Lust. Kontrolle. Ungehorsam. Eine Ausstellung in Kooperation mit QWIEN - Zentrum für schwul/lesbische
Kultur und Geschichte von 15.09.16 bis 22.01.17 im Wien Museum
Wien (wien museum) - Sexualität und Stadt - das ist eine ebenso lustvolle wie anstößige
Beziehung. Nie zuvor haben sich Formen, Darstellungen und die Bewertung von Sex so stark verändert wie im
Prozess der Urbanisierung. Die moderne Großstadt eröffnete Freiräume und versprach Anonymität,
Auswege aus sozialer Kontrolle und die Erfüllung sexueller Wünsche. Zugleich schuf die Stadt neue Möglichkeiten
der Überwachung, der Disziplinierung und der Kategorisierung von Sexualität.
Die Ausstellung Sex in Wien erzählt anhand zahlreicher Beispiele vom 19. Jahrhundert bis heute, wie dieses
stete Ringen um Verbot und Freiheit jeden Moment einer sexuellen Begegnung prägte und prägt - vom "ersten
Blick" bis zur "Zigarette danach". Wer durfte wen auf welche Weise anschauen? Wer wen ansprechen?
Welche Arten von sexuellem Begehren konnten offen ausgelebt werden, welche nur im Verborgenen? Und welche Konsequenzen
musste man fürchten, wenn man dabei erwischt wurde?
Deutlich wird, dass es weder Moralpredigten, wissenschaftliche Systematisierung noch polizeiliche Kontrolle je
geschafft haben, all das zu reglementieren, was in den Schlafzimmern, in geheimen Räumen und in dunklen Ecken
der Stadt seinen Platz gefunden hat. Die Idee zur Ausstellung stammt von Wien Museum-Direktor Matti Bunzl, der
als Kulturanthropologe u.a. speziell zur Geschichte der Homosexualität in Wien geforscht hat. Umgesetzt wurde
sie in Zusammenarbeit mit QWIEN -Zentrum für schwul/lesbische Kultur und Geschichte. Das Kurator_innenteam
besteht aus Andreas Brunner (Zentrum QWIEN), Frauke Kreutler, Michaela Lindinger, Gerhard Milchram, Martina Nußbaumer
(alle Wien Museum) sowie Hannes Sulzenbacher (Zentrum QWIEN).
"Die Kulturgeschichte der Sexualität in der Stadt anhand des Beispiels Wiens erstmals groß angelegt
darzustellen, war die enorm spannende Herausforderung bei diesem Ausstellungsprojekt", so Direktor Matti Bunzl.
"Denn es ist kein Zufall, dass Sigmund Freud seine Einsichten gerade in Wien entwickelt hat. Die Stadt war
ein Wegbereiter des modernen Verständnisses von Sexualität. So war der Schöpfer des Begriffs ‚homosexuell',
der österreichisch-ungarische Schriftsteller Karl Maria Kertbeny, ein geborener Wiener; so arbeitete der Psychiater
Richard von Krafft-Ebing - Autor der bahnbrechenden Psychopathia sexualis (1886), des ersten Versuchs einer systematischen
Erfassung der damals als Sexualpathologien verstandenen Spielarten menschlicher Sexualität - in der Stadt.
Diese und andere Errungenschaften in Erinnerung zu rufen, ist ein Ziel der Ausstellung. Wien als Ort der sexuellen
Avantgarde darzustellen, bedeutet aber keineswegs, dass es sich um eine voyeuristische Schau handelt. Ganz im Gegenteil.
Es geht um die wissenschaftliche Aufarbeitung eines der zentralen Themen unseres Lebens", so Bunzl.
Sowohl private als auch kommerzielle Darstellungen von Sexualität dienen zumeist der aufreizenden Stimulation
und der Visualisierung erotischer Wünsche - besonders dann, wenn sich diese nicht verwirklichen lassen. Dass
die Objekte der Ausstellung in vielen Fällen die Dominanz des männlichen Blicks auf die Frau widerspiegeln,
ist nicht weiter überraschend: Erotische und pornografische Bilder wurden über Jahrhunderte von Männern
für Männer produziert.
Gezeigt werden rund 550 Ausstellungsobjekte, darunter zahlreiche Leihgaben. Zu den Highlights zählt ein bislang
unveröffentlichter Brief von Sigmund Freud, in dem dieser die Tätigkeit des Sexualforschers und Mitbegründers
der ersten Homosexuellen- Bewegung Magnus Hirschfeld würdigt. Ein weltweit einzigartiges Exponat ist der vermutlich
einzige im Original erhaltene "KZ-Winkel eines Rosa-Winkel-Häftlings", eine Leihgabe aus dem United
States Holocaust Memorial Museum in New York. Zahlreiche Fotografien und rare Filmdokumente - wie etwa "Ekstase"
(Regie: Gustav Machatý) mit Hedy Kiesler und "Mysterium des Geschlechtes" (beide 1933) - erzählen
von Wien als wichtigem europäischen Zentrum der erotischen Bildproduktion im späten 19. und frühen
20. Jahrhundert. Die Bandbreite der gezeigten Objekte reicht von Dokumenten aus Polizeiarchiven über historische
Verhütungsmittel bis hin zu einem Käfig aus einem S/M-Lokal und der Arbeitstasche einer Sexarbeiterin.
