Höratlas von Hannes Scheutz dokumentiert Salzburgs Sprache / Forschungsprojekt von Salzburg
20.16 vorgestellt
Salzburg (lk) - Der Sprachwissenschafter Hannes Scheutz und Friedrich Urban, Geschäftsführer der
Salzburg 20.16 GmbH, präsentierten am 10.02. den neuen interaktiven Salzburger Sprachatlas, einen "Höratlas",
der ein einzigartiges Erlebnis der Salzburger Sprachlandschaft bietet: Unter http://www.sprachatlas.at/salzburg werden die Dialekte erstmals direkt erfahrbar.
Mehr als 30 unterschiedliche Ortsmundarten können auf einen Klick miteinander verglichen werden, mehr als
10.000 Sprachbeispiele dokumentieren die sprachlichen Eigenheiten der einzelnen Dialekte. Ein Vergleich zwischen
Alt und Jung zeigt zudem, wie sich die regionale Sprache von Generation zu Generation ändert.
Dialekte als kollektives Gedächtnis einer Kulturlandschaft
Der Dialekt ist die "Sprache der Nähe", des Alltags, des engeren regionalen Umfeldes, des familiären
und freundschaftlich-vertrauten Umgangs. Dialekte sind ein Wissensspeicher, in dem sich der Erfahrungsschatz vieler
Generationen widerspiegelt. Sie sind das kollektive Gedächtnis einer Kulturlandschaft, bedeutsam für
die Entwicklung regionaler und sozialer Identität. Die Salzburger Dialekte spiegeln auch noch 200 Jahre nach
dem Zerfall des Erzstifts Salzburg die ursprünglich gewachsene Dialektlandschaft innerhalb dieses Territoriums
wider und liegen damit quer zu den mittlerweile grundlegend veränderten politischen Grenzen.
In den Grundmundarten stellte die deutsch-österreichische Staatsgrenze bis zuletzt keine Sprachgrenze dar
– im Gegensatz zu den neueren Sprachvarietäten der alltäglichen Umgangssprache, die dem starken Einfluss
der Zentren München und Wien unterliegen und die politische Grenze zunehmend auch als Sprachgrenze etabliert
haben. Dialekte verändern sich wie alle lebenden Sprachen: Die über lange Zeiträume hinweg bestehenden
kleinregionalen Unterschiede und autochthonen Merkmale werden gegenwärtig abgebaut, verschwinden zusehends.
Vielfach geht dieser sprachliche Erosionsprozess in rasantem Tempo vor sich. "Für eine Dokumentation
ursprünglicher Dialektlandschaften ist es höchste Zeit, manchmal auch bereits fünf Minuten nach
Zwölf", so Sprachwissenschafter Scheutz.
Friedrich Urban, Geschäftsführer von Salzburg 20.16, betonte, dass diese umfangreiche wissenschaftliche
Dokumentation dank des Jubiläumsjahres finanziert und umgesetzt werden konnte – einerseits auf wissenschaftlich
hohem Niveau und andererseits für den Laien spannend aufbereitet. "Es ist eines jener Projekte, die weit
über das Jubiläumsjahr 2016 hinaus Bestand haben", so Urban.
Salzburger Dialektvielfalt für ein breites Publikum
Ziel des Projekts ist es, die gegenwärtigen Salzburger Dialektlandschaften zu dokumentieren, sie unmittelbar
hören und vergleichen zu können und sprachwissenschaftlich Fundiertes über ihre unterschiedlichen
Ausprägungen und ihre aktuellen Veränderungen zu erfahren. Es geht um eine populär angelegte und
wissenschaftlich seriöse Vermittlung der Salzburger Dialektvielfalt für ein breites Publikum. Ähnlich
aufgebaut wie der für die Arge Alp erstellte sprechende Dialektatlas "Deutsche Dialekte im Alpenraum"
oder der zuletzt erschienene Höratlas der deutschen Dialekte in Südtirol, ist dieser Atlas auf einer
Internetplattform allgemein zugänglich.
