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Staatsakt "Geste der Verantwortung"
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erstellt am
18. 11. 16
11:00 MEZ
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Bures: Manchmal sucht man nach Worten, aber man findet nur Tränen - diese Sprachlosigkeit
müssen wir heute überwinden – Lindner: Wir übernehmen Verantwortung für das Versagen unseres
Staates
Wien (pk) - Nationalratspräsidentin Doris Bures und Bundesratspräsident Mario Lindner haben am
17.11. zu einem Staatsakt in den Historischen Sitzungssaal ins Parlament geladen. Reden halten bei dieser "Geste
der Verantwortung" – als VertreterInnen des offiziellen Österreichs und der Kirche – neben Bures und
Lindner Bundeskanzler Christian Kern, Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, Kardinal Christoph Schönborn und
der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer in seiner Funktion als derzeitiger Vorsitzender
der Landeshauptleutekonferenz.
Das offizielle Österreich will mit dem Staatsakt zum Ausdruck bringen, dass es das unfassbare Leid von ehemaligen
Heimkindern, die in der Zweiten Republik schweres Unrecht erlitten haben, mitsamt seiner lebenslangen Konsequenzen
anerkennt und Lehren daraus gezogen hat. Die Republik kommt damit einer langjährigen Forderung der Betroffenen
nach.
Staatsakt kann und soll kein Schlussstrich sein
Die Nationalratspräsidentin und der Bundesratspräsident betonten beide in ihren Reden, dass der Staatsakt
keinesfalls einen Schlussstrich unter das geschehene Unrecht ziehen kann und soll. Es gehe vielmehr darum, dass
Staat und Kirche gemeinsam das Unrecht benennen, anerkennen und ihre Schuld eingestehen würden. In den Historischen
Sitzungssaal, dem würdigsten Ort, den die Republik anzubieten hat, dem Ort, an dem Bundespräsidenten
angelobt werden, sind auch rund 300 Betroffene gekommen - und außerdem Menschen, die sich um die Aufarbeitung
des Unrechts verdient gemacht haben.
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Bures: Ich weiß, dass nicht entschuldbar ist, was Ihnen in jungen Jahren widerfahren ist
Die Rede von Nationalratspräsidentin Doris Bures im Wortlaut:
- Es gilt das gesprochene Wort –
Manchmal sucht man nach Worten, aber man findet nur Tränen. Diese Sprachlosigkeit müssen wir heute überwinden,
um zu benennen, was tausende junge Menschen in unserer Obhut erleiden mussten. Über Jahrzehnte hinweg, inmitten
unserer Gesellschaft, inmitten unserer Republik.
Es waren Kinder. Kinder die nicht auf der Sonnenseite ins Leben starten konnten. Sie wurden aus ihren Familien
gerissen und fanden sich in Heimen der öffentlichen Hand oder der Kirche wieder.
Dort hätten sie – wie alle Kinder – Fürsorge und Liebe, Schutz und Geborgenheit gebraucht. Aber sie haben
Gewalt und Missbrauch, Demütigung, Gleichgültigkeit, Kälte und Einsamkeit erfahren. Hilfe wurde
ihnen nur selten zuteil, die Kontrolle versagte, das kollektive Wegschauen hatte System.
Vielen Kindern wurden tiefste körperliche und seelische Wunden geschlagen, sie wurden ihrer Würde beraubt.
Und vielen wurde nicht nur die Kindheit genommen, sondern auch die Chance auf ein unbeschwertes und selbstbestimmtes
Leben. Denn frühe Jahre in Dunkelheit werfen oftmals einen lebenslangen Schatten.
Die Kinder von damals wurden, auch als sie erwachsen waren, lange Zeit allein gelassen. Viele konnten nicht über
die Zeit im Heim oder der Pflegefamilie sprechen und die, die die Kraft fanden, sind lange nicht gehört worden.
Leugnen, Verdrängen, Vergessen – das waren die Bausteine der hohen Mauer, die unsere Gesellschaft vor diesen
Menschen errichtet hat. Erst vor wenigen Jahren hat diese Mauer Risse bekommen. Das ist vor allem das Verdienst
jener Frauen und Männer, die über das Erlebte gesprochen und hartnäckig dafür gekämpft
haben, dass ihnen geglaubt wird.
