Eine neue Ausstellung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
beleuchtet ab 9. November 2016 in der Krypta des Heldendenkmals vergessene Orte des Holocaust in Wien.
Wien (öaw) - Der Weg in die Vernichtung begann mitten in der Stadt. Kleine Sperlgasse 2a, Castellezgasse
35, Malzgasse 7 und 16 – diese Adressen in der Wiener Leopoldstadt sind im kollektiven Gedächtnis Österreichs
kaum präsent. In der Topographie der Shoah sind es jedoch zentrale Orte. Hier haben sich in der Zeit des nationalsozialistischen
Terrors vier Sammellager befunden, in denen Jüdinnen und Juden vor der Deportation interniert und in Gruppen
von je 1.000 Personen in Lastwägen zum Aspangbahnhof überstellt wurden. Von dort brachten insgesamt 45
Deportationszüge diese Menschen zwischen Februar 1941 und Oktober 1942 in Ghettos und Vernichtungslager. Der
Großteil der mehr als 66.000 österreichischen Opfer der Shoah wurde somit von den vier Wiener Sammellagern
aus in die Vernichtung geschickt.
Eine neue Ausstellung des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften (ÖAW) beleuchtet von 9. November 2016 bis 30. Juni 2017 unter dem Titel „Letzte
Orte vor der Deportation“ im Äußeren Burgtor am Wiener Heldenplatz diese lange Zeit vergessenen Stationen
des Holocaust und die Schicksale der dort internierten Menschen.
„Der Öffentlichkeit sind diese Orte heute kaum bekannt und nur wenige historische Originalquellen sind erhalten“,
erklärt ÖAW-Historikerin und Kuratorin Heidemarie Uhl. „Die Ausstellung möchte daher bewusst machen,
dass der Holocaust nicht nur in den Konzentrationslagern stattfand, sondern hier begann, inmitten der Stadt, in
der unmittelbaren Nachbarschaft, vor den Augen der Wiener Bevölkerung“, so Uhl weiter.
Für die Ausstellung wurden Interviews mit den letzten Überlebenden der Wiener Sammellager geführt.
Sie sind als Videos zu sehen und geben einen Einblick in die hermetisch abgeschlossene Welt, in der die Deportationstransporte
organisiert wurden. Vom Leben und vom Leiden in den Lagern erzählen auch zahlreiche Fotografien, Postkarten,
Briefe und Gedichte deportierter Menschen sowie Deportationslisten, Notizen und Dokumente der Täter. Viele
dieser oftmals aus Privatbesitz stammenden Ausstellungsstücke sind erstmals öffentlich zu sehen.
„Der Ausstellungsort selbst führt zudem in die Spannungsfelder der österreichischen Zeitgeschichte“,
erläutert Co-Kuratorin Monika Sommer: „Die Krypta des Heldendenkmals wurde ursprünglich den gefallenen
Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs gewidmet. Nun wird hier an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert.
Die Ausstellung leistet damit auch einen Beitrag zur Transformation des Heldendenkmals in einen historischen Lern-
und Vermittlungsort für die Gegenwart.“
Wien 1941: „Einrücken“ in die ersten Sammellager
„Zirka drei Wochen nach meinem 14. Geburtstag haben wir die Verständigung gekriegt, dass wir in ein Sammellager
gehen müssen“, erzählt Helga Feldner-Busztin, eine der wenigen österreichischen Überlebenden
des Holocaust, von dem Tag, an dem sie und ihre Familie die Aufforderung zum „Einrücken“, der Einberufung
in eines der Wiener Lager, erhielten. Wer sich weigerte, wurde ausgeforscht und eingeliefert. Anfang des Jahres
1941 lebten in Wien noch rund 61.000 Menschen, die nach Definition der nationalsozialistischen „Rassengesetze“
als Jüdinnen und Juden galten. Sie alle – Kinder, Jugendliche, Männer, Frauen und alte Menschen – sollten
nach dem Willen der Nazis in die Vernichtung geschickt werden.
