…beschreibt dunkle Seite in der Geschichte der Wiener Psychiatrie
Wien (rk) - In einer Studie wurde eine „dunkle Seite“ in der Wiener Medizingeschichte – die Unterbringung
von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zwischen 1945 und 1989 am Steinhof und Rosenhügel – beleuchtet.
Das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie legten nach zweijähriger Recherchearbeit und mehr als
100 Interviews die zum Teil menschenunwürdigen Verhältnisse in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen
in den beiden genannten Einrichtung offen. „Es ist erschütternd, welch Zustände in dieser Zeit im Pavillon
15 am Steinhof und teilweise auch am Rosenhügel in der „Rett-Klinik“ geherrscht haben. Ich bin sehr dankbar,
dass die Studienautoren mit ihrer akribischen Arbeit Licht in diesen dunklen Teil der Wiener Psychiatrie gebracht
haben. Von Pflege oder Betreuung der Kinder und Jugendlichen, vor allem im Pavillon 15, kann man in dieser Zeit
keineswegs reden“, sagte Gesundheitsstadträtin Sandra Frauenberger anlässlich der Präsentation der
Studie. „Die Studie hatte zum Ziel, die medizinische Behandlungspraxis und pflegerische sowie psychosoziale Betreuungssituation
in den beiden stationären Einrichtungen umfassend auf breiter Datenbasis zu rekonstruieren“, erläutert
die Studienautorin Hemma Mayrhofer.
Die Ergebnisse des fünfköpfigen Forschungsteams lassen Pavillon 15 „Am Steinhof“ als umfassendes Gewaltsystem
sichtbar werden, das über den gesamten Untersuchungszeitraum (1945-1983/84) völlig inadäquate Versorgungs-
und Betreuungsverhältnisse aufwies. Solche Zustände in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen
waren bis weit in die 1970er Jahre hinein zweifelsohne großteils hingenommene Realität auf politischer
und gesellschaftlicher Ebene. Sie waren aber weit entfernt von seinerzeit geltenden fachlichen Standards“, so Mayrhofer.
Zu diesen menschenunwürdigen Zuständen trug auch ein ungenügender personeller und ideologischer
Bruch mit der NS-Zeit bei. Hinzu kam eine generell schlechte Ressourcenausstattung Psychiatrischer Krankenanstalten.
Die sogenannte „Rett-Klinik“ bzw. Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder war 1956 explizit als Alternative
zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Heil- und Pflegeanstalten bzw. Altersheimen
geschaffen worden. Sie ist als Vorreiter eines Wandels weg vom Prinzip der reinen Verwahrung hin zu Förderung
und Rehabilitation jener Menschen mit Behinderungen zu betrachten, die als „förderbar“ klassifiziert worden
waren. Die Abteilung war zunächst auf Pavillon XVII des Altersheimes Lainz und ab 1975 auf dem neu errichteten
Pavillon C am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel untergebracht.
Die Klinik bot ein für damalige Verhältnisse vergleichslos breites Spektrum an medizinischen und therapeutischen
Angeboten für Menschen mit Behinderungen, auch wenn in der Praxis laut Krankenakten nur der geringere Teil
der stationär untergebrachten Personen therapeutische Betreuung erhielt. Freiheitsbeschränkungen kamen
zwar regelmäßig vor, waren aber in höherem Ausmaß begründungsbedürftig. Psychopharmaka,
darunter zahlreiche sedierende Medikamente, wurden regelmäßig und umfangreich verordnet. Zudem wurde
über Jahrzehnte das Präparat Epiphysan zur Unterdrückung oder Reduktion sexueller Empfindungen bei
Menschen mit Behinderungen eingesetzt. An der „Rett-Klinik“ wurden auch zahlreiche klinische Studien durchgeführt
und diverse Psychopharmaka erstmals an Kindern getestet, vermutlich zumeist – wie damals in der Medizin üblich
– ohne Einholung einer Einwilligung der Eltern.
Die „Rett-Klinik“ war in bedeutendem Ausmaß in Sterilisierungen sowie Schwangerschaftsabbrüchen bei
Mädchen und Frauen mit Behinderungen involviert. Im Zentrum dieser Aktivitäten stand Andreas Rett, der
sich als Arzt oberste Entscheidungsautorität zusprach. Er beriet zahlreiche Eltern in seiner Ambulanz diesbezüglich,
stellte die notwendigen Indikationen und vermittelte zu Krankenanstalten weiter, die den Eingriff durchführten.
