Wien (öaw) - Es waren nicht die Gene, die Völker verbanden oder voneinander unterschieden, sondern
kulturelle Faktoren. Das ist eines der Ergebnisse eines ERC-Projekts des Wittgenstein-Preisträgers Walter
Pohl an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Es hat untersucht, wie sich im Mittelalter die ethnisch-politische
Landkarte des heutigen Europa formte.
Fünf Jahre lang haben Wissenschaftler/innen im Rahmen des ERC-Projekts SCIRE (Social Cohesion, Identity and
Religion in Europe, 400-1200) erforscht, wie nach dem Untergang Roms bis zum Ende der „Völkerwanderung“ neue
ethnische und politische Gemeinschaften entstanden sind. Dazu wurden Ergebnisse von Textanalysen, genetische Untersuchungen
und historische Deutungen miteinander verglichen.
Ein „Langobarden-Gen“ gibt es nicht
Am Beispiel der Langobarden konnten die Forscher/innen nachweisen, dass die Völker Europas schon vor 1.500
Jahren auf genetischer Ebene wenig trennte. Ein internationales Pilotprojekt unter Beteiligung von SCIRE entnahm
mehrere hundert Genproben aus mitteleuropäischen und italienischen Gräberfeldern aus dem sechsten Jahrhundert,
um herauszufinden, ob das Erbgut aus den langobardischen Gräbern stärker miteinander übereinstimmt
als mit dem von anderen Gruppen. Die Daten zeigen, dass die Volksgruppen genetisch kaum unterschiedlich, aber auch
in sich nicht homogen waren.
„Wir wollten wissen, wie sich die Wanderung der Langobarden nach Italien im Jahr 568 genetisch und kulturell ausgewirkt
hat. Nun sehen wir: Ein Volk war keine biologische Einheit und kann auch nicht genetisch nachgewiesen werden“,
sagt Walter Pohl. „Das bedeutet, ein sogenanntes „Langobarden-Gen“ gibt es nicht“, so der Wittgenstein-Preisträger
weiter. Ethnische und politische Identitäten des Frühmittelalters seien vielmehr historisch entstanden
und beruhten vor allem auf kulturellen Gemeinsamkeiten.
Was wurde aus den Römern nach dem Fall Roms?
Das lässt sich etwa am Beispiel Roms illustrieren: Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches um 500
zerfiel eine über Jahrhunderte andauernde europäische Ordnung. Was aber wurde aus den Römerinnen
und Römern? SCIRE erarbeitete dazu erstmals einen Überblick über die vielfältigen Formen und
die Veränderung römischer Identität im Frühmittelalter.
So erhielt sich vielerorts auch nach dem Wegfall des politischen Rahmens zumindest kleinräumig der soziale
Zusammenhalt. Zwar wurde aus den privilegierten Trägern des Imperiums eine unterworfene Bevölkerung mit
geringem Ansehen und schlechtem Rechtsstatus. Die römische Vergangenheit, die römische Kultur, aber auch
das christliche Rom behielten hingegen höchstes Prestige. Auf diese Weise konnte Rom Vorbild bleiben, während
„Römer“ oder „Römerin“ als Identität allmählich verschwand.
Das Christentum gab ethnischen Identitäten eine neue Bedeutung
An ihre Stelle traten neue Identitäten, etwa als Franken, Angeln (Engländer) oder Bayern. Für diese
Zugehörigkeiten spielte die sich in Europa durchsetzende christliche Kultur eine entscheidende Rolle, wie
Walter Pohl sagt: „Das universale Christentum und die ethnisch-nationale Partikularität sind oft als grundlegende
Gegensätze in der europäischen Geschichte betrachtet worden. Dabei wird vergessen, wie sehr das Christentum
auch ethnische Identitäten legitimieren konnte.“ Denn viele Völker betrachteten sich seit dem Frühmittelalter
nach dem Vorbild der Juden im Alten Testament als „auserwähltes Volk“. Nach dem Evangelium sahen sie sich
zudem als Gegenstand der Heilsgeschichte: „Gehet hin und lehret alle Völker“, heißt es in der Bibel.
Neue Identitäten spiegeln sich in der Sprache wider
Ein Wandel, der sich auch in der mittelalterlichen Verwendung von ethnischen Begriffen widerspiegelt, wie eine
Analyse der Literatur des 4. bis 9. Jahrhunderts im Rahmen des Projekts bestätigte. Derselbe lateinische Begriff,
„gentes“, diente etwa sowohl als abwertende Fremdbezeichnung für die „Heiden“ als auch als Selbstbezeichnung
der christlichen Völker. Der Grund für diese doppelte Verwendung war die Annahme der christlichen Zeitgenossen,
dass die Heidenvölker noch ihre Bekehrung erwarteten.
Auch ein anderes wichtiges Wort begann im Mittelalter übrigens seine Karriere: „natio“ bedeutete ursprünglich
„Abstammung“ und entwickelte sich zum Begriff für die moderne Nation. Zahlreiche weitere Begriffsanalysen
sowie eine umfangreiche Quellensammlung ist Öffentlichkeit und Forschung nun in einer digitalen Online-Datenbank zugänglich. Die Datenbank kann nach Inhalt, Ort und Jahrhundert durchsucht
werden.
Forschungsergebnisse als Open Access verfügbar
Den Projektabschluss betrachtet Walter Pohl zugleich als Ausgangspunkt für neue Forschungsvorhaben. Ein großer
internationaler Forschungsverbund, angeregt von SCIRE, untersucht nun die „Transformation der karolingischen Welt“.
Denn es sei erstaunlich, dass sich die Vielfalt an Staaten, die sich nach dem Zerfall des Karolingerreiches im
9. Jahrhundert herausbildete, im Laufe der Geschichte als sehr stabil erwiesen habe, sagt Pohl: „In Europa konnte
nach Rom kein Imperium mehr eine dauerhafte Hegemonie erringen. Damit unterscheidet sich Europa von anderen Weltregionen,
zum Beispiel Asien. Es ist noch kaum versucht worden, Erklärungen für die beständige Multipolarität
Europas zu finden.“
An dem vom Europäischen Forschungsrat ERC mit einem „Advanced Grant“ finanzierten Projekt SCIRE am Institut
für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und dem Institut
für Geschichte der Universität Wien waren Historiker/innen, Archäolog/innen, Sprachwissenschafter/innen
und Genetiker/innen aus aller Welt beteiligt, u.a. aus Italien, Irland, Israel und den USA. Bislang sind sieben
Monografien, acht Sammelbände und 93 Aufsätze aus den Forschungen hervorgegangen. Vier weitere Sammelbände
sind derzeit in Arbeit. Die wichtigsten Ergebnisse sind in einer Broschüre zusammengefasst, die als Open Access zum freien Download zur Verfügung
steht.
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