Unsere Gedanken sind heute aber auch bei jenen vielen Menschen, die das Erlittene – Ihre Wunden und Narben – im
Verborgenen tragen. Menschen, die noch nie darüber sprechen konnten und es vielleicht auch nie werden. Und
unsere Gedanken sind auch bei jenen, die an ihren Wunden und Narben zerbrochen sind, die die Last ihres Lebens
nicht mehr tragen konnten.
In den vergangenen Jahren haben sich Kommissionen der Länder und der Kirche, aber auch WissenschaftlerInnen
und ExpertInnen unterschiedlicher Disziplinen mit der systematischen Gewalt in den Kinderheimen auseinandergesetzt.
Diese ernsthaften Bemühungen um die schwierige Aufarbeitung des Geschehenen verdienen Anerkennung. Eine Reihe
von Berichten bietet heute die unverzichtbare Basis für weitere Forschungsarbeit: auch über die Täter
im Gewaltsystem. Denn im Sinne der Prävention müssen wir auch wissen, warum aus betreuenden Menschen
sadistische Unmenschen wurden. Nicht außer Acht zu lassen ist dabei die im Nachkriegsösterreich fortwirkende
NS-Ideologie. Sie hat den Wert des menschlichen Lebens nachhaltig relativiert.
Stellvertretend für alle Frauen und Männer, die dieses Leid ertragen mussten, heiße ich Sie im
Parlament willkommen. Ich bedanke mich sehr, dass Sie hier sind, obwohl Ihnen das wahrscheinlich sehr viel Kraft
abverlangt.
Dieser Staatsakt ist eine Geste, eine Geste der Verantwortung. Er kann und soll keinen Schlussstrich unter offene
Diskussionen und unter die Aufarbeitung setzen. Es geht darum, dass Staat und Kirche gemeinsam das Unrecht benennen,
anerkennen und ihre Schuld eingestehen.
Ich weiß, dass nicht entschuldbar ist, was Ihnen in jungen Jahren widerfahren ist. Ich weiß, dass nichts
das Geschehene ungeschehen machen kann. Was Ihnen widerfahren ist, ist eine Schande für unser Land. Ich stehe
hier – und schäme mich dafür.
Auch heute sind viele Menschen in unserer Gesellschaft auf Hilfe und Obhut in Heimen angewiesen: Menschen mit Behinderungen,
Kranke und immer mehr alte, pflegebedürftige Frauen und Männer. Vieles, sehr vieles, hat sich zum Besseren
verändert. Aber wir müssen dennoch stets wachsam sein. Denn die Würde von Menschen ist dort besonders
leicht verletzbar, wo Abhängigkeit besteht.
Es liegt leider nicht in unserer Macht, Missbrauch und Gewalt durch einzelne Täter für immer zu verhindern.
Was aber in unserer Macht und in unser aller Verantwortung liegt, ist, zu verhindern, dass Missbrauch und Gewalt
– wie einst – still geduldet, systematisch vertuscht und kollektiv geleugnet werden. Das Versagen darf sich nicht
wiederholen. Nicht heute, nicht morgen – nie wieder!
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Lindner: Mutige Menschen haben Mantel des Schweigens gelüftet
Die Rede von Bundesratspräsident Mario Lindner im Wortlaut:
- es gilt das gesprochene Wort –
Im Jahr 2010 war ich 28 Jahre alt. Als ich damals durch die Medien zum ersten Mal bewusst darauf aufmerksam gemacht
wurde, was bis in die 1980er Jahre in Österreich passiert ist, welches Unrecht Kindern und Jugendlichen in
der Obhut von Kirche und Staat geschehen ist, war meine Reaktion dieselbe wie die vieler Menschen in unserem Land:
Schock. Entsetzen darüber, dass solche Verbrechen in Österreich über Jahre und Jahrzehnte hinweg
geschehen konnten.
Ich habe damals – genauso wie in den Tagen und Wochen vor diesem Staatsakt – versucht, mich in die Lage von all
jenen zu versetzen, denen dieses Unrecht widerfahren ist. Die um ihre Kindheit und ihre Jugend, um ihre Sicherheit
und um den Schutz gebracht wurden, den sie verdient haben.