"Neben Objekten zur Alltagsgeschichte finden sich immer wieder Kunstwerke, u. a. von VALIE EXPORT, Pez Hejduk,
Matthias Hermann, Didi Sattmann oder Hans Scheugl. Auch einige Auftragswerke sind zu sehen. So hat der Fotograf
Klaus Pichler für die Ausstellung eine Fotoserie über "Sexorte" im gegenwärtigen Wien
(Laufhäuser, Bordelle, Studios, Nachtclubs, Stundenhotels etc.) angefertigt."
Einige Objekte der Ausstellung machen es erforderlich, dass die Ausstellung "Sex in Wien" entsprechend
den gesetzlichen Bestimmungen des Jugendschutzes nur für Personen ab 18 Jahren zugänglich ist.
Anblicken, ansprechen, sich annähern
Die Ausstellung teilt sich in drei Abschnitte: "Vor dem Sex", "Beim Sex" und "Nach dem
Sex". Am Beginn steht der Blickkontakt, denn er entscheidet oft schon darüber, ob eine Annäherung
überhaupt erwünscht ist oder nicht - je nachdem, ob der Blick auffordernd, begehrlich, ablehnend oder
desinteressiert ist. "Aktiv schauen" durften lange Zeit ausschließlich Männer, Frauen hatten
den Blick sittsam zu senken und sich betrachten zu lassen (außer ihnen eilte der Ruf eines "moralisch
verwerflichen" Lebenswandels voraus, wie es etwa bei Prostituierten der Fall war). In bürgerlichen Kreisen
galt das direkte Ansprechen als Tabu, man wurde einander durch Dritte vorgestellt. Wie überhaupt fremde Hilfe
bei der Anbahnung oft vonnöten ist: ob durch familiäre Netzwerke, professionelle Heiratsvermittler_innen,
Kontaktanzeigen, Dating-Apps oder Tischtelefone, die es ab den 1960er-Jahren in manchen Wiener Lokalen gab.
Auf erste Tuchfühlung geht es oft beim Tanz, weshalb das "richtige" Benehmen bei Tanzveranstaltungen
in der Vergangenheit streng reglementiert war. Bälle dienten vornehmlich der Eheanbahnung. Vor dem Zweiten
Weltkrieg war die "Unschuldsfarbe" Weiß bei Ballkleidern ausschließlich den Debütantinnen
vorbehalten; ab der zweiten Saison mussten die jungen Frauen, die keinen Bräutigam gefunden hatten, auf Himmelblau
oder Rosarot umsteigen. Immer wieder sorgten "skandalöse" Tänze für Erregung, so etwa
der eng getanzte "Wiener Walzer" Anfang des 19. Jahrhunderts oder 150 Jahre später der Boogie und
der Rock 'n' Roll.
Was man darf - und was nicht
Im zweiten Abschnitt der Ausstellung ("Beim Sex") geht es zunächst um normative Vorgaben von Instanzen
wie Kirche, Staat und Wissenschaft. Sex war lange Zeit nur zwischen Mann und Frau und nur innerhalb der Ehe gestattet
und hatte der
Reproduktion zu dienen. Einen wesentlichen Anteil an der Normierung sexueller Praktiken hatten Erziehungs- und
Eheratgeber. Sie definierten bis ins letzte Detail, unter welchen Umständen Sex erlaubt war und in welchen
Stellungen Mann und Frau den ehelichen Geschlechtsverkehr zu vollziehen hatten.
Über Jahrhunderte verboten und bestraft waren "abnorme" oder "widernatürliche" Sexualpraktiken
wie etwa Sex außerhalb der Ehe oder Onanie (diese "Verschwendung des Samens" wurde in Österreich
erstmals in der Constitutio Criminalis Theresiana (1768) unter Strafe gestellt). In der Frühen Neuzeit entstanden
die ersten einschlägigen, in Gesetzesform gegossenen weltlichen Strafrechtsbestimmungen, die ihrerseits auf
religiösen Wertvorstellungen beruhten. Nach der Aufklärung wurde abweichendes Sexualverhalten zunehmend
wissenschaftlich pathologisiert, vormalige "Sünder_innen" wurden nun plötzlich zu "Verbrecher_innen".
Vor allem die Medizin und die neu entstehende Sexualwissenschaft beschrieben nicht nur die Tat der Abweichung als
verwerflich, sondern verliehen den Täter_innen auch eine "schädliche" Persönlichkeit.