Durch seine Multimedialität eröffnet der "sprechende" Dialektatlas eine neue Qualitätskategorie
im Zugang zu einer Sprachlandschaft: Auf einen Klick werden die unterschiedlichen Dialekte der gesamten Region
erfahrbar, auch Laien können die essentiellen Eigenschaften der verschiedenen Salzburger Dialekte miteinander
vergleichen.
Was ist der Dialekt eines Ortes? Wie können wir den Dialekt eines Ortes dokumentieren? Wer sind geeignete
Gewährspersonen, um darüber Auskunft zu geben? Üblicherweise versteht man unter dem Dialekt eines
Ortes den Basisdialekt, die Grundmundart, also die dialektalste Sprachschicht, die sich an einem Ort finden lässt.
Als geeignete Informanten kommen dafür Personen der älteren Generation infrage, die im Ort geboren und
aufgewachsen sind und von denen anzunehmen ist, dass sie in ihrem Alltag hauptsächlich ihren angestammten
Dialekt verwenden. Da sich zudem alte Lautungen, Formen und Wörter meist besonders gut im traditionellen bäuerlichen
Fachwortschatz halten, gelten Personen bäuerlicher Herkunft als klassische Gewährspersonen. Dies trifft
auch auf die Auswahl von Informantinnen und Informanten für den Dialektvergleich zu. Für jeden Ort wurde
ein prototypischer Sprecher ausgewählt. Die Informantinnen und Informanten stammen aus dem bäuerlichen
Bereich und sind zwischen 70 und über 90 Jahre alt.
Dass die Sprache oder der Dialekt auch eines kleinen Ortes nichts vollkommen Einheitliches sein kann, wird häufig
übersehen: Üblicherweise wird das Bild klarer Grenzlinien für einzelne Sprachmerkmale vermittelt.
Die Sprachwirklichkeit sieht anders aus. Meist zeigen sich bereits bei einem einzelnen Sprecher oder einer einzelnen
Sprecherin Schwankungen seiner Dialektformen während einer Befragung. Noch deutlicher werden die Unterschiede,
wenn verschiedene Sprecherinnen und Sprecher für eine Ortsaufnahme herangezogen werden. Diese Unterschiedlichkeit
ist nichts Ungewöhnliches, sondern der Normalfall. Sprache ist ständig im Wandel begriffen, und Sprachwandel
setzt Sprachvariation voraus.
Eindruck von aktuellen sprachlichen Veränderungsprozessen
Einen Eindruck von aktuell vor sich gehenden sprachlichen Veränderungsprozessen gibt die Registerkarte
Generationenvergleich: Zusätzlich zu den basisdialektalen Formen der älteren Generation sind hier die
Formen von Sprecherinnen und Sprechern der jüngeren Generation (zirka 18 bis 30 Jahre) zu finden. Sie stammen
zumeist nicht aus der bäuerlichen Schicht und sollten die Sprechweise eines jüngeren Durchschnitts-Einwohners
des jeweiligen Ortes repräsentieren. Naturgemäß ist in dieser Gruppe die Streubreite der Variation
am größten.
Fragebuch als Basis für Tonaufnahmen
Den Tonaufnahmen lag ein von Hannes Scheutz erstelltes Fragebuch zugrunde. Es enthält rund 500 Einzelfragen
zu bestimmten Fragestellungen aus den unterschiedlichen sprachlichen Ebenen (Lautebene, Wortformen, Satzbau) und
zu einzelnen Sachgebieten des Alltagswortschatzes. Die Gewährspersonen sollten spontan jene Ausdrücke
wiedergeben, die sie normalerweise verwenden (also zum Beispiel keine Erinnerungsformen aus dem Sprachgebrauch
früherer Generationen).
Diese Fragen sehen etwa folgendermaßen aus: Wie sagt man im hiesigen Dialekt zur Biene? Wie lauten hier die
Formen des Zeitwortes ziehen (ich ziehe, du ziehst, er zieht, zieh!, gezogen etc.)? Wie lautet der ortsübliche
Gruß am Abend?
