Großbritannien: Wachstumsaussichten für 2016 & 2017 halbiert Europa: Leichter
Konjunkturdämpfer, 2017 aber besser als 2016 Österreich: Wachstumseinbußen von 0,2 Prozentpunkten
Wien (allianz) - Während viele Experten rund drei Wochen nach dem EU-Referendum und ersten Schockreaktionen
ein düsteres Bild über mögliche Folgewirkungen zeichnen, kann der „Brexit“ auch als Weckruf und
Chance für die EU begriffen werden. „Der EU-Austritt der Briten ist eine große Herausforderung für
Großbritannien und die gesamte EU, mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken. Langfristig kann der ‚Brexit‘
aber dazu beitragen, dass die EU wieder enger aneinanderrückt“, erklärte Prof. Dr. Michael Heise, Chefvolkswirt
der Allianz SE, am 19.07. bei einem Pressegespräch in Wien. Abgesehen von den direkten Auswirkungen des ‚Brexit‘-Votums
auf Großbritannien, gebe es in der EU keinen Anlass für übertriebene Konjunkturskepsis. Um allerdings
künftige Herausforderungen zu meistern, müsse die Europäische Union vor allem flexibler und widerstandsfähiger
werden. Heise: „Die EU braucht eine neue Erfolgsgeschichte. Sie sollte sich darauf konzentrieren, die Bürger
wieder für das ‚Projekt‘ Europa zu begeistern.“
„Brexit“-Votum wirft vorübergehenden Schatten auf Großbritanniens Wirtschaft
Im Hinblick auf den Zeitplan und die Konditionen des EU-Austritts Großbritanniens geht Heise von konstruktiven
und pragmatischen Verhandlungen aus. Im Ergebnis werde Großbritannien weiterhin – allerdings beschränkten
– Zugang zum Europäischen Binnenmarkt haben. „Das Austrittsvotum wird das jährliche BIP-Wachstum Großbritanniens
in den nächsten Jahren um ein bis zwei Prozentpunkte senken“, prognostiziert Heise. Grund dafür seien
die weiterhin bestehende Unsicherheit durch das Votum, das belastete Konsumklima und die beeinträchtigte Attraktivität
Großbritanniens für Investitionen aus dem In- und Ausland. Die Wachstumsprognosen wurden halbiert: von
1,9 Prozent auf 1,0 Prozent im Jahr 2016 und von 2,1 Prozent auf 1,0 Prozent im Jahr 2017. „Eine Rezession kann
nicht ausgeschlossen werden. Langfristig wird sich das Wirtschaftswachstum aber wieder erholen. Denn weder die
EU noch Großbritannien haben ein Interesse daran, Handelsbeziehungen unnötig zu belasten“, so der Allianz
Experte.
Konjunkturausblick in Europa: leichter Dämpfer, aber positive Signale
Nach der Prognose der Allianz ist im Euroraum zunächst mit einer spürbaren Eintrübung der wirtschaftlichen
Erwartungen zu rechnen. Eine Belastung werde der Export nach Großbritannien sein, der durch die zu erwartende
Schwäche der britischen Wirtschaft sowie die Aufwertung des Euro gegenüber dem Pfund leiden wird. „Für
das dritte und vierte Quartal 2016 rechnen wir zwar mit einer Dämpfung des Wachstums im Euroraum. Im Verlauf
des nächsten Jahres könnte es allerdings wieder zu einer leichten Konjunkturbeschleunigung kommen“, erklärte
Heise. Konkret erwartet der Allianz Experte ein Wachstum in der Europäischen Union von 1,6 Prozent (statt
1,9 Prozent) im Jahr 2016 und 1,6 Prozent (statt 2,0 Prozent) im Jahr 2017. Ein ähnliches Bild zeichnet sich
auch für die Eurozone ab, deren Wachstumsprognosen für 2016 von 1,7 Prozent auf 1,5 Prozent gesenkt werden.
