WissenschafterInnen in Wien international führend bei der Erforschung Seltener Erkrankungen.
Wien (meduniwien) - Ein neu entdeckter Gendefekt hat die Erforschung eines Schlüsselmoleküls in
der Entwicklung von Immunzellen ermöglicht. Ein internationales Team von ForscherInnen unter der Leitung von
Kaan Boztug am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
und des kürzlich gegründeten Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases sowie an der
MedUni Wien konnte damit nicht nur grundlegende neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des Immunsystems
gewinnen – es fand auch Ansätze für eine mögliche personalisierte Therapie dieser seltenen Erkrankung.
Die in Nature Immunology veröffentlichte Studie zeigt deutlich, welche Möglichkeiten die Erforschung
seltener Erkrankungen bietet.
Ein zwölfjähriger Patient war der Ausgangspunkt der Studie: Das Kind hatte seit seiner Geburt mit lebensbedrohlichen
Infektionen der Atemwege zu kämpfen. Immunologische Untersuchungen ergaben eine gestörte Zusammensetzung
der weißen Blutkörperchen, der sogenannten Lymphozyten – dadurch war das Immunsystem des Patienten zu
schwach, um sich effektiv gegen eindringende Krankheitserreger zur Wehr zu setzen. Drei seiner sechs Geschwister
starben an vermutlich ähnlichen Komplikationen noch vor ihrem dritten Lebensjahr. Zwar war die Ursache der
Immunschwäche ein Rätsel, für die ForscherInnen gab es aber klare Indizien: Vier schwerkranke Kinder
innerhalb der gleichen Familie sprachen für einen genetische Ursprung ihres Leidens.
Fällen wie diesem widmet sich das neu gegründete Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed
Diseases (LBI-RUD) in Wien, das von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft zusammen mit dem CeMM, der Medizinischen
Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet wurde, und im April 2016 seine Arbeit
aufnahm. "Die hier gebündelte Expertise ist einzigartig", sagt Kaan Boztug, Leiter des LBI-RUD und
Studienleiter. "Unser Institut bietet das ideale Umfeld, um die molekularen Ursachen seltener – meist genetisch
verursachter – Erkrankungen zu entschlüsseln, und auf dieser Grundlage mögliche zielgerichtete Therapien
zu entwickeln".
"Die Untersuchungen, bei denen wir das Genom des Patienten analysierten, bestätigten unseren Verdacht
einer genetisch verursachten Krankheit" erläutert Elisabeth Salzer, Postdoktorandin am CeMM und Erstautorin
der Studie. Durch sogenanntes "homozygosity mapping" – eine genetische Methode, mit der krankheitsverursachende
Mutationen aufgespürt werden können – stießen die ForscherInnen auf einen Fehler in dem Gen, dessen
Produkt RASGRP1 ein Schlüsselprotein für die Entwicklung von Lymphozyten darstellt.
Bei den gesunden Eltern, sowie den drei gesunden Geschwistern, lag jeweils nur eine Kopie der Mutation im Genom
vor - der erkrankte Junge hatte jedoch zwei defekte Kopien von seinen Eltern geerbt. Welche Bedeutung RASGRP1 für
das Immunsystem hat, war zuvor in Mausexperimenten nur zum Teil untersucht worden. Die genaue Rolle des Proteins
im Menschen war unbekannt, und nie zuvor wurde eine Mutation beschrieben, die es funktionsuntüchtig macht.
In dem nun vorliegendem Fall zeigte sich, dass das Fehlen von RASGRP1 nicht nur die Funktion von T-Lymphozyten
stört, sondern auch, dass RASGRP1 eine bislang unbekannte Rolle für das Zytoskelett in Natürlichen
Killer (NK) Zellen spielt. Durch eine Reihe von weiteren Experimenten gelang es den ForscherInnen, die defekten
molekularen Schaltkreise genauer zu analysieren.
Schließlich fanden die WissenschaftlerInnen mit Lenalidomid sogar einen zugelassenen Arzneistoff, der für
die Therapie der neu entdeckten RASGRP1-Defizienz in Frage kommt. Die nun veröffentlichte Studie sei daher
ein Paradebeispiel dafür, weshalb die Erforschung selbst sehr seltener Erkrankungen, wie sie am LBI-RUD betrieben
wird, nicht nur für die betroffenen PatientInnen von Bedeutung ist, erklärt Kaan Boztug: "Der Prozess
von der Entdeckung eines Gendefekts als Ursache einer seltenen Erkrankung über die Erforschung des krankheitsverursachenden
Mechanismus‘ bis hin zur Entwicklung einer personalisierten Therapie kommt nicht nur dem jeweiligen Patienten zugute.
Praktisch immer – so auch in diesem Fall - gewinnen wir dadurch grundlegende neue Erkenntnisse über den menschlichen
Organismus, die neue Wege für die Präzisionsmedizin ebnen."
Service: Nature Immunology
“RASGRP1 deficiency causes immunodeficiency with impaired cytoskeletal dynamics responsive to lenalidomide” erscheintn
vorab online am 24. Oktober 2016 um 17:00h in Nature Immunology, DOI:
10.1038/ni.3575. Elisabeth Salzer, Deniz Cagdas*, Miroslav Hons*, Emily Margaret Mace*, Wojciech Garncarz, Özlem
Yüce Petronczki, René Platzer, Laurène Pfajfer, Ivan Bilic, Sol A Ban, Katharina L. Willmann,
Malini Mukherjee, Verena Supper, Hsiang Ting Hsu, Pinaki P. Banerjee, Papiya Sinha Somasundaram, Fabienne McClanahan,
Gerhard J. Zlabinger, Winfried Pickl, John G. Gribben, Hannes Stockinger, Keiryn L. Bennett, Johannes B. Huppa,
Loïc Dupré, Özden Sanal, Ulrich Jäger, Michael Sixt#, Ilhan Tezcan#, Jordan S. Orange# und
Kaan Boztug. (* und #: gleichberechtigter Beitrag)
Diese Studie wurde vom Europäischem Forschungsrat (ERC), dem Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF),
Celgene Austria, den National Institutes of Health (NIH), dem Boehringer Ingelheim Fonds, sowie dem FWF Der Wissenschaftsfonds
gefördert.
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