Geladene Teilchen können ganz von selbst eine unerwartet große Vielzahl von Kristallstrukturen
bilden. Ein Forschungsteam mit Beteiligung der TU Wien zeigt, wie man die Bildung dieser Strukturen einfach kontrollieren
kann.
Wien (tu) - In der Natur gibt es eine bunte Vielfalt von Kristallen – vom einfachen Salzkristall über
schillernde Opale bis hin zu biologischen Kristallen, die für die Farbenpracht von Schmetterlingsflügeln
verantwortlich sind. Doch mit neuen technischen Methoden könnte die Vielfalt der Kristalle noch deutlich erweitert
werden: Sogenannte „kolloidale Systeme“ bestehen aus Teilchen, die sich ganz von selbst zu geordneten Strukturen
zusammenfinden. Eine Forschungsgruppe mit Beteiligung der TU Wien konnte nun zeigen, dass man Teilchen zwischen
zwei geladenen Platten dazu bringen kann, eine erstaunlich große Anzahl völlig unterschiedlicher Kristallstrukturen
zu bilden. Ändert man Abstand und elektrische Ladung der Platten, ordnen sich die Teilchen auf völlig
andere Weise an.
Wigner-Kristalle
Die Grundidee gibt es schon lange: „Der Nobelpreisträger Eugene Wigner, einer der ganz Großen der theoretischen
Physik, beschäftigte sich schon in den 1930erjahren mit der Frage, wie sich geladene Teilchen auf einer ebenen,
elektrisch geladenen Platte verteilen“, erklärt Prof. Gerhard Kahl vom Institut für Theoretische Physik
der TU Wien. „Sie ordnen sich nicht zufällig an, sondern bilden eine Struktur – einen sogenannten Wigner-Kristall.“
Wigners Vorhersage, dass die Teilchen ein hexagonales Gitter bilden, konnte 1979 mit Elektronen auf einer Helium-Oberfläche
verifiziert werden.
Was lag also näher, als einen Schritt weiterzugehen und das Verhalten von Teilchen zwischen zwei parallelen,
geladenen Platten zu untersuchen? Moritz Antlagner widmete sich dieser Fragestellung in einem Teil seiner Dissertation
in der Forschungsgruppe von Gerhard Kahl. Bald zeigte sich, dass es sich dabei um ein überaus kniffliges Thema
handelt: Die Teilchen können in diesem Fall nämliche eine bemerkenswerte Fülle unterschiedlicher
Strukturen bilden. Man stößt auf dreieckige, viereckige oder gar fünfeckige Muster – letzteres
ist bei geordneten Strukturen besonders ungewöhnlich. Auch verschiedene Kombinationen dieser Muster kann man
beobachten. Die Teilchen können sich in zwei Schichten organisieren: Eine nahe der oberen Platte, die anderen
bei der unteren Platte. Jede Schicht kann ihr eigenes geometrisches Muster bilden, die Gesamtstruktur ist nur dann
stabil, wenn beide Muster kompatibel sind und in einer passenden geometrischen Beziehung zueinander stehen.
Die Vielfalt der möglichen Muster zu berechnen und zu charakterisieren war eine äußerst aufwändige
Aufgabe: „Wir führen analytische Rechnungen durch, entwickelten Computersimulationen und spezielle, neuartige
Optimierungsalgorithmen“, sagt Gerhard Kahl. Dabei arbeitete das Team aus Wien mit Kollegen aus Paris und Bratislava
zusammen. Der Rechenaufwand war enorm: „Ungefähr 1.5 Millionen CPU-Stunden an Großrechnern in Wien und
Paris wurden verbraucht. Außerdem musste viel Arbeit in die Analyse und Interpretation der Daten investiert
werden“, berichtet Gerhard Kahl. Mit viel Geduld gelang es schließlich, die riesige Zahl an möglichen
Strukturen in ein Schema – ein sogenanntes Phasendiagramm – einzuordnen.
Wie sich zeigte, hängt die erstaunliche Vielfalt an Kristallmustern zwischen den beiden Platten bloß
von zwei charakteristischen Größen ab: Dem Abstand der Platten und dem Verhältnis ihrer elektrischen
Ladungen. Unterschiedliche Kombinationen dieser beiden Parameter ergeben ganz unterschiedliche Kristallmuster.
„Dass die Vielfalt an möglichen Strukturen so einfach zu kontrollieren ist – über die Kombination von
bloß zwei Parametern – das war für uns überraschend“, sagt Gerhard Kahl. Damit kann man nun zweidimensionale
Kristallstrukturen gezielt steuern und auf Knopfdruck verändern. „Für die Physik von Halbleiter-Doppelschichten,
ionischen Plasmen oder Graphen-Doppelschichten kann das von großer Bedeutung sein“, meint Kahl.
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