Where Are We Now? – Rückblicke, Ahnungen
& Aufbrüche ins Unbekannte – Von 22.09. bis 15.10.2017
Graz (steirischer herbst) - Der steirische herbst findet 2017 zum 50. Mal statt. Diesen Anlass greift das
Festival auf, um grund-sätzliche Fragen zur Selbstverortung von Kunst und Gesellschaft zu stellen: Wo stehen
wir eigentlich? Was hat zu dieser Gegenwart geführt? Und mit welchen Mitteln wollen wir unseren Platz in der
Welt und die Wege, die wir zukünftig einschlagen, überhaupt bestimmen? Oder: „Where Are We Now?“
Das „Wir“ der gegenwärtigen westlichen Welt verortet sich für gewöhnlich anhand von Parametern wie
Fortschritt und Mehrwert, die mittlerweile so verinnerlicht sind, dass sie wie natürliche Instinkte erscheinen.
Das hat populistischen Hassrednern in die Hände gespielt, die Menschen mit dem Versprechen hinter sich vereinen,
ihnen den dauerhaften Sieg im erbarmungslosen Wettbewerb zu sichern. Wo aber sind alternative Weltentwürfe,
die fähig wären, Menschen zu begeistern und zu vereinen?
Wie könnte ein anderes Referenzsystem aussehen? Welche Werte sind in ihm zentral? Welche Begriffe braucht
es, welche Sinne, welche Art von Denken, welche Räume und Zustände? In seiner 50. Ausgabe stellt der
steirische herbst die andere Welt nicht bereits als Entwurf in den Raum, sondern erprobt unterschiedliche Setzungen,
in denen diese zu denken und zu entwerfen wäre. Abenteuerlustig setzen wir uns verschiedensten Entwürfen
und dem noch Unformulierten aus. Denn wir haben Sehnsucht nach der Zukunft – aber nach einer, die wirklich anders
ist.
Zur Eröffnung experimentiert die gefeierte Choreografin Mette Ingvartsen mit sinnlichen, erotischen und sozialen
Körpersprachen. In „to come (extended)“ hüllt sie 15 Tänzerinnen und Tänzer in blaue Ganzkörperanzüge
und setzt damit der gegenwärtigen Bilderflut aus nackter Haut und expliziter Erotik ein abstraktes Bild entgegen.
Lust- und freudvolle Situationen werden ausgedehnt, bis sie in einem gemeinsamen Fest kulminieren. Eine Choreografie,
die gleichzeitig fesselt und stimuliert.
Zahlreich sind die Formen der Auseinandersetzung mit der Geschichte des steirischen herbst: Eine Sonderausstellung
im GrazMuseum erzählt, wie sich das Festival seit seiner Gründung 1968 zu einer Plattform für zeitgenössische
Kunst mit internationaler Strahlkraft entwickelte. Die Ausstellung betrachtet die gesellschaftspolitische Funktion
des steirischen herbst und seines Programms vor dem Hintergrund der jeweiligen Entstehungszeit und befragt das
sich stets frei in Stadt und Region bewegende Festival nach seinen Spuren im öffentlichen Raum und seinem
Nachhall in Kunst, Kultur und Bevölkerung.
Eine Gesprächsreihe wird die „Geschichten eines Zeiterkundungsfestivals“ beleuchten. Intendantinnen, Programmmacher
und Wegbegleiter erinnern sich an aufsehenerregende Projekte, stille Provokationen und wegweisende Entscheidungen.
Der Audiowalk „50 Jahre, 5 Knotenpunkte“ lässt Sie die Stadt der Avantgardekunst neu erleben und auch über
die Festival-App „herbst-Fragmente“ erzählen diverse Akteure von ihrem Festival. Weiters laden wir Sie ein,
selbst zu stöbern: bei Führungen durch das Festivalarchiv, online in einer umfassenden Datenbank oder
in zwei Publikationen. Das „herbstbuch 1968-2017“ lässt die Geschichte des steirischen herbst Revue passieren
– ausschnitthaft, subjektiv und ohne nostalgische Schönfärberei. Und nachdem im Jubiläumsjahr unser
Interesse mehr denn je den aktuellen Standortbestimmungen gilt, versammelt „Where Are We Now?“ Beiträge von