In seine Begründungen flossen u.a. eugenische Argumente und schichtspezifische Vorurteile ein. In der Konsequenz
wurde das gravierende Problem sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit Behinderungen auf die damit verbundene
„Gefahr“ ihrer Fortpflanzung reduziert. Als praktikable „Lösung“ propagierte Rett die Sterilisierung von Frauen
in besonderen „Gefährdungslagen“, so als wäre dadurch die an Mädchen und Frauen mit Behinderungen
verübte Gewalt als folgenlos zu betrachten.
Kennzeichnend für die „Rett-Klinik“ ist insgesamt eine starke Abschottung nach außen und hohe Informalität
im Inneren: So war eine nicht näher bestimmbare Anzahl an MitarbeiterInnen informell beschäftigt und
entlohnt worden. Zudem kam es mit Zustimmung Retts und Wissen des übrigen Leitungspersonals über Jahrzehnte
zu schwerwiegenden Kompetenzüberschreitungen seiner Chefsekretärin, die u.a. zentrale ärztliche
Berufspflichten wie Entscheidungen über Medikationen betrafen. Auch werden gravierende Transparenzmängel
bezüglich finanzieller Einnahmen und Ausgaben auf breiter Ebene erkennbar. Ambulanz, Station und Boltzmann-Institut
waren hierbei schwer durchschaubar verflochten.
Im Pavillon 15 am Steinhof gab es hingegen kaum ärztliches Personal, überwiegend waren meist gering qualifizierte
Pflege(hilfs)kräfte für die Versorgung und Betreuung der Kinder zuständig. Die Pflegekräfte
wurden in der Praxis oft sich selbst überlassen, sie wurden damit zugleich auch mit überfordernden Situationen
allein gelassen. Die Krankenakten und Interviews zeigen massiven Einsatz an sedierenden Medikamenten, der primär
den Zweck hatte, „störendes“ Verhalten zu regulieren und den Stationsalltag zu vereinfachen. Zudem wurden
physische Freiheitsbeschränkungen in Form von Netzbetten, Zwangsjacken und anderen körperlichen Fixierungen
in großem Maße auf Pavillon 15 eingesetzt.
Die Forschungen ließen einen umfassenden Mangel an Umweltanregungen, emotionaler Zuwendung und Lernimpulsen
erkennen, es fehlte vielfach an Möglichkeiten zu spielen und die Umwelt zu erfahren. Das Pflegepersonal sah
zumeist keinen Erziehungsauftrag bei sich und dürfte Beziehungsaufbau großteils abgewehrt haben. Die
von Willkür geprägte „Betreuungskultur“ schwankte zwischen umfassender Vernachlässigung und Gleichgültigkeit,
Gewalttätigkeit bzw. Misshandlungen und unreflektierter emotionaler Hinwendung zu einzelnen „Lieblingskindern“.
Für die untergebrachten Kinder hatte dies gravierende negative Konsequenzen für ihre gesamte bio-psycho-soziale
Entwicklung, an denen sie ihr Leben lang zu tragen hatten bzw. haben. Ab 1959 konnten wenige Kinder eine Sonderschule
auf Pavillon 15 besuchen, in deren Rahmen ihnen erstmals pädagogische Förderung zugänglich war.
Dadurch und auch durch den Ende der 1970er Jahre eingerichteten Sonderkindergarten blieb aber das Gesamtsystem
auf Pavillon 15 im Wesentlichen unverändert.
„Die beiden untersuchten Institutionen bilden gerade in ihrer Unterschiedlichkeit das Spektrum an Abwertungen,
Ausgrenzungen, Entrechtlichungen und Vernachlässigungen, aber auch vorrangig paternalistischer Hilfe ab, das
Menschen mit Behinderungen in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft widerfuhr. Die ergänzenden
rechtlichen Analysen ließen zudem erkennen, dass das Rechts- und Kontrollsystem einerseits unterentwickelt
war. Andererseits fehlte es an AkteurInnen, die bestehende Rechtsschutzmöglichkeiten im Interesse der Kinder
und Jugendlichen genutzt hätten“, so Mayrhofer. „Insgesamt führt die Studie die Wichtigkeit funktionierender
externer Kontrolle nachdrücklich vor Augen“, schloss Stadträtin Frauenberger.
Telefonhotline für Betroffene - 01/40409-60030
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