Und wie so viele andere bin ich daran gescheitert. Wenn man diese Verbrechen, dieses Unrecht nicht selbst erlebt
hat, wird man niemals begreifen können, welche Narben es hinterlassen hat. Welche Auswirkungen es bis heute
auf das Leben jeder und jedes Betroffenen hat.
Nur durch die mutigen Menschen, die sich in den letzten Jahren zu Wort gemeldet haben, durch die mutigen Frauen
und Männer, die den Mantel des Schweigens gelüftet und ihre Erlebnisse erzählt haben, kennen wir
ihre Geschichten, ihren Schmerz. Durch Erzählungen, wie jene, die wir heute hören, durch Interviews,
durch Bücher.
Es sind Erlebnisse und Berichte, an denen es nichts zu beschönigen, nichts wegzureden gibt. Es sind Zeugnisse
für eines des dunkelsten Kapitel in unserer Nachkriegsgeschichte.
Ein Staat hat eine zentrale Verantwortung – die Rechte und die Würde aller Menschen zu verteidigen, die in
seinem Schutz leben. Das gilt umso mehr für die verwundbarsten Mitglieder seiner Gesellschaft. Für Kinder.
Für Jugendliche.
Österreich hat bei Ihrem Schutz versagt. Unsere Institutionen haben versagt. Unsere Länder. Wir sind
zu Mitwissern und Komplizen geworden. Die Verantwortlichen von heute sind zwar nicht jene, die damals die Augen
verschlossen haben, die Unrecht gedeckt und Kinder im Stich gelassen haben. Aber wir übernehmen Verantwortung
für das Versagen unseres Staates. Für das Unrecht und die Verbrechen, die Ihnen wiederfahren sind.
Der heutige Tag, dieser Staatsakt, ist ein Zeichen dieser Verantwortung. Was er aber nicht sein kann, nicht sein
darf, ist ein Abschluss der Auseinandersetzung mit all dem, was passiert ist. Denn wir schulden all den Menschen,
die in den Einrichtungen von Bund und Ländern Unrecht erfahren haben, allen von Ihnen, und allen, die nicht
mehr hier sind, wir schulden Ihnen ein Versprechen: Wir werden niemals wieder die Augen verschließen. Und
wir können, wir wollen und wir werden keinen Schlussstrich unter dieses furchtbare Kapitel unserer Geschichte
setzen!
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300 Betroffene im Historischen Sitzungssaal des Parlaments
Der Staatsakt stand im Zeichen von Demut und Entschuldigung. Die von den SchauspielerInnen vorgetragenen Texte
– zum Teil veröffentlichte Schilderungen der Erlebnisse ehemaliger Heimkinder – riefen im Saal große
Betroffenheit und zum Teil starke Emotionen hervor.
Die Nationalratspräsidentin und der Bundesratspräsident betonten beide in ihren Reden, dass der Staatsakt
keinesfalls einen Schlussstrich unter das geschehene Unrecht ziehen kann und soll. Sondern es gehe darum, dass
Staat und Kirche gemeinsam das Unrecht benennen, anerkennen und ihre Schuld eingestehen würden. Zu Wort kamen
auch Bundeskanzler Christian Kern, Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer
und Kardinal Christoph Schönborn.
Im Mittelpunkt standen die Betroffenen
Im Historischen Sitzungssaal waren neben den VertreterInnen des offiziellen Österreichs und der Kirche rund
300 Betroffene, die mit ihrem individuellen Leid und ihren sehr unterschiedlichen Erfahrungen im Mittelpunkt des
Staatsaktes standen. Dargestellt wurde das ganze Ausmaß des geschehenen Unrechts durch künstlerische
Verdichtung. Texte von Betroffenen sowie Forschungs- und Kommissionsberichte waren die Grundlage dafür.
Die Dramaturgin Doris Happl hat die Auswahl der Texte übernommen, Regie führte Christine Wipplinger.