Viele dieser Pathologisierungen wurden von den Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts radikal infrage
gestellt; ihre Wirkmacht ist in vielen Bereichen aber bis heute ungebrochen.
Homosexualität wurde zunächst als "sodomitische Sünde" bezeichnet und mit der Todesstrafe
bedroht. Im 19. Jahrhundert betrachtete man gleichgeschlechtlichen Sex zwar zunehmend nicht mehr als Sünde,
jedoch als kriminellen Akt oder Krankheit, die es zu "heilen" galt - eine Ansicht, die sogar Sigmund
Freud zu Beginn seiner Karriere vertrat. Was sich sexuell "gehört", wurde allerdings im 20. Jahrhundert
zusehends nicht mehr als "gottgegeben" hingenommen. Die seit den 1990er-Jahren einflussreiche Queer Theory
stellt die als "natürlich" angenommene Geschlechterordnung endgültig infrage: Biologisches
und soziales Geschlecht werden hier als soziale Konstruktion verstanden und nicht mehr als angeborene Kategorie.
Ein zentrales Thema der Ausstellung stellt Prostitution/Sexarbeit dar. Versuchte Maria Theresia im 18. Jahrhundert
noch erfolglos, käuflichen Sex in Wien völlig zu verbieten, so setzten Juristen, Mediziner, Politiker
und Polizei ab dem 19. Jahrhundert auf verstärkte Regulierung und Kontrolle. Die Sorge um die soziale Ordnung
und öffentliche Gesundheit bestimmen bis heute den Umgang der Öffentlichkeit mit Sexarbeit; Sexarbeiter_innen
selbst hingegen kämpfen um die Gleichstellung von Sexarbeit mit anderen Formen von Erwerbsarbeit.
Im Fokus stehen auch die "Sexorte" Wiens. Abgesehen von den eigenen vier Wänden und den Separees,
Nachtclubs, Stundenhotels und Bordellen lockt(e) auch der öffentliche und halböffentliche Raum - Parks,
Bäder oder Saunen, die zu heimlichen sexuellen Treffpunkten spezifischer Szenen werden können. Die sexuelle
Topografie der Stadt ist dabei ständig im Fluss, behördliche Regulierungen spielen eine große Rolle,
wie etwa die Verdrängung des Straßenstrichs aus innerstädtischen Gegenden an die Peripherie beweist.
Vor hundert Jahren empfahlen Ansichtskarten z.B. den Praterstern, die Spittelberggasse, den Graben, die Kärntner
Straße, die Ringstraße, den Rathauspark und den Stadtpark als Hotspots des erotischen Wien.
Aus heutiger Sicht befremdlich erscheint der historische Umgang mit Pädophilie, ebenso wie die Verharmlosung
von nicht einvernehmlichem Sex. Die minderjährige "Kindfrau" galt in Wien um 1900 als Ideal (und
im Bedarfsfall als "verkommenes Geschöpf"), Vergewaltigung innerhalb der Ehe ist erst seit 1989
ein strafrechtliches Delikt.
Konsequenzen
"Nach dem Sex" nennt sich der dritte und letzte Abschnitt der Ausstellung. Für die Frau bedeutete
das Danach lange Zeit mehr Stress als Entspannung: Scheidenspülungen sollten ein unerwünschtes Einnisten
des Samens verhindern - eine Methode, die höchst unzuverlässig war. Freilich waren es oft auch moralische
Schuldgefühle, die die Freude am Sex post coitum schnell abklingen ließen.
Nicht zuletzt geht es in diesem Bereich der Ausstellung auch um folgenschwere Krankheitsinfektionen - von der "Lustseuche"
Syphilis, die erst ab 1928 mit Penicillin behandelt werden konnte (und in den vergangenen Jahren wieder verstärkt
auftritt), bis hin zum HI-Virus, der den Umgang mit Sex seit den 1980er-Jahren radikal geprägt hat.
Zur Ausstellung erscheint ein rund 450 Seiten starker Katalog im Metroverlag, der den Fokus auf das Thema mit über
50 Beiträgen und wissenschaftlichen Aufsätzen weit über die Ausstellung hinaus öffnet. Weitere
thematische Ausflüge unternimmt das umfangreiche Rahmenprogramm (von Stadtexpeditionen über eine Tagung
zum Wiener "Skandalroman" Josefine Mutzenbacher am 1./2. Dezember 2016 bis hin zur "Langen Nacht
des Sex" am 20. Jänner 2017). Anlässlich der Ausstellung zeigt dass Film Archiv Austria im Metro
Kinokulturhaus ab 16. September 2016 eine Filmreihe mit dem Titel "Sex in Wien. Eine Sub-Geschichte des österreichischen
Kinos 1906-1938".
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