50 Kunst- und Theorieschaffenden, deren Arbeiten das Festival im vergangenen Jahrzehnt geprägt haben.
Die erste thematische Ausgabe der Dreiländerbiennale trigon ’67 unter dem Titel „ambiente / environment“
war Initialzündung für die Gründung des steirischen herbst im Jahr 1968. Gleich mehrfach werden
diese Schau und ihre Zeit in Augenschein genommen und ins Heute überführt. Im Künstlerhaus – Halle
für Kunst und Medien antworten 15 Künstlerinnen und Künstler auf das historische Projekt und präsentieren
Installationen und raumgreifende Auseinandersetzungen am Originalschauplatz: „trigon 67/17 – ambiente nuovo / post
environment“. Das Haus der Architektur knüpft ebenfalls an die historische Schau an und untersucht über
die Arbeit dreier Kollektive aus dem Trigonraum die Rolle von Architektur als Katalysator der Beziehung zwischen
Mensch und Umwelt. Mit „Auf ins Ungewisse“ und „Graz Architektur“ blickt auch das Kunsthaus Graz zurück, um
aus heutiger Sicht zu kommentieren – es rekapituliert die eigene Geschichte und die der Grazer Architekturszene
seit den 60er Jahren.
Die Rückschau, das Spurenlesen der Vergangenheit ist aber nur spannend, wenn aus dieser Re-Flexion im Sinne
eines Zurückbeugens eine Choreografie entsteht, die künstlerisch tanzend nach vorne, hin zum Zukünftigen,
zum Unbekannten drängt. Und so bleibt der steirische herbst auch in seinem 50. Jahr vor allem an der Zukunft
orientiert. In verschiedensten künstlerischen Setzungen wird gefragt, wie denn diese Welt anders zu denken
und zu entwerfen wäre – so etwa die jungen österreichischen Performer Simon Mayer und Florentina Holzinger.
Beide zeigen im steirischen herbst 2017 neue Arbeiten: Menschen und Roboter, Licht, Sound und Kostüm sind
die Akteure in Mayers kraftvollem wie poetischem Abend „Oh Magic“, während Florentina Holzinger in „Apollon
Musagète“ mit virtuoser Körperlichkeit einen frischen Blick auf die Genres Zirkusvarieté und
neoklassisches Ballett wirft.
Das Grazer Theater im Bahnhof trifft auf die schwedische Regisseurin Gunilla Heilborn – gemeinsam begeben sie sich
auf die Suche nach verschiedenen Formen des Erinnerns: „The Wonderful and the Ordinary“. Ein weiteres Projekt,
das wir im Schauspielhaus Graz zeigen, kommt von der kapverdischen Choreografin Marlene Monteiro Freitas – „Bacchae
– Prelude to a Purge“, mit der filmischen Installation „Zvizdal“ meldet sich die belgische Gruppe Berlin aus dem
Umland von Tschernobyl zurück, und wir freuen uns auf eine Uraufführung des chinesischen Multitalents
Tianzhuo Chen, der in „An Atypical Brain Damage“ zu einer globalen Momentaufnahme zwischen Kitsch und Apokalypse
lädt. Die slowenische EnKnapGroup schließlich begibt sich mit dem Nature Theater of Oklahoma auf eine
todesmutige Glückssuche, die in einen amerikanischen Traum zwischen Bagdad und dem Wilden Westen führt:
„Pursuit of Happiness“.
Das Nature Theater of Oklahoma wagt heuer außerdem das Unmögliche: Die Literaturnobelpreis-trägerin
Elfriede Jelinek hat ihr, in ihren eigenen Worten, wichtigstes Werk freigegeben für eine filmisch-performative
Inszenierung durch das amerikanische Performance-Kollektiv. „Die Kinder der Toten“ – ein „Gespensterroman“, über
666 unheimliche Seiten gehende, phasenweise hochkomische, dann wieder beklemmende sprachliche und geschichtskritische
Herausforderung. Nach zweijähriger Vorbereitungszeit mündet die Auseinandersetzung mit diesem Koloss
an Sprache heuer in eines der bislang größten Projekte des Festivals: „Die Kinder der Toten“ wird vielstimmig
und multimedial an seinen Ursprung zurückgeführt – nach Neuberg an der Mürz zwischen Mürzzuschlag
und Mariazell.
