Gemeinsames Plädoyer gegen Nationalismus und für ein solidarisches Europa in der
Pressekonferenz der beiden Staatsoberhäupter
Berlin/Wien (hofburg) - Einen von Wärme und Freundschaftlichkeit geprägten Empfang hat der scheidende
deutsche Bundespräsident Joachim Gauck seinem österreichischen Amtskollegen Alexander Van der Bellen
bei dessen Antrittsbesuch am 03.03. in Berlin bereitet. Thema des Treffens waren auch die jüngsten Misstöne
zwischen der Türkei und den beiden Ländern.
Für viele Deutsche sei der Staatsgast aus Österreich ein Sympathieträger, sagte Gauck in Schloss
Bellevue vor Journalisten. Vor allem Van der Bellens wiederholtes Bekenntnis zu Europa hob er hervor: "Zu
meiner großen Freude ist das Ja zu Europa gerade von Ihnen zu einer Zeit formuliert worden, da in vielen
Ländern Renationalisierungstendenzen Raum greifen", sagte er.
Angesichts des Vertrauens der Bürger, das Van der Bellen erhalten habe, könne er den Menschen eine Orientierungsfunktion
bieten. Man müsse begreifen, "dass ein Europa der Solidarität das Europa der Zukunft ist".
Umso mehr brauche es eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise.
"Sie spüren schon, ich habe gute Gründe, mich zu freuen über Ihren Besuch", so der 77-jährige
Gauck, der mit 19. März aus dem Amt scheidet. "Sie sind ein junger Präsident", streute er seinem
gerade einmal vier Jahre jüngeren Amtskollegen für seinen Esprit weitere Rosen. Gerade in Österreich
sei zu spüren gewesen, dass die Menschen reagieren, wenn Politiker keine Angst an den Tag legten, "sondern
mit Zuversicht vor die Menschen treten".
Van der Bellen dankte für den freundlichen - mit militärischen Ehren verbundenen - Empfang und rief wie
Gauck dazu auf, nationalistischen Tendenzen in Europa mit Mut und Zuversicht entgegenzutreten. "Es gibt überhaupt
keinen Grund, in vorauseilendem Gehorsam vor den Vertretern der Kleinstaaterei in die Knie zu gehen", meinte
er und warnte vor "Kleinstaaterei" und der "freiwilligen Verzwergung Europas".
Einmal mehr plädierte er für eine verstärkte europäische Integration. Von den fünf Optionen
des jüngsten Weißbuchs der EU-Kommission brauche man drei erst gar nicht, nämlich jene, die zu
weniger Zusammenarbeit in Europa führten, so Van der Bellen.
Nach der offiziellen Begegnung, an dem auch Van der Bellens Ehefrau Doris Schmidauer und Gaucks Lebensgefährtin
Daniela Schadt teilnahmen, war für Van der Bellen noch ein privates Treffen mit Frank-Walter Steinmeier, Gaucks
designiertem Nachfolger, angesetzt - und zwar aus protokollarischen Gründen abseits des Lichts der Öffentlichkeit.
Danach war eine Kranzniederlegung am Denkmal für die ermordeten Juden Europas, eine Besichtigung des Holocaust-Museums
sowie ein Besuch der Gedenkstätte Berliner Mauer vorgesehen.
In Berlin eingetroffen war Van der Bellen schon am Donnerstagabend. Bei einem Empfang in der österreichischen
Botschaft gab es lang anhaltenden Applaus für ihn. Van der Bellen erinnerte dabei an die Zeit, als er in den
1970er Jahren als Wirtschaftswissenschafter in der Stadt tätig war. "Ich bin fast ein Berliner gewesen",
persiflierte er die berühmte Rede von US-Präsident John F. Kennedy aus dem Jahr 1963.
Sorge um Entwicklung in der Türkei
Joachim Gauck hat auch seine Sorge über die Entwicklung in der Türkei geäußert. Bezüglich
der Entscheidung, türkische Politiker nicht in Deutschland auftreten zu lassen, sprach er von einem komplizierten
Abwägungsprozess. Etwas kritischer fiel hier die Antwort Van der Bellens aus.
Als Demokrat und Europäer sei ihm die Entwicklung in der Türkei "selbstverständlich suspekt",
sagte Gauck. Von einer anfangs sehr respektablen Entwicklung habe sich das Land zu einem völlig anderem Gesellschaftsmuster
gewandelt. Das bereite vielen Menschen und auch ihm Sorgen. Gleichzeitig sei man dem Land - etwa in der NATO -
verbunden und brauche es auch als Stabilitätsfaktor in der Union.
Zur Absage von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker, etwa von Justizminister Bekir Bozdag im deutschen
Gaggenau, zeigte sich Gauck sehr abwägend. Es gelte bei ausländischen wie bei inländischen Akteuren,
die eine illiberale Politik machten, das Gleiche. "Sind wir, die demokratische Mitte, so schwach, dass wir
die Argumente derer, deren politische Auffassungen wir nicht teilen, so fürchten müssen, dass wir ihr
öffentliches Wort verhindern müssen? Ich sehe diese Schwäche nicht. Und von daher, glaube ich, sollten
wir ihnen auch nicht unsere Angst schenken." Dies sei aber nicht als Ablehnung der Gaggenau-Entscheidung zu
verstehen.
Pointierter formulierte es Van der Bellen. "Immerhin leben 220.000 Österreicher in Deutschland, aber
wir sind nicht auf die Idee gekommen, in Deutschland Wahlkampf zu machen", meinte er. Der türkische Justizminister
bewege sich "auf sehr glattem Grund", wenn er meine, Deutschland schränke die Grund- und Freiheitsrechte
ein. "Die Grund- und Freiheitsrechte wurden nicht erkämpft für die Macht eines Ministers, im Ausland
Wahlkampf zu machen", unterstrich Van der Bellen.
ham/mp / Quelle: APA
|