Gemeinsam als Gesellschaft aufeinander aufpassen und Verantwortung übernehmen – Die NR-Präsidentin
ruft dazu auf, für soziale Sicherheit, Chancengerechtigkeit und Stabilität zu sorgen
Wien (pk) - "Wer Angst hat, ruft nach dem starken Mann. Wer hingegen Freude hat, Mut und Hoffnung,
ist selber stark". Mit diesen mahnenden Worten spannte Nationalrats- präsidentin Doris Bures am 05.05.
in ihrer Rede anlässlich des Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
einen zeitgeschichtlichen Bogen zur gemeinsamen Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft.
"Der Holocaust hat nicht in den Konzentrationslagern begonnen. Dort hat er geendet. Begonnen hat er hier,
da draußen. Bei uns, auch in Wien", sagte Bures und blickte mit Sorge auf jüngste Entwicklungen,
wonach die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Österreich sowie die Zahl der Anklagen nach dem Verbotsgesetz
und wegen Verhetzung steigt. "Antisemitismus, Rechtsextremismus, Rassismus: Sie zeigen sich mit altbekannten,
und mit neuen Gesichtern. Wir werden weder die alten noch die neuen Gesichter dulden. Wir werden gegen sie ankämpfen.
Auch das schulden wir unserer Zukunft", so die Nationalratspräsidentin.
Auch sei die Gegenwart wieder zunehmend geprägt von Ängsten - Angst vor dem Fremden, Angst vor dem Terror,
Angst um den Arbeitsplatz, Angst vor Armut im Alter, Angst um die Zukunft der Kinder, merkte Bures warnend an.
In Anlehnung an ein Zitat von Ilse Aichinger stellte sie die Frage in den Raum, wie man die Freude mit herüber
in "diese Zeit der Ängste" nehmen könne, was man gegen die "deutliche Bedrohung"
machen könne und folgerte: "Was es braucht, ist Sicherheit. Nicht allein die Sicherheit durch Überwachungskameras
und Blaulichter. Auch die soziale Sicherheit. Das Miteinander. Das aufeinander Aufpassen". Dazu gehöre
auch das einander Zuhören, das miteinander Reden – und vor allem, dass man das auch meint und tut.
"Wir müssen für soziale Sicherheit, Chancengerechtigkeit und Stabilität sorgen und damit das
Fundament für Optimismus und Zuversicht schaffen. Wenn wir es nämlich nicht schaffen, die Verantwortung
und die Freude in diese Zeit hinüber zu nehmen, wie das Ilse Aichinger so wundervoll formuliert hat, dann
riskieren wir alles", so der Appell von Nationalratspräsidentin Bures.
Die Rede der Nationalratspräsidentin im Wortlaut - es gilt das gesprochene Wort
Gertrude Schneider und Walter Arlen. Sie beide wären heute wohl nicht hier, wenn nicht andere für
Sie da gewesen wären. Wenn nicht andere auf Sie aufgepasst hätten.
Gertrude Schneider wäre wahrscheinlich nicht mehr am Leben, wenn ihre Mutter sie nicht gerettet hätte.
Sie sollte als junges Mädchen allein im KZ Stutthof bleiben – während ihre Mutter und ihre Schwester
als Zwangsarbeiterinnen in ein Außenlager gebracht wurden. Alleine hätte sie kaum überlebt. Ihrer
Mutter ist es gelungen, sie zu sich zu holen – mit viel Mut, und mit der Notlüge, Gertrude sei eine gelernte
Dachdeckerin. Zu dritt haben sie überlebt. Den Vater haben sie nie wieder gesehen. Er ist in Buchenwald gestorben,
kurz vor der Befreiung.
Walter Arlen wäre wahrscheinlich nicht mehr am Leben, wenn seine Verwandten ihn nicht zu sich in die USA geholt
hätten. Noch in der Nacht des sogenannten "Anschlusses" hat die SA mit den Gewehrkolben an die Wohnungstür
gehämmert. Walter Arlen haben sie geschlagen, Geld und Habseligkeiten geraubt, den Vater verhaftet. Walter
Arlen hat überlebt, weil seine Verwandten in den USA finanziell für ihn gebürgt haben und er nach
Chicago fliehen konnte. Walter Arlen war einsam, ohne seine Liebsten auf einem anderen Kontinent. Aber er hat überlebt.
Niemand hat den Holocaust "einfach so" überlebt. Den bürokratisierten Massenmord, der keine
Vergleiche duldet, der selbst Archetyp des Genozides geworden ist. Überlebt haben den Holocaust nur jene,
die viel, sehr viel Glück hatten. Und Menschen hatten, die auf sie aufgepasst haben. Wir müssen auch
aufpassen.