Die Deportationen in Wien wurden von der NS-„Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ organisiert, geleitet
vom SS-Hauptsturmführer Alois Brunner, einem der berüchtigsten Gehilfen von Adolf Eichmann bei der Ermordung
der jüdischen Bevölkerung Europas. Brunner richtete die Sammellager in jüdischen Schulen ein, zunächst
in der Castellezgasse 35 und der Kleinen Sperlgasse 2a in der Wiener Leopoldstadt. Zwischen dem 15. Februar und
12. März 1941 wurden von hier fünf Transporte mit 5.031 Menschen in offenen Lastwägen zum Aspangbahnhof
gebracht, um in Züge nach Polen gepfercht zu werden. Die Fahrt durch die Stadt glich dabei oftmals einem Spießrutenlauf:
„Schau Dir an, die Juden. Naja, schleicht’s euch, san wir froh, dass wegfahrts“, so gibt Herbert Schrott, der mehrere
Konzentrationslager überlebte, die Reaktionen von Passanten entlang des Weges vom Lager zum Bahnhof in einem
Video in der Ausstellung wieder.
„Juden raus“: Die Deportationen beginnen
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die antijüdischen Maßnahmen der Nazis
weiter verschärft. Ab September verpflichtete man Jüdinnen und Juden ab sechs Jahren den gelben „Judenstern“
zu tragen. Mitleid ebenso wie offene Feindseligkeit schlugen den nun öffentlich Stigmatisierten entgegen,
wie die damals jugendliche Feldner-Busztin beschreibt: „Ich bin da auf dem Franz-Josefs-Kai gegangen mit dem Stern
und plötzlich ist eine Frau gekommen und hat mir eine Watsche gegeben und hat gesagt: ‚Du Judensau!’ (...)
Zufällig an einer ähnlichen Stelle, auch am Kai, ist eine andere Frau gekommen und hat mir ein Sackerl
Obst in die Hand gedrückt und hat gesagt: ‚Du armes Kind!’“
Den Sammellagern und der drohenden Vernichtung ist Ende 1941 schließlich kaum mehr zu entkommen. Auswanderung
wurde verboten und Alois Brunners „Zentralstelle“ begann damit, Jüdinnen und Juden auf der Straße und
in Wohnungen systematisch „auszuheben“, wie es im damaligen NS-Jargon hieß. Mitarbeiter der Israelitischen
Kultusgemeinde wurden gezwungen, als „Rechercheure“ und „Ausheber“ mitzuwirken. Der Zeitzeuge Herbert Schwarz beschreibt
in der Ausstellung diese Razzien: „Und dann plötzlich am Abend, in der Nacht, sind die SS und die SA reingekommen:
‚Die Juden raus! Raus, raus, raus!.’ Da hat jeder den Koffer genommen und ist rausgelaufen und endete am Lastwagen.“
Die Deportationslisten wurden nun immer länger. Die Ausstellung zeigt eine dieser Listen für einen Transport
vom 24. September 1942 nach Theresienstadt. Unter den verzeichneten Namen ist auch Viktor Frankl zu finden. Der
international renommierte Psychoanalytiker überlebte mehrere Konzentrationslager und wurde 1945 von der US-Armee
aus dem KZ Dachau befreit.
Trostlosigkeit, Demütigung, Enteignung: Leben in den Lagern
Die Situation in den Lagern selbst war trostlos. Die ehemaligen Schulgebäude boten kaum Platz für
die vielen Internierten, waren im Winter nicht beheizt und die Lebensmittelversorgung war unzureichend. Die Angst
vor der sogenannten „Kommissionierung“ ist ständiger Begleiter. Denn sie entschied darüber, wer deportiert
und wer „zurückgestellt“ oder aus dem Lager entlassen wurde. Es war ein Akt der Demütigung. Die SS-Männer
zerrissen Heimatscheine und Reisepässe vor den Augen der Lagerinsassen, die einen Vermögensverzicht unterschreiben
und Bargeld sowie Wertgegenstände aushändigen mussten. Auf eine „Zurückstellung“ konnte nur hoffen,
wer durch nicht-jüdische Verwandte geschützt war, eine ausländische Staatsbürgerschaft besaß
oder zu den Angestellten der Kultusgemeinde zählte. Alle anderen wurden in Lastwägen zum Aspangbahnhof
gebracht.
