Wien-Haus in Brüssel: Diskussion zur Zukunft Europas mit Ulrike Guérot
Brüsse/Wien (rk) - Zu Beginn des politischen Herbstes luden die Landesvertretung Nordrhein-Westfalen
und das Verbindungsbüro der Stadt Wien erneut zum Dialog zur Zukunft Europas. 2012 war die renommierte Politikwissenschaftlerin
und Publizistin Ulrike Guérot am Podium bei der Präsentation von Robert Menasses "Der Europäische
Landbote" in Brüssel gewesen. Nun präsentierte Guérot, Direktorin des „European Democracy
Lab“ (EDL) in Berlin, vor rund 200 interessierten Gästen ihr neues Buch „Warum Europa eine Republik werden
muss“. Im Gespräch mit Ulrich Speck, Außenpolitikexperte der Neuen Zürcher Zeitung, Reinhard Göweil,
Chefredakteur der Wiener Zeitung und Moderator Peter Riesbeck, Brüssel-Korrespondent der Berliner Zeitung,
entwickelte sie ihre kritischen Gedanken zur Verfasstheit und Zukunft der Europäischen Union.
Guérot: „Vielfalt nach innen, Einigung nach außen“
2013 hatte Ulrike Guérot zusammen mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse ein Manifest
zur Begründung einer „Europäischen Republik“ vorgestellt. Das nun vorliegende Buch ist die Weiterentwicklung
dieser Ideen. Guérots Buch denkt Europa radikal neu und nimmt die Gründungsväter der Europäischen
Union ernst: „Europa, das bedeutet die Abschaffung der Nationalstaaten, auch wenn sich das heute angesichts grassierenden
Nationalismus und Populismus niemand vorstellen kann“ konstatierte die Autorin. Sie zeichnet das Bild einer konsequent
nachnationalen, parlamentarischen, repräsentativen Demokratie, in der der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz
gilt und die europäischen BürgerInnen vor dem Recht alle gleich sind. In der das Prinzip der Gewaltenteilung
gilt und in dem schließlich die europäischen Kulturregionen zu den konstitutionellen Trägern eines
europäischen Projektes werden, das genau das einlöst, was Europa immer sein wollte: Einheit in Vielfalt.
Die normative Einheit der Europäischen Republik - gleiches Recht für alle europäischen BürgerInnen
- verbindet sich mit der kulturellen Vielfalt der europäischen Regionen, und zwar nicht in einem zentralistischen
Einheitsstaat, sondern in einem dezentralen Geflecht europäischer Regionen. Nach innen vielfältig, nach
außen stark, und konsequent demokratisch, wird die EU zu einer „Europäischen Republik“.
Angeregte Debatte mit Podium und Publikum
In der angeregten Debatte nach der Einleitung der Autorin wies Ulrich Speck auf die Gefahr hin, dass in dem
Ringen zwischen zwei sehr unterschiedlichen Visionen – jener der Föderalisten und jener der Nationalisten
- die reale EU zu Bruch gehe. „Wir brauchen eine EU, die tagtäglich jene Ressource schafft, die im internationalen
Verkehr so selten und so wertvoll ist: Vertrauen. Europäer rüsten nicht gegeneinander auf, sie streiten
sich lieber in Brüssel. Und am Ende kommt ein Konsens dabei heraus. Dass sich 28 Staaten mit sehr unterschiedlichen
Sichtweisen und Interessen immer wieder auf eine gemeinsame Linie einigen, selbst in existenziellen Fragen, grenzt
schon an ein Wunder“ so der Außenpolitikexperte. „Europa hat im Vergleich der Kontinente immer noch die höchste
Lebensqualität“, erinnerte Reinhard Göweil an die positiven Seiten der EU. Es sei kein Wunder, dass es
viele Menschen hierher ziehe und dass Europa als Vorbild gelte. Erstaunlich sei nur, dass sich die EU ihrer eigenen
Stärke nicht bewusst sei – das Auftreten Europas auf der globalen Bühne ist stark entwicklungsfähig,
wenn man etwa an die Hilfe für Krisengebiete im Mittleren Osten und Afrika denke. Die Kritik an TTIP und Co.
sei Ausdruck eines tiefen Wunsches, Politik auf europäischer und internationaler Ebene völlig anders
zu aufzubauen und anzugehen. „diese neue Art der Politik müssten die Regierungen der Mitgliedstaaten lernen,
sonst haben ihre AkteurInnen bald ihr Ablaufdatum erreicht.“ Moderator Peter Riesbeck, der einen breiten Bogen
für die Diskussion spannte, fasste abschließend zusammen: „Als Beobachter europäischer Politik
sind wir oft in den Rhythmus der EU-Institutionen eingebunden, daher sind Impulse, die uns helfen, über den
Tellerrand und weit in die Zukunft zu schauen, nicht nur wertvoll, sondern auch immer wieder notwendig.“
Kooperation Nordrhein-Westfalen – Wien in Brüssel
Rainer Steffens, Leiter der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen, bemerkte in seinen Begrüßungsworten:
„Wenn Ulrike Guérot fordert, dass die europäischen Regionen sich unter einem republikanischen Dach
vernetzen sollen, dann klingeln natürlich bei einem Vertreter einer großen europäischen Region
die Ohren. Und der Satz erinnert an einen Traum, den die europäischen Regionen Anfang der 90er Jahre geträumt
haben - den Traum vom ´Europa der Regionen´. Mit dem Maastrichter Vertrag und der Einrichtung des Ausschusses
der Regionen war - wenn auch etwas illusorisch - die Hoffnung verbunden, dass der Nationalstaat sich im Laufe der
Zeit von selber überflüssig machen würde und die Regionen unter einem starken Dach Europa die Geschicke
selber in die Hand nehmen könnten. Doch die Beharrungskräfte des Nationalismus sind stärker, als
wir damals gehofft hatten. Im Gegenteil: In der heutigen Situation ist zu befürchten, dass der wieder erstarkte
Nationalismus die Grundpfeiler der Europäischen Union beschädigt. Wenn Ulrike Guérot diese alte
Idee in einem neuen Konzept wieder aufgreift, werden wir diese Debatte mit großer Aufmerksamkeit mitverfolgen.“
Michaela Kauer, Leiterin des Wien-Hauses, betonte, wie wichtig es sei, das oft einengende Korsett der vorgegebenen
Prozesse und die strenge Hierarchie der Ebenen auf EU-Ebene abzustreifen, um Europa neu denken zu können.
Sie erinnerte daran, dass rund zwei Drittel der europäischen Bevölkerung in Städten und urbanen
Räumen leben, ohne direkt mitbestimmen zu können. „Ulrike Guérot ist eine radikale Denkerin im
besten Sinne – sie hilft uns dabei, uns gedanklich dem, was einst den europäischen Einigungsgedanken prägte,
von der Wurzel her wieder anzunähern. Als Vertreterin einer Stadt liegt mir der Republikgedanke sehr nahe
– waren es doch Stadtstaaten, aus denen in der Antike die Demokratie entsprang.“ Es sei eine der schönen Aufgaben
des Wien-Hauses, immer wieder Räume für neue Gedanken und Ideen zu schaffen, denn „ohne Inspiration und
Dialog ist keine Entwicklung möglich.“
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