Die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit auf dem Prüfstand – Prominentes Podium beim 10.
ÖGB/ÖGfE-Europadialog im Wiener Haus der EU
Wien (ögb) - „Die Frage lautet nicht, ob wir ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ Europa brauchen. Wir müssen
uns fragen, was wir für ein Europa brauchen. Alles hängt davon ab, ob es endlich zu dem Politikwechsel
kommen wird, den die europäische Gewerkschaftsbewegung und die Arbeiterkammern fordern“, sagte ÖGB-Präsident
Erich Foglar am 25.04. in seiner Keynote beim ÖGB-ÖGfE-Europadialog am Dienstagabend im Haus der EU in
Wien.
„Wenn es die europäische Integration und die EU nicht schon gäbe, müssten wir sie erfinden. So aber
müssen wir sie neu erfinden. Wenn sich die europäische Politik nicht neu ausrichtet, wird die EU scheitern.
Die EU muss endlich die lange angekündigte Soziale Säule aufstellen“, so Foglar. ÖGB, AK und ÖGB
haben sich mit ihren Vorschlägen eingebracht, unterstützt von 16.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
– hier nachzulesen >
ÖGB-Foglar: Soziale Spaltung gefährdet EU
„Auch die ArbeitnehmerInnen müssen etwas vom Aufschwung haben!“, konkretisierte Foglar seine Forderung nach
einem Politikwechsel. Die Wirtschaft in Österreich sei seit dem EU-Beitritt deutlich schneller gewachsen als
in anderen Ländern, aber davon würden nur wenige profitieren. „Während sich in den vergangenen zwei
Jahrzehnten das erwirtschaftete Volkseinkommen verdoppelt hat, stiegen die Gewinne und Vermögenserträge
um mehr als 130 Prozent, die Löhne mit 86 Prozent aber nur unterdurchschnittlich – und die Arbeitslosigkeit
ist gestiegen“, sagte Foglar.
Foglar: „Wenn wir verhindern wollen, dass die EU auseinanderbricht, müssen wir die soziale Spaltung Europas
stoppen.“ Der EU-Vertrag sieht vor, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den einzelnen EU-Ländern angeglichen
werden. „Doch die Realität sieht anders aus. Seit 2008 nimmt die Ungleichheit wieder zu.“ In Österreich
erhalten NiedrigstverdienerInnen (unterstes Zehntel) noch immer mehr als HöchstverdienerInnen (oberstes Zehntel)
in Ungarn – ganz zu schweigen von Bulgarien und Rumänien. „Ein Binnenmarkt mit Freizügigkeit am Arbeitsmarkt
kann auf Dauer nicht funktionieren, wenn sich Löhne und Sozialstandards nicht annähern, sondern die Unterschiede
sogar noch zunehmen.“
Freizügigkeit darf nicht missbraucht werden
Eine der wichtigsten Maßnahmen, um diesen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken wäre, laut Foglar, das
Gesetz gegen Lohn-und Sozialdumping. „Aber wenn es darum geht, dieses Gesetz auch zu vollziehen, dann stehen wir
plötzlich vor genau diesen Grenzen, gegen die die EU-Kommission sonst massiv kämpft“. Foglar stellt außerdem
klar: „Es geht nicht um die Einschränkung der Freizügigkeit, es geht um die Einschränkung von Missbrauch!
Steuerdumping, Scheinentsendungen, Niedriglöhne oder falsche Papiere dürfen kein Teil der Freizügigkeit
sein, sonst wird das europäische Projekt scheitern.“
Minister Schmit (Luxemburg): Brauchen Europa der Bürgerinnen und Bürger
Nicolas Schmit, Luxemburgischer Minister für Arbeit und Beschäftigung sowie Sozial- und Solidarwirtschaft
gibt offen zu, dass „Luxemburg als kleines Land den Zustand der EU beängstigend findet. Wir brauchen ein von
den Bürgern getragenes Europa. Und wir brauchen mehr Optimismus. Derzeit herrscht Alarmstufe Rot in der EU,
die ArbeitnehmerInnen sowie die Klein- und Mittelbetriebe sind stark von Lohn- und Sozialdumping betroffen, und
dadurch stehen die Bürgerinnen und Bürger der EU nicht mehr positiv gegenüber.“ Auf die Rolle Luxemburgs
als Steueroase angesprochen, betont Schmit: „Von dieser Steuerpolitik haben wir uns verabschiedet.“
Botschafter Sechter (Tschechien): Selbstbewusstsein und Ängste
Jan Sechter, Botschafter der Tschechischen Republik in Wien, sieht die Freizügigkeit sehr positiv: „Wir haben
in Tschechien die niedrigste Arbeitslosenrate, ein robustes Wirtschaftswachstum und damit steigt auch das Selbstbewusstsein.
Darum sind wir lautstarke Befürworter der Marktfreiheiten, die ja die Grundprinzipien der EU darstellen. In
Tschechien wird befürchtet, dass wegen einzelner Briefkastenfirmen gleich alle Freizügigkeiten abgeschmettert
werden, und natürlich fragen sich die tschechischen Gewerkschaften, welche Folgen das für ihre ArbeitnehmerInnen
hätte, wenn die Freizügigkeit eingeschränkt würde.“
GD Servoz (Europäische Kommission): Die Kluft wird größer
Michel Servoz, Generaldirektor GD Beschäftigung, Europäische Kommission, gibt zu bedenken: „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit
ist integraler Bestandteil des Binnenmarktes, wenn sie eingeschränkt wird, wird der Binnenmarkt eingeschränkt.
Natürlich muss man bei den Gesetzen nachschärfen und gegen Lohn-und Sozialdumping rigoros vorgehen. Aber
wir stehen zur Entsenderichtlinie, allerdings unter fairen Bedingungen.“ Auch Servoz stellte fest, dass die „Kluft
zwischen der EU und ihren Bürgern größer wird. Viele EU-Bürger haben das Gefühl, dass
die EU nicht für die Menschen da ist, sondern für die Banken.“
Minister Stöger: Giftiger Neoliberalismus
Alois Stöger, Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, bringt diesen inneren Konflikt
der EU mit dem Statement „Das größte Problem der EU ist, dass ihre Politik durch neoliberale Ideen vergiftet
wird“ auf den Punkt. Stöger bekennt sich zu den Grundfreiheiten wie zur Freizügigkeit und plädiert
genau deshalb für den Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort“. „Wir wollen die Freizügigkeiten
schützen, aber das kann nicht bedeuten, dass Banken und Unternehmern alle Freiheiten genießen, und die
ArbeitnehmerInnen müssen darunter leiden. Darum haben wir in Österreich das Anti-Lohn-und-Sozialdumping-Gesetz
beschlossen. Es muss auch klar sein, dass wenn es in Österreich eine Ausschreibung gibt, dann das österreichische
Arbeitsrecht die Grundlage sein muss und nicht das Arbeitsrecht in Bulgarien – diesen Fragen müssen wir uns
stellen, hier braucht es von der Kommission Antworten, die auch funktionieren und eine grundsätzlich andere
Geisteshaltung.“
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