Erinnerung an die Vertreibung der Vernunft und Bildung
Wien (rh/vhs) - Am 12. März jährt sich der „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland 1938
zum 79. Mal. Die Wiener Volkshochschulen nehmen dies zum Anlass, um einen genaueren Blick auf die Opferbiografien
unter den ehemaligen MitarbeiterInnen der Wiener Volkshochschulen vorzunehmen.
„Der kritische Umgang mit Unmenschlichkeit und Brutalität in der Geschichte ist uns wichtig. Unserem Anspruch
von Wissensvermittlung werden wir nur gerecht, wenn wir derartiges nicht im Ungewissen lassen, sondern aktiv Forschungsarbeit
leisten“, so VHS- Geschäftsführer Herbert Schweiger.
Im Zuge der wissenschaftlichen Aufarbeitung wurde in den vergangenen Jahren auf Basis von Kursprogrammen und
Verlautbarungen eine Datenbank mit allen KursleiterInnen, Vortragenden und administrativ Tätigen aus den Jahren
1918 bis 1939 geschaffen. Diese Datenbank mit rund 16.000 Personennamen wird nun mit den Opfer-Datenbanken des
Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes abgeglichen. Darauf aufbauend werden in weiterer Folge
biografische Daten gesammelt. Ziel des Projektes ist es, die Grundlage für das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
im Bereich der Wiener Volkshochschulen zu schaffen.
Volkshochschule war "Schattenuniversität"
Nach einer steilen Aufwärtsentwicklung während der Monarchie erlebten die wissenschaftsorientierten
Wiener Volkshochschulen in der Ersten Republik ihre erste Hochblüte. Ausgestattet mit umfangreichen Fachbibliotheken,
naturwissenschaftlichen Labors und Leseräumen offerierten diese ersten „Volks-Universitäten“ einen offenen
Zugang zu Erkenntnissen aus allen Bereichen moderner Wissenschaft ebenso wie zu einer vertieften Auseinandersetzung
mit Kunst, Musik oder Literatur.
Die Liste der MitarbeiterInnen, Vortragenden und KursleiterInnen liest sich wie das Who is who der wissenschaftlichen,
künstlerischen, literarischen Avantgarde jener Zeit. In den Volkshochschulen vermittelten etwa Eugenie Schwarzwald
oder Erica Tietze Zugänge zu Literatur und Kunstgeschichte. Hier rezitierten Autoren wie Musil, Friedell,
Broch, Canetti, Kramer, Polgar, Salten, Csokor, Fussenegger oder Doderer aus ihren zum Teil noch unpublizierten
Werken. Hier engagierten sich Mitglieder des Wiener Kreises als Vortragende und trugen führende Ökonomen,
Historiker, Chemiker, Biologen, Juristen wie etwa Hans Kelsen oder Physiker wie Albert Einstein aus ihren Fachgebieten
vor.
Diesen international angesehenen Bildungseinrichtungen, die sich in der Ersten Republik vereinzelt zu regelrechten
„Schattenuniversitäten“ mit Seminarbetrieb entwickelten, deren offene und kreative Atmosphäre zahlreiche
jüdische Intellektuelle, WissenschafterInnen und Kunstschaffende mitgeprägt haben, wurde durch Austrofaschismus
und Nationalsozialismus jedoch ein Ende bereitet. Die nahezu lückenlose „Vertreibung der Vernunft und Bildung“,
die Vernichtung beziehungsweise Ermordung einer Vielzahl an KünstlerInnen, WissenschafterInnen, LiteratInnen
oder MusikerInnen bedeutete auch einen schweren Verlust für die freie Erwachsenenbildung.
Zwei prominente Opfer
Ein prominentes Beispiel ist die Anglistin und Theaterwissenschafterin Helene Richter. Wie ihre Schwester Elise,
mit der sie eine Wohnung im 19. Bezirk teilte, die über Jahre hinweg Treffpunkt bedeutender WissenschafterInnen
und KünstlerInnen war, engagierte sie sich aktiv in der Volksbildung. Im Wiener Volksbildungsverein, in der
Wiener Urania und im Volksheim Ottakring hielt Helene Richter zwischen 1909 und 1934 wiederholt Kurse und Vorträge,
unter anderem zu englischer Literatur und zur Interpretation klassischer Dramen. Gemeinsam mit ihrer Schwester
wurde Helene Richter in das KZ Theresienstadt deportiert, wo beide 1943 ums Leben kamen.
Ein weiteres prominentes Beispiel ist der Jurist und bedeutende sozialdemokratische Politiker Dr. Robert Danneberg,
der seit 1911 Ausschussmitglied des Wiener Volksbildungsvereins und von 1914–1928 auch Ausschussmitglied der Volkshochschule
Ottakring war. Danneberg wurde nach Gestapo-Haft am 1. April 1938 mit dem sogenannten „Prominententransport“ ins
KZ Dachau gebracht. Am 12. Dezember 1944 wurde Danneberg im KZ Auschwitz ermordet.
Über die persönlichen Schicksale vieler anderer Vortragenden und KursleiterInnen ist bis dato hingegen
so gut wie gar nichts bekannt. Mit diesem Projekt wird sowohl eine Grundlage für das Gedenken an die Opfer
des Nationalsozialismus im Bereich der Wiener Volkshochschulen geschaffen als auch die Basis für weiterführende
historische Forschungsarbeiten zu den einzelnen Schicksalen.
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