An den Originalschauplätzen werden Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma öffentliche
Dreharbeiten zu einer freien filmischen Adaption des Romans inszenieren. Zusätzlich entsteht ein Basislager
mit zahlreichen Begleitveranstaltungen – hier werden Mitwirkende auf die Drehs vorbereitet; hier stürzen wir
uns in eine 144-stündige Dauerlesung von „Die Kinder der Toten“; hier starten geführte Touren zu den
Schauplätzen des Romans und befeuert das „Cinema 666“ sein Publikum. Zu zwei exklusiven Filmscreenings mit
Live-Musik lädt der Organist und Komponist Wolfgang Mitterer ins kunsthaus muerz – er wird mit einer musikalischen
Improvisation „Carnival of Souls“, einen der Lieblingsfilme von Elfriede Jelinek, vertonen. Begleitet wird die
Großproduktion auch von zwei Setzungen bildender Künstler: Das Institut für Kunst im öffentlichen
Raum hat Marko Lulic eingeladen, direkt beim Basislager ein weithin sichtbares Zeichen zu setzen, und der georgische
Künstler Vajiko Chachkhiani kreiert im Auftrag des steirischen herbst in einem verlassenen Haus in Krampen
bei Neuberg eine Bühne stiller Dramen: „Guests arrived, none of us could see them“.
Im Palais Attems hat der steirische herbst seine Büros, von hier aus wird das Festival seit 1985 konzipiert,
geplant und geleitet. 2017 laden wir das Publikum „zu uns nach Hause“ ein und öffnen das barocke Palais als
Festivalzentrum. Zwischen Palais und Mursteg baut die Grazer Architektengruppe Studio Magic ihre raumgreifende
Installation „Transegrity“ auf. Der Innenhof wird mit einer temporären Überdachung des Architekten Thomas
Herzig zum zentralen Veranstaltungsort. Hier erleben Sie mit uns Performances und Installationen – ein „Biodesign
Lab“ von Yoko Shimizu, den sinnlichen Salon „An Occasion“ der Choreografin Isabel Lewis oder „The Grain Show“ von
Augustin Rebetez und Louis Jucker. Mit „roboexotica“ wird einen Nachmittag lang die fröhliche Koexistenz von
Mensch und Maschine zelebriert und die Kollektive Tortuga und Risograd lehren uns, Träume zu drucken.
Weitere Performances im Festivalzentrum kommen von J&J („Tender Provocations of Hope and Fear“), von der Choreografin
Begüm Erciyas („Voicing Pieces“) und dem südkoreanischen Künstler Jaha Koo („Cuckoo“). Zur performativen
Tauschbörse „Social Muscle Club“ laden Laia Fabre und Thomas Kasebacher, während ein großer Poet
der kleinen Dinge ebenfalls zurückkehrt – Benjamin Verdonck präsentiert drei Tischtheater, die sich in
berührender Einfachheit an große Fragen heranwagen: „One more thing / Gille learns to read / Song for
Gigi“. Am dritten Festivalwochenende eröffnet hier eine Philosophierkantine – im geselligen Rahmen werden
Performances und Vorträge serviert, die das Leitmotiv für die Diskussion öffnen: vom ozeanischen
Denken über alternative Logiken des In-der-Welt-Seins bis zu einem dekolonialen Blick auf ein eurozentrisches
„Wir“. Der in Beirut geborene Künstler Walid Raad lädt in die Prunkräume des Palais Attems. In einer
Ausstellung, sowie persönlich in mehreren Walkthroughs, präsentiert er seinen weltumspannenden Arbeitszyklus
über islamische Kunst, den Ersten Weltkrieg und die neuen Infrastrukturen für Kunst in der arabischen
Welt: „Kicking the Dead“.