„Fahre morgen ins Dunkle“: Vom Lager in die Vernichtung
„‚Aspangbahnhof’. Schon der Name allein löst in mir Schaudern aus“, hält die Holocaust-Überlebende
Edith de Zeeuw-Klaber noch Jahrzehnte später fest. Die 19-jährige wurde am 4. Jänner 1942 mit ihren
Eltern deportiert. Sie beschrieb die Abfahrt vom Bahnhof als eine quälende „Reise ins Ungewisse“. Die Wiener
Jüdin Rita Rockenbauer ahnte hingegen bereits, was ihr bevorstand. In einem berührenden Brief, der in
der Ausstellung erstmals zu sehen ist, schreibt sie an ihren geschiedenen Mann: „Nun bin ich soweit und fahre Morgen
ins Dunkle – in die Fremde – ins Unglück!! Wer kann es wissen, ob wir uns je im Leben wieder sehen werden
– nach aller Voraussicht – nicht mehr; und doch fühle ich mich noch so jung – so unverbraucht - - warum muss
ich soviel leiden? Warum?“ Rita Rockenbauer wurde am 14. September 1942 nach Maly Trostinec deportiert und ermordet.
Rita Rockenbauer ist einer von insgesamt 45.451 Menschen, die von Februar 1941 bis zum letzten der großen
Deportationstransporte am 9. Oktober 1942 von den Nazis in Ghettos und Vernichtungsorte gebracht wurden. Der Weg
nach Maly Trostinec, nach Auschwitz-Birkenau, Chelmo, Belzec, Sobibor oder Treblinka begann in der Kleinen Sperlgasse,
der Castellezgasse und der Malzgasse – mitten in der Stadt, vor den Augen der Wienerinnen und Wiener. Nur 989 österreichische
Überlebende dieser Deportationen sind bekannt.
„Macht über Leben und Tod“: Die Täter wurden kaum behelligt
Und die Täter? Alois Brunner, der Leiter der Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“,
konnte nach Syrien fliehen und starb vermutlich 2009 oder 2010 in Damaskus. Josef Weiszl, ein gefürchteter
„Deportationsexperte“, dessen lakonisch von ihm mit „Meine Dienstzeit“ betiteltes Fotoalbum in der Ausstellung
auszugsweise zu sehen ist, wurde 1949 in Paris zu lebenslanger Haft verurteilt, erhielt später in Wien Heimkehrerfürsorge
und starb 1984. Anton Brunner, ein „eiskalter Sadist, der seine Macht über Leben und Tod genoß“ – so
die Holocaust-Überlebende Susanne Kriss – wurde nach Kriegsende verhaftet, in Wien zum Tode verurteilt und
1946 hingerichtet. Doch nur wenige der für die Deportationen verantwortlichen NS-Täter wurden so wie
Brunner nach 1945 vor Gericht zur Rechenschaft gezogen.
Weitere Informationen
Die Ausstellung „Letzte Orte vor der Deportation. Kleine Sperlgasse, Castellezgasse, Malzgasse“ ist vom 9.11.2016
bis 30.6.2017 in der Krypta im Heldendenkmal (Heldenplatz, Äußeres Burgtor, 1010 Wien) bei freiem Eintritt
zu sehen.
http://www.erinnern.at
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 9.00-11.30 Uhr und 12.30-16.00 Uhr (Schließtage: 19.12.2016 bis 8.1.2017).
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