Die SchauspielerInnen Wolfang Böck, Regina Fritsch, Miriam Fussenegger, Karl Markovics und Florian Teichtmeister
sprachen die Texte. Es ging darin unter anderem um Vernachlässigung, schweren Missbrauch, um Züchtigung
und offenen Sadismus, um sexuelle Nötigung und Vergewaltigung.
Kern: Kindheit der Betroffenen leider oft die Hölle gewesen
Die Kindheit der Betroffenen sei leider oft die Hölle gewesen, versuchte Bundeskanzler Christian Kern das
Unfassbare zu benennen. "Den Betroffenen ist mehrfaches Leid widerfahren: Zuerst mussten sie den Missbrauch
erleben, danach wurden sie mit ihren Erfahrungen ignoriert", so der Bundeskanzler.
Heute sei das Wichtigste, dass die Betroffenen ihre Würde zurückerhalten und dass wir ihnen zuhören
würden. "Über die Erfahrungen und Erlebnisse der ehemaligen Heimkinder zu sprechen, ist nahezu unerträglich",
sagte Kern. Das in den Heimen Geschehene zähle zu den dunkelsten Schattenseiten unserer Republik.
Mitterlehner: Mensch sein heißt, verantwortlich zu sein
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner würdigte all jene, die im Rahmen der Aufarbeitung der Geschehnisse in
den Heimen hingesehen, wo andere weggesehen haben. "Die heutige Geste der Verantwortung ist kein Schlussstrich.
Missbrauch hat in unserer Gesellschaft gestern, heute und morgen keinen Platz", so der Vizekanzler.
Mitterlehner rief dazu auf, beim Verdacht auf Missbrauch genau hinzusehen. Dazu zitierte er den Schriftsteller
Antoine de Saint-Exupery mit den Worten: "Mensch sein heißt, verantwortlich zu sein." Der Vizekanzler
räumte mit großem Bedauern ein, dass viele Täter spät oder sogar nie bestraft worden seien.
Schützenhöfer: Es wurde weggeschaut
"Heute stehen die Betroffenen im Mittelpunkt", so der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer.
Diese Feststellung sei wichtig, denn allzu lange habe es eine Mauer des Verschweigens gegeben. "Es wurde weggeschaut",
hielt auch er fest. Er wisse, dass eine Geste wie die heutige nur ein unvollkommenes Zeichen sein könne, aber
"ich hoffe sehr, dass es angenommen wird."
Im Hinblick auf die massiven Vorwürfe gegenüber der Kirche betonte Schützenhöfer, dass er in
seiner Kindheit durchaus positive Erfahrungen mit der Kirche gemacht habe. Er habe aber angesichts der schrecklichen
Taten, die in den Heimen passiert seien, großes Verständnis für das Misstrauen der Betroffenen
gegenüber der Kirche. "Ein Schutzbedürfnis darf niemals zu Missbrauch führen", appellierte
der steirische Landeshauptmann und derzeitige Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz.
Schönborn: Nur Wahrheit macht frei
Kardinal Christoph Schönborn war der letzte Redner und stellte seine Worte in das Zeichen großer Demut:
"Ich stehe hier als Vertreter jener Einrichtung, die für viele von Ihnen mit schlimmsten Erinnerungen
verbunden ist". "Nur Wahrheit macht frei", zitierte er sinngemäß aus dem Neuen Testament
und räumte ein, die Kirche habe vertuscht und sie habe einschlägig bekanntes Heimpersonal nur versetzt,
aber nicht abgesetzt. "Für diese Schuld stehe ich vor ihnen und bitte um Entschuldigung", sagte
der Kardinal.
Er sei selbst in den Nachkriegsjahren in einer Volksschule und später in einem Gymnasium aufgewachsen, "in
dem die schwarze Pädagogik selbstverständlich war. Es wurde sehr viel geprügelt", so Schönborn.
Dennoch habe er sich früher nicht vorstellen können, was die von Missbrauch Betroffenen erlebt hatten.
"Was in kirchlichen Einrichtungen geschehen ist, was Priester und auch Nonnen Jugendlichen angetan haben.
Ich konnte mir das nicht vorstellen, bis ich es durch Gespräche und Begegnungen selbst erfahren habe: es ist
die bittere Wahrheit".
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Allgemeine Informationen:
http://www.parlament.gv.at
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