Weitgehend natürliche Aufnahmesituation
Im Unterschied zu traditionellen Dialekterhebungen, bei denen die Antworten der Gewährspersonen nicht akustisch
aufgezeichnet, sondern in einer genauen Lautschrift sofort aufgeschrieben werden, wurde für den Salzburger
Sprachatlas die gesamte Aufnahmesitzung jeweils mit einem qualitativ hochwertigen digitalen Aufnahmegerät
festgehalten. Die Aufnahmen wurden nicht im Studio, sondern unter natürlichen Bedingungen zumeist in den privaten
Wohnräumen der Gewährspersonen durchgeführt. Daraus ergeben sich manchmal akustische Mängel
des Materials aufgrund von unvermeidbaren Nebengeräuschen, Hall-Effekten oder stark schwankenden Abständen
der Sprechenden vom Mikrofon. Diese Mängel, die trotz einer zum Teil recht umfangreichen akustischen Bearbeitung
manchmal noch zu hören sind, werden allerdings wettgemacht durch die möglichst große Spontaneität
und Unmittelbarkeit der Antworten, die nur in einer solchen weitgehend natürlichen Aufnahmesituation möglich
sind.
Die ausgewählten Beispielwörter und -sätze wurden anschließend aus dem gesamten Material elektronisch
ausgeschnitten. Durch die häufige Einbettung der erfragten Wörter in eine längere Antwort der Gewährsperson
war die Isolierung von Einzelwörtern nicht immer möglich: Immer dann, wenn ein Tonschnitt zu größeren
Verzerrungen des Höreindrucks geführt hätte, wurde das Beispielwort in seiner ursprünglichen
Satzeinbettung belassen. In wenigen Fällen konnte das gewünschte Wort nicht erfragt werden. Dies wird
durch einen spezifischen Signalton angezeigt.
Viele spannende Einzelergebnisse
Aus den aufgenommenen Sprachbeispielen wurde etwa ein Drittel für den Höratlas ausgewählt. Maßgeblich
war die Idee, alle abrufbaren Beispiele auf dem Bildschirm sichtbar und anklickbar zu machen. In insgesamt sieben
Registerkarten finden sich je 48 Beispiele zur Lautebene, zum Wortschatz, zu den Wortformen und 18 Beispiele zum
Satzbau. Mit diesen letzten beiden Bereichen wird dialektologisches Neuland betreten: Alle traditionellen Dialektdarstellungen
gehen davon aus, dass sich kleinräumige Unterschiede nur im Lautlichen und im Wortschatz zeigen würden.
Die Ebenen der Wortformen (Substantiv- und Verbflexion) und der Syntax wurden ignoriert. Besonders hier gibt es
im Salzburger Raum viele spannende Einzelergebnisse.
Autochthone Formen verschwinden zunehmend
Salzburg liegt in einem Übergangsgebiet zwischen dem mittelbairisch geprägten Norden und dem südbairisch
geprägten Süden. Entsprechend abwechslungsreich und vielfältig präsentieren sich auch die hiesigen
Dialekte. Im Südosten (Lungau) und Südwesten (Oberpinzgau) finden wir noch Reste ganz alter Dialektformen,
die vielfach frappierende Ähnlichkeiten mit den südlichsten inneralpinen bairischen Dialekten (zum Beispiel
Südtirol) aufweisen.
Im Norden sehen wir eine großflächige Überformung der Altsalzburger Formen durch ostösterreichische
(oberösterreichische, zum Teil Wiener) Einflüsse. Ebenso verschwinden zunehmend auch die autochthonen
Formen in den jetzt bayerischen Gebieten des ehemaligen Erzstifts Salzburg.
Zum Autor
Hannes Scheutz, geboren 1953, studierte Germanistik, Sprachwissenschaft und Geographie an der Universität
Salzburg. 1978 bis 1989 war er Akademischer Rat an der Universität München. Seit 1989 lehrt er germanistische
Sprachwissenschaft an der Universität Salzburg. Er veröffentlichte zu Sprachwandel, gesprochener Sprache
und Dialekten, zuletzt als Spezialgebiet Entwicklung von "sprechenden" Dialektatlanten (Salzburger Grenzgebiet,
Salzkammergut, Deutsche Dialekte im Alpenraum, Deutsche Dialekte in Südtirol).
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