Wirtschaftskammer-Präsident nach Brexit-Votum für große Europäische Wirtschaftszone
zur Einbindung Großbritanniens in den europäischen Binnenmarkt
Wien (pwk) - „Jene, die den Brand gestiftet haben, haben ihre Lügen schon eingestanden. Jetzt stehlen
sie sich davon und hinterlassen ein gespaltenes und zerrissenes Land. Und es drängt sich der Eindruck auf,
dass Großbritannien selbst nicht weiß, wie es jetzt weitergehen soll“, stellte Wirtschaftskammer-Präsident
Christoph Leitl am 05.07. bei einer Pressekonferenz zu den Auswirkungen des britischen Votums für einen EU-Austritt
fest. Dabei gaben zudem Davor Sertic, Managing Director der auch in Großbritannien tätigen UnitCargo
Speditionsges.m.b.H., sowie Christian Kesberg, österreichischer Wirtschaftsdelegierter in London, ihre Einschätzung
der zu erwartende Auswirkungen eines Brexit ab.
„Die wirtschaftlichen Folgen des Brexit sind stark negativ in Großbritannien, während sie für die
übrigen Mitgliedsländer negativ, aber überschaubar sind“, zitierte Leitl aus einer ersten für
die WKÖ erstellten Kurz-Analyse von Professor Christian Keuschnigg von der Universität St. Gallen. WIFO-Chef
Aiginger stellte in seiner für die WKÖ erstellten Bewertung fest, dass die durch den Brexit bewirkte
Unsicherheit angesichts der eben in Europa einsetzenden wirtschaftlichen Erholung zu einem denkbar ungünstigen
Zeitpunkt komme, dessen Auswirkungen sich bei einem professionellen Management des Austritts aber in Grenzen halten
werden.
Aufgabe der Wirtschaft in dieser schwierigen Lage sei es, „in Alternativen zu denken“, betonte Leitl: „Ein Plan
B könnte sein, auf der einen Seite mit Großbritannien und anderen Ländern wie Norwegen, die ebenfalls
an einer engen wirtschaftlichen Kooperation interessiert sind, eine große europäische Freihandelszone
zu errichten. Diese könnte für Länder wie die Türkei oder die Ukraine offen sein. Und mit rund
1 Milliarde Menschen wäre diese Wirtschaftszone ein wichtiger Faktor in der globalisierten Wirtschaftswelt“,
so der WKÖ-Präsident. Eine solche Weiterentwicklung des Europäischen Wirtschaftsraumes EWR bringt
auch von Professor Keuschnigg in seiner Kurz-Analyse ins Spiel.
Zugleich, so Leitl, könnte und sollte es innerhalb der EU eine stärkere politische Zusammenarbeit in
Richtung politische Union geben. „Mit einer solchen europäischen Föderation könnte die Zusammenarbeit
nicht nur im ökonomischen, sondern auch im sozialen und ökologischen Bereich, in Fragen der Infrastruktur,
Wissenschaft, Bildung und Innovation verstärkt werden. Und sie wäre durchaus kompatibel mit den Wünschen
der Briten, denn niemand ist gezwungen, aber jeder, der will, kann auch mitmachen.“
Klar sei freilich, dass der im Rahmen einer Europäischen Wirtschaftszone ermöglichte Zutritt zum europäischen
Binnenmarkt nicht zum Nulltarif zu haben sei. So wie auch jetzt Norwegen für den Zutritt zum EU-Binnenmarkt
via EWR rund 80 Prozent des Beitrags entrichtet, der für eine Vollmitgliedschaft in der EU anfallen würde,
müsste natürlich auch Großbritannien einen fairen und angemessenen Beitrag in dieser Größenordnung
zahlen, nannte Leitl als erste Einschätzung einen Betrag von fünf bis sechs Milliarden Euro. „Damit würde
sich für kein jetziges EU-Land die EU-Beitragszahlung wegen eines Brexit erhöhen.“ Im Unterschied zur
EU-Mitgliedschaft können EU-Regeln jedoch nicht mitbestimmt, sondern nur nachvollzogen werden.
Für das Logistikunternehmen Unit Cargo stellt Großbritannien den achtwichtigsten Kundenmarkt dar, wie
Geschäftsführer Sertic berichtete. Ein Brexit würde für das Unternehmen im schlimmsten Fall
ein Umsatzminus von 30 Prozent bedeuten. Sertic weiter:
„Wirtschaftlich ist die jetzige Situation natürlich eine Herausforderung, die Unsicherheit erzeugt. Aber die
Logistiker verstehen sich als die Ameisen der Wirtschaft – wir müssen und werden Lösungen finden.“ Für
manche Unternehmen seiner Branche könnte sich die jetzige, von Angst geprägte, Situation sogar als Chance
entpuppen, denn „Angst führt zu Marktbereinigung.“ Insgesamt sei aus Sicht eines Betriebes festzustellen,
so Sertic: „Großbritannien braucht Europa und Europa braucht Großbritannien.“
Wirtschaftsdelegierter Kesberg verwies auf die besonders guten und einträglichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen
Österreich und Großbritannien: „Der Handelsbilanzüberschuss von knapp zwei Milliarden Euro zugunsten
Österreichs wird nur von jenem mit Frankreich und den USA übertroffen.“
Momentan reagierten die rund 1000 österreichischen Betriebe in Großbritannien mit einer „angstvollen
Form der Gelassenheit, denn wir wissen nicht, was auf uns zukommt“. Die mittel- und langfristige Betroffenheit
der heimischen Betriebe hänge hingegen wesentlich von der künftigen Form der Wirtschaftsbeziehungen zwischen
der EU und Großbritannien ab. Da viele österreichische Betriebe als „hidden champions“ in Nischen tätig
sind, könnten ihre Lieferungen jedenfalls nicht so einfach substituiert werden. Zudem hätten manche Betriebe
vor Ort womöglich sogar Vorteile, wenn sich durch das günstigere Pfund ihre Exporte verbilligen. Kesberg
„Aber klar ist: Jeder Wachstumsknick heißt, dass sich das Potenzial für zusätzliche Importe verringert.
Umso wichtiger ist, dass die jetzige Phase der Unsicherheit und der Unklarheit so bald wie möglich zu Ende
ist.“
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