Neue Methode verbindet bildgebende Verfahren mit Berechnungsmodellen
Wien (universität) - Damit die rund zwei Meter lange DNA in einem einzigen Zellkern Platz finden kann,
muss sie sich falten. Dieser Aufwand kann nur in mehreren Etappen – von der Doppelhelix zu ganzen Chromosomen –
bewerkstelligt werden. Aus dem Faltungsprozess ergeben sich unterschiedliche dreidimensionale Strukturen des Genoms,
die miteinander interagieren und so zelluläre Prozesse beeinflussen. Erstmals gelang es ForscherInnen um Martin
Leeb von den Max F. Perutz Laboratories (MFPL) der Universität Wien und der Medizinischen Universität
Wien gemeinsam mit der Universität Cambridge, die 3D-Strukturen des Genoms von Säugetieren in einzelnen
Zellen zu klären. Die Resultate wurden in der renommierten Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht.
Jede Zelle im menschlichen Körper beinhaltet rund sechs Milliarden Basenpaare – jene Bausteine, die die Doppelhelix
der DNA bilden. Demgegenüber steht der rund 0,005-0,016 Millimeter große Zellkern. Um in den Zellkern
zu passen, muss sich die zwei Meter lange DNA um Proteinkomplexe, die sogenannten Histone, wickeln. Über weitere
komplexe Verpackungsschritte, in denen die DNA unterschiedlichste 3D-Strukturen bildet, werden schlussendlich die
Chromosomen gebildet.
Bislang beschrieben ForscherInnen die Architektur des Zellkerns durch mikroskopische Methoden einerseits und moderne
biochemische Methoden andererseits. Sie unterteilten das Genom in zwei Bereiche: A (relativ aktiv) und B (relativ
inaktiv). Auf noch kleinerer Ebene identifizierten sie "Genom-Nachbarschaften" und DNA-Schleifen. "Solche
strukturellen Elemente des Genoms im Inneren des Zellkerns ähneln einer dreidimensionalen Landkarte",
erklärt Stammzellbiologe Martin Leeb. WissenschafterInnen können so die einzelnen regulatorischen DNA-Abschnitte
und ihre Interaktionen miteinander untersuchen und Rückschlüsse auf die Aktivität von Genen, bedingt
mitunter durch ihre Lokalisation im Zellkern, ziehen.
In ihrer aktuellen Publikation beschreiben Martin Leeb, Gruppenleiter an den MFPL, und KollegInnen der Universität
Cambridge nun vollständige dreidimensionale Genomstrukturen von einzelnen, haploiden embryonalen Mausstammzellen.
Haploide Stammzellen enthalten jedes Chromosom nur in einfacher, statt in der – für die meisten Säugerzellen
normalen – doppelten Ausführung. So konnte das Team sicherstellen, dass die Interaktionen der einzelnen Abschnitte
der Chromosomen, die sie untersuchten, tatsächlich auf dem gleichen Chromosom stattfinden und nicht etwa Strukturen
mit dem Schwesterchromosom gebildet werden. "Mit den haploiden Stammzellen wollten wir ein vereinfachtes genetisches
Modellsystem erzeugen, hauptsächlich für genetische Screens. Es freut uns, dass dieses einfache System
auch bei der Klärung der Genomstruktur eine entscheidende Rolle spielt", sagt Martin Leeb, als Co-Autor
der Studie federführend in der Entwicklung der haploiden Stammzelltechnologie.
Im ersten Schritt ermöglichten moderne bildgebende Methoden die Aufnahme von einzelnen Stammzellen, danach
konnte das Team der Universität Cambridge die Genomstruktur derselben Zelle aufklären. In der Folge haben
die WissenschafterInnen die Genomstruktur im Zellkern wie eine Schablone über das Bild gelegt – eine revolutionäre
Methode. "Die Möglichkeit, hochauflösende Mikroskopie-Bilder und berechnete Genomstrukturen sozusagen
übereinanderzulegen erlaubt es nicht nur, die Genom-Modelle zu validieren, sondern auch zum Beispiel Zellstatus
und Genomstruktur gleichzeitig zu analysieren. Durch die Einzel-Zellauflösung können wir feststellen,
ob es zwischen einem bestimmten Zellverhalten und der Genomstruktur einen Zusammenhang gibt ", erklärt
Martin Leeb.
Die Stammzellidentität wird durch ein bestimmtes Set an Genen, die so genannten Pluripotenzgene, festgelegt.
Im Laufe ihres Lebens erhält die Stammzelle Signale von außen, die ihre Differenzierung in eine Zelle
eines bestimmten Typs, wie zum Beispiel Hautzellen oder Nervenzellen, vorantreiben. Dieser sehr komplexe Differenzierungsprozess
wird, neben Änderungen im Netzwerk der Pluripotenzgene, mitunter auch durch massive Änderungen der dreidimensionalen
Struktur des Genoms reguliert. Die Strukturen der 3D-Landkarte der Stammzelle werden also sprichwörtlich umgebaut,
um sie für ihr zukünftiges Zellschicksal vorzubereiten.
"Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Veränderung von Genomstrukturen in dynamischen Systemen wie
der Stammzelldifferenzierung auf Einzelzellniveau zu untersuchen", so Martin Leeb. Dies könnte zu einem
besseren Verständnis der molekularen Prozesse beitragen, die die koordinierte und exakte Regulation von Differenzierungsprozessen
in Stammzellen steuern.
Publikation in "Nature": Tim
J. Stevens, David Lando, Srinjan Basu, Liam P. Atkinson, Yang Cao, Steven F. Lee, Martin Leeb, Kai J. Wohlfahrt,
Wayne Boucher, Aoife O’Shaughnessy-Kirwan, Julie Cramard, Andre J. Faure, Meryem Ralser, Enrique Blanco, Lluis
Morey, Miriam Sansó, Matthieu G. S. Palayret, Ben Lehner, Luciano Di Croce, Anton Wutz, Brian Hendrich,
Dave Klenerman and Ernest D. Laue. 3D structure of individual mammalian genomes studied by single cell Hi-C. Nature,
DOI: 10.1038/nature21429
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