auch in der Kunst ein Thema vorherrscht,
das uns alle mehr denn je bewegt: das alte Europa und sein Verhältnis zum Rest der Welt. Die realen politischen
Verhältnisse, die Fluchtbewegungen und die damit einhergehenden Diskussionen belegen, wie sehr dieses Europa
zur Disposition steht – politisch, wirtschaftlich, kulturell, ethisch – und unter massiven Druck geraten ist, sowohl
von innen wie von außen.
Mit dem diesjährigen Leitmotiv „Wir schaffen das. Über die Verschiebung kultureller Kartografien“ erinnern
wir an den Ausspruch von Angela Merkel, die wiederum Barack Obama zitiert – eine vielleicht naive und folgenschwere
Aussage, die aber ein Hinweis darauf ist, was der utopische Gehalt von Europa sein könnte: eine Gemeinschaft
demokratischer Staaten, die Grundwerte des menschlichen, friedlichen Zusammenlebens garantiert. Und gemeinsam Wege
findet, den Herausforderungen dieser Zeit pragmatisch und angstfrei zu begegnen.
Der Schweizer Theatermacher Milo Rau zeigt etwa in „Empire“ die Geschichten von Menschen, die durch Flucht nach
Europa kamen oder an seinen Rändern ihre Heimat haben, und stellt die Frage: Sind Europas uralte Traditionen
gefährdet oder ist die Migration nicht gerade eine davon? Die katalanische Künstlergruppe El Conde de
Torrefiel schafft unter Mitwirkung lokaler Akteurinnen und Akteure in „Guerrilla“ theatrale Tableaux Vivants unserer
Gesellschaft. „State“ von Choreografin Ingri Fiksdal und Regisseur Jonas Corell Petersen widmet sich der Verknüpfung
von Staat und Ritual, während „En Alerte“ des marokkanischen Tänzers Taoufiq Izeddiou sich zwischen Tradition
und Moderne bewegt.
Der steirische herbst geht 2016 nicht nur metaphorisch an die Grenze, er nimmt die südsteirische Grenzregion
– seit vergangenem Jahr neuralgische Zone entlang der Balkanroute für tausende flüchtende Menschen –
auch ganz real in den Fokus. In Leutschach wird das renommierte Dokumentartheaterduo Regine Dura und Hans-Werner
Kroesinger in performativen Wanderungen dem Thema der Grenzziehung in der Region nachspüren, während
in Leibnitz die griechische Blitz Theatre Group mit „Late Night“ auf den Trümmern Europas einen surrealen
Totenwalzer inszeniert. Der angolanische Künstler Kiluanji Kia Henda wird mit „Dies ist mein Blut“ in der
Region seine bislang größte installative Arbeit im öffentlichen Raum umsetzen, Monika M. Kalcsics
und Eugene Quinn laden zu „Grenzlandgesprächen“ und Rainer Prohaska in sein „Mobile Tea House“.
Das Festival wird aber auch Gegenwelten zu den derzeitigen Verhältnissen präsentieren – etwa in der Eröffnungsproduktion
„Die Nacht der Maulwürfe (Welcome to Caveland!)“ des französischen Theatermagiers Philippe Quesne, in
„Forever“, einem Universum aus vibrierenden Porzellan von Lemm&Barkey (Needcompany), in „Die Dinge der Welt“,
der neuen Arbeit des österreichischen Choreografen Philipp Gehmacher oder der ersten Bühnenarbeit des
thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul: „Fever Room“.
Zasha Colah, aus Indien stammende Kuratorin, untersucht in der zentralen herbst-Ausstellung „Body Luggage“ die
Migration von Gesten, Körpersprache und Wissenstransfer zwischen den Kulturen und Zeiten und die US-Künstlerin
Steffani Jemison entwickelt gemeinsam mit dem Musiker Justin Hicks anhand der Sammlung der Neuen Galerie Graz eine
musikbasierte Performance: „Mikrokosmos“.
Nicht nur die Welt, auch das Festival ist heuer in Bewegung und ruft eine Arrival Zone aus, ein Geflecht von Kunsträumen
und Veranstaltungsorten, markiert durch architektonische Interventionen des britischen Künstlerpaars Morag
Myerscough und Luke Morgan. Herzstück der Zone ist der Volksgarten-Pavillon, er wird für die Zeit des
Festivals zum transkulturellen und künstlerisch interdisziplinären „Haus der offenen Tore“. In einem
kollektiven Prozess entsteht hier im migrantisch geprägten Annenviertel ein Ort für alle.
Auch der deutsche Künstler Julian Hetzel wird dort seine „Schuldfabrik“ eröffnen und im Orpheum entsteht
der club panamur mit einer Fülle von internationalen Live-Acts und DJs, die ihre Szene für jeweils eine
Nacht exemplarisch nach Graz verpflanzen. Eigens hierfür schaffen der Künstler Georg Klüver-Pfandtner
und der Architekt Stefan Beer einen schillernden, vitalen Clubparasiten, der sich raumgreifend in das Orpheum hineingräbt.
Hier werden dann nicht nur die diesjährige herbst-Akademie und die herbst-Konferenz („Welcome to the Former
West“) untergebracht sein, sondern auch der vom Kollektiv Mamaza aus geborgten Pflanzen kreierte „Garden State“.
Der Idee des Leitmotivs mit Fragen nach Europa, nach Utopien und sich verändernden Kartografien schließen
sich auch viele weitere Ausstellungsprojekte an, etwa im < rotor >, der Camera Austria, the smallest gallery
– collaboration space, im esc medien kunst labor, Forum Stadtpark, Kunsthaus Graz, Grazer Kunstverein, in der Kunsthalle
Graz, dem Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien und im Haus der Architektur.
Und auch das musikprotokoll 2016 überprüft die eigene kulturelle Landkarte auf terrae incognitae und
dehnt den Globus der verzeichneten Musikwelten in alle Richtungen. Natalie Ofenböck und Der Nino aus Wien
wiederum haben sich im vergangenen Jahr für den steirischen herbst auf Recherchetour durch die Steiermark
aufgemacht und präsentieren nun, nach vielen großen und kleinen Erlebnissen „Das grüne Album“.
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