Wir gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, weil wir wissen: Wir müssen aufpassen, dass so etwas nie wieder
passiert. Das ist unsere Verantwortung aus der Geschichte, das schulden wir unserer Zukunft.
Seit fast zwei Jahrzehnten gedenken wir am 5. Mai der Opfer des Nationalsozialismus; der Opfer von Gewalt und Rassismus.
In dieser Zeit hat sich vieles verändert. Manches zum Guten, aber nicht alles: Die Zahl antisemitischer Vorfälle
steigt in Österreich. Die Zahl der Anklagen nach dem Verbotsgesetz und wegen Verhetzung steigt. Mehr als 1.300
rechtsextreme Delikte im Vorjahr. Das sind doppelt so viele wie 2014. Antisemitismus, Rechtsextremismus, Rassismus:
Sie zeigen sich mit altbekannten, und mit neuen Gesichtern. Wir werden weder die alten noch die neuen Gesichter
dulden. Wir werden gegen sie ankämpfen. Auch das schulden wir unserer Zukunft.
Die Gegenwart ist zunehmend geprägt von Ängsten. Angst vor dem Fremden, Angst vor dem Terror. Angst um
den Arbeitsplatz, Angst vor Armut im Alter. Angst um die Zukunft der Kinder.
Ilse Aichinger hat in ihrer "Rede an die Jugend" gefragt: "Wie kann es uns gelingen, die Freude
in diese Zeit herüber zu nehmen, in diese Zeit deutlicher Bedrohung, stetig wiederkehrender Ängste?"
Also, wie nehmen wir die Freude mit herüber in "diese Zeit" der Ängste? Was machen wir gegen
die "deutliche Bedrohung"? Was es braucht, ist Sicherheit.
Nicht allein die Sicherheit durch Überwachungskameras und Blaulichter. Auch die soziale Sicherheit. Das Miteinander.
Das aufeinander Aufpassen. Dazu gehört auch das einander Zuhören, das miteinander Reden.
In ihrer "Rede an die Jugend" hat Ilse Aichinger aber auch gesagt: "Sätze sind nur wichtig,
wenn sie zugleich Taten sind."
Es reicht also nicht, wenn wir nur zuhören und nur reden. Wir müssen es meinen und tun. Wir müssen
Gemeinsam – als Gesellschaft – aufeinander aufpassen und Verantwortung übernehmen. Wir müssen für
soziale Sicherheit, Chancengerechtigkeit und Stabilität sorgen und damit das Fundament für Optimismus
und Zuversicht schaffen. Wenn wir es nämlich nicht schaffen, die Verantwortung und die Freude in diese Zeit
hinüber zu nehmen, wie das Ilse Aichinger so wundervoll formuliert hat, dann riskieren wir alles.
Wer Angst hat, ruft nach dem starken Mann. Wer hingegen Freude hat, Mut und Hoffnung, ist selbst stark.
Meine sehr geehrten Damen und Herren.
Der Holocaust hat nicht in den Konzentrationslagern begonnen. Dort hat er geendet. Begonnen hat er hier, da draußen.
Bei uns, auch in Wien, wo Gertrude Schneider und Walter Arlen aufgewachsen sind.
Walter Arlen ist in den USA ein Komponist und Musikkritiker geworden. Aber die Vertreibung und die Einsamkeit in
den Jahren ohne seine Familie legen einen Schatten über seine Biografie. In einem Interview hat er einmal
gesagt: "Meine Musik ist im Grunde traurig. Ich bin ein richtiger Exilkomponist."
Gertrude Schneider ist in den USA Historikerin geworden und sieht den Holocaust so klar wie nur wenige. Aus zwei
Perspektiven nämlich: Aus der des jungen Mädchens, das nur mit einem Tagebuch und der alten Schultasche
im Ghetto ankommt und dem Morden der Nazis zusehen muss. Und aus der Perspektive der Historikerin, die das Ghetto
analysiert, das sie selbst überlebt hat und die Geschichte seziert, die sie selbst erlebt hat.
Zwei Lieder von Walter Arlen haben wir bereits gehört, ein weiteres und die Rede von Gertrude Schneider werden
wir gleich hören. Was die beiden, außer ihrer alten Heimat hier in Wien und ihrer neuen Heimat Amerika
noch vereint: Sie beide haben ihre Bücher und ihr Lebenswerk schon vorab der Stadt Wien und einer Stiftung
vererbt.
Gertrude Schneider sagt dazu: "Meine Bücher werden weiter sprechen, wenn die letzten Zeugen schweigen."
Ich danke Ihnen, denn das zeigt, dass Sie beide weiter, für immer, auf uns aufpassen wollen.
|