Die diesjährige herbst-Ausstellung „Prometheus Unbound“ ist in der Neuen Galerie angesiedelt. Prometheus gilt
seit der Antike als Urheber der Zivilisation mit ihrer beständigen Suche nach wissenschaftlichen, politischen
und geistigen Innovationen. In der von Luigi Fassi kuratierten Schau reflektieren Künstlerinnen und Künstler
sowohl über diesen „Kulturbringer“ als auch über unser eurozentrisches Denken. Die Frage nach dem „Where
Are We Now?“ veranlasst auch einige Ausstellungspartner zur Bestandsaufahme: Camera Austria öffnet ihr Archiv
für eine Interpretation durch die Künstlerin Özlem Altin („Processing“) und auch < rotor >
nimmt einen Rückblick und gleichzeitiges „scharfstellen“ nach 18 Jahren Kunst- und Kulturarbeit vor. Mit der
Ausstellung „Spiro. Spero“ und einem internationalen Literatursymposium sucht das KULTUM Graz nach Wegen, das widerständige
Potenzial von Hoffnung zu aktivieren, während sich Concha Jerez im esc medien kunst labor auf die Suche nach
Paradiesen begibt. Mit „The Seed Eaters“ kreiert Emily Mast im Grazer Kunstverein eine Performance in einem Bühnenbild,
das zugleich eine Ausstellung ist. The smallest gallery – collaboration space wird zum Social Media Screen – Alicia
Pawelczak überträgt dort ihre Instagram-Posts ins Schaufenster und damit in den öffentlichen Raum
– und der Grazer Künstler Niki Passath wiederum schafft mit „Workshop“ in der Kunsthalle Graz soziale Situationen
zwischen Mensch und Maschine mit offenem Ausgang.
Noch einmal zurück in das Festivalzentrum: Die Soundtracks sind zurück und halten ebenfalls hier Einzug.
Der Bogen an Live-Acts spannt sich von der südafrikanischen Kultrapperin Dope Saint Jude, dem Pianisten Hauschka,
der Paradise Bangkok Molam International Band, der schottischen Komponistin Anna Meredith bis zur Supergroup Cologne
Tape und der betörenden Karma She aus Israel. Die Musikerin Dorit Chrysler wird nicht nur mit einem Solo-Konzert
präsent sein, sondern mehreren Theremin-Workshops folgend mit Grazer Jugendlichen ihre Komposition „Invisible
Flames“ aufführen.
Auch das musikprotokoll wird 50. Um Geburtstag zu feiern, wagt es einen augenzwinkernden Rückschritt: Das
RSO Wien spielt im Congress Graz zum „Ball“ auf: „Tanzmusik für Fortgeschrittene“. Unter dem Titel. „Diebe,
Träumer, Tänzer“ bleibt die Plattform für Neue Musik aber auch heuer fest in der Gegenwart verankert:
Die großangelegte Präsentation einer Komposition von Peter Jakober eröffnet einen Reigen an Ur-
und Erstaufführungen. Mit dabei sind unter anderem das Ensemble PHACE und Studio Dan, das Quatuor Diotima
und der Ausnahmekontrabassist Barry Guy. Gezeigt wird auch „Homages“, eine raffinierte Klangausstellung, die im
Frühjahr im Kulturforum New York zu erleben war.
Für die Randnotizen 2017 wurden wiederum vier Autorinnen und Autoren eingeladen, um ein sehr subjektives Tagebuch
zu führen. Neben der schwedischen Theatermacherin Gunilla Heilborn, dem Künstler, Autor und Performer
Matthias Schamp und der jungen Autorin Marie Gamillscheg ist diesmal auch die Intendantin Veronica Kaup-Hasler
eingeladen, ihren letzten steirischen herbst mit persönlichen Ein- und Ausblicken zu begleiten.
Dieser herbst ist nämlich auch in dieser Hinsicht ein besonderer: Es ist der 12. und letzte unter der Intendanz
von Veronica Kaup-Hasler. Das Festival ist in dieser Zeit weiter aufgeblüht – hunderte Künstlerinnen
und Künstler haben mitgewirkt und zigtausende Menschen wurden erreicht. Dabei ging es nicht nur darum, relevante
zeitgenössische Produktionen zu schaffen, sondern immer und von Anfang an auch darum, das Publikum mitzudenken,
Teilhabe zu ermöglichen. Die grundsätzliche Haltung und Überzeugung dahinter: Zeitgenössische
Kunst ist eine Notwendigkeit für eine Zivilgesellschaft, die sich nicht nur Expertenzirkeln erschließen
darf. Zeitgenössische Kunst muss – jenseits des Verhandelten – die Betrachtenden, das Vis-à-vis, die
Gesellschaft im Blick haben: Sie muss sich Gedanken machen, wie wir einander erreichen und – in vielerlei Hinsicht
– treffen.
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