2017 wird mit einem Wachstum von 1,6 Prozent gerechnet.
Österreich: Spürbare kurzfristige Eintrübung, leichte Erholung in Sicht
Mit spürbaren, wenn auch geringen Auswirkungen des „Brexit“-Votums werde auch Österreich konfrontiert
sein. Die BIP-Prognose für Österreich wurde von 1,7 Prozent auf 1,5 Prozent gesenkt: „Der ‚Brexit‘ könnte
Österreichs Wirtschaft heuer somit rund 0,2 Prozentpunkte an Wachstum kosten“, prognostizierte Heise. Gründe
dafür seien die wirtschaftliche Unsicherheit, die die Investitionsneigung dämpft, und geringere Exporte
nach Großbritannien, das als achtwichtigster Handelspartner für die Alpenrepublik gilt. Durch den EU-Austritt
der Briten müsse Österreich außerdem mittelfristig mit einem höheren EU-Mitgliedsbeitrag rechnen:
„Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU geht ein wesentlicher Beitragszahler verloren. Auf Österreich
wird ein zusätzlicher jährlicher Mitgliedsbeitrag in dreistelliger Millionenhöhe zukommen“, so Heise.
Für die kommenden Jahre sei aber Erholung in Sicht – Österreich liege hier im EU-Trend.
Finanzmärkte: Ende der EZB-Nullzinspolitik frühestens 2018
Neben wirtschaftlichen Auswirkungen auf Großbritannien beziehungsweise ganz Europa hat das „Brexit“-Votum
auch für Unruhe an den Finanzmärkten gesorgt: „Bis die Austrittsverhandlungen auf einem stabilen Weg
sind, werden die Märkte weiterhin von hoher Volatilität geprägt sein“, so Heise. Langfristige Folgen
an den Währungsmärkten werden sich aber in Grenzen halten: Während das britische Pfund vorerst auf
dem niedrigen Niveau bleiben dürfte, erwartet Heise keine nachhaltige Abwertung des Euro gegenüber dem
US-Dollar. Einem zu starken US-Dollar dürfte die Fed durch die weiter in die Zukunft verschobenen Zinserhöhungen
entgegenwirken. Die Europäische Zentralbank könnte aufgrund des Drucks durch den Ausgang des EU-Referendums
der Briten ihre expansive Geldpolitik weiter lockern beziehungsweise das Quantitative Easing ausweiten oder verlängern.
„Solange es aber nicht zu gravierenden Finanzmarktturbulenzen kommt, wird die EZB eine ruhige Hand bewahren“, so
Heise. Von der Nullzinspolitik werde man frühestens 2018 abgehen. Bevor die Zinsen wieder angehoben werden,
werde die EZB das Anleihekaufprogramm auslaufen lassen.
Chance für EU auf mehr Flexibilität
In seinem langfristigen Ausblick für Europa zeigt sich Heise eher optimistisch. Mehrere Jahrzehnte an
wirtschaftlicher Integration und politischer Zusammenarbeit hätten zu einer tiefgreifenden Verzahnung der
EU-Volkswirtschaften geführt. Es gebe zwar einige Mitgliedstaaten, die zu einer gewissen „Europa-Müdigkeit“
neigten und in denen ein mögliches Referendum nicht ausgeschlossen werden könne, doch die gemeinsamen
Errungenschaften würden nicht so einfach aufgegeben werden. Da die EU in manchen Bereichen allerdings von
ihrer traditionellen Vision einer stärker zusammenwachsenden Union entfernt sei, sieht Heise das „Brexit“-Votum
als Chance, die EU flexibler und widerstandsfähiger zu machen.„Dieses Europa der verschiedenen Ebenen und
Geschwindigkeiten wird die Komplexität erhöhen. Es gibt der EU aber auch die Möglichkeit, ihre Akzeptanz
und die Begeisterung für das Projekt ‚Europa‘ zu steigern“, so Heise abschließend.
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