Stockholm/Hamburg/Innsbruck (universität) -Bei minus 150 Grad Celsius flüssiges Wasser beobachten,
das beherrschen Chemiker der Universität Innsbruck. Nun haben sie gemeinsam mit Forschern in Schweden und
Deutschland experimentell nachgewiesen, dass zwei unterschiedliche Formen von Wasser existieren, die sich in Struktur
und Dichte stark unterscheiden.
Die Wissenschaft sucht seit langem nach dem Grund, warum ausgerechnet Wasser das Molekül des Lebens ist. Mit
ausgefeilten Techniken gelingt es Forschern am Institut für Physikalische Chemie der Universität Innsbruck
Wasser bei Temperaturen von rund minus 150 Grad Celsius in zähflüssigem Zustand zu beobachten und dessen
Eigenschaften zu untersuchen. Bereits vor vier Jahren hat das Team um Thomas Lörting Hinweise gefunden, dass
stark unterkühltes Wasser aus zwei unterschiedlich dichten Formen existiert. „In unserem Experiment zeigte
sich damals, dass es abhängig vom Umgebungsdruck zwei unterschiedliche flüssige Formen von Wasser gibt,
eine mit niedriger Dichte und eine hochdichte Form.“ Dieser Befund ist überaus erstaunlich, könnte er
doch bedeuten, dass auch ganz normales Leitungswasser aus zwei Flüssigkeiten besteht. Untersucht werden kann
das Phänomen freilich nur unter extremen Bedingungen, weil die beiden Flüssigkeiten bei sehr tiefen Temperaturen
getrennt voneinander existieren.
Wassermoleküle in Bewegung
Nun hat das Team um Thomas Lörting gemeinsam mit Forschern der Universität Stockholm am deutschen
Großforschungszentrum DESY in Hamburg stark unterkühltes Wasser mit Hilfe eines stark gebündelten
Röntgenstrahls untersucht. Mit Kleinwinkel-Röntgenstreuung lässt sich nämlich die Bewegung
von Molekülen in einer Probe bestimmen. „Wir wollten in diesem Experiment sehen, ob die Moleküle wie
in Festkörpern an Ort und Stelle gebunden sind, oder ob sie sich wie in einer Flüssigkeit im Raum umherbewegen“,
erzählt Thomas Lörting. Die an der Universität Innsbruck erzeugten Proben aus amorphem Eis - also
nicht kristallisiertem Eis - wurden am DESY mit Röntgenstrahlen beschossen und so die Bewegung der Wassermoleküle
abhängig von der Temperatur bestimmt. Dabei zeigte sich, dass ab circa minus 160 Grad Celsius die Bewegung
der Moleküle stark zunimmt. „Aus der Analyse der Daten konnten wir als Bewegungsraum eines Moleküls 50
Nanoquadratmeter pro Sekunde bestimmten, was für ein Molekül eine sehr große Fläche ist“,
betont Lörting. Auch nach dem Übergang von hochdichtem in niedrigdichtes Wasser bei circa minus 137 Grad
Celsius bewegen sich die Moleküle, allerdings nicht mehr ganz so schnell. Diese Dynamik zeigt, dass die zwei
Phasen tatsächlich flüssig sind. „Es ist wie ein wahrgewordener Traum beobachten zu können, wie
sich Wasser von einem glasartigen Zustand in eine viskose Flüssigkeit und dann fast sofort in eine weitere,
noch zähflüssigere Substanz von sehr viel niedrigerer Dichte verwandelt“, freut sich Katrin Amann-Winkel,
ehemaliges Mitglied der Arbeitsgruppe von Thomas Lörting in Innsbruck und nun Forscherin an der Universität
Stockholm.
Neue Form der Chemie möglich
In Zukunft wollen die Innsbrucker Wissenschaftler ein Experiment bauen, in dem sie beliebig zwischen den beiden
Zuständen hin- und herspringen können. „Dazu müssen wir das System in einen Gleichgewichtszustand
bringen, was nur unter hohem Druck möglich ist“, sagt Thomas Lörting. Es gibt bereits Ideen, wie die
aktuellen Messungen in einer Hochdruckkammer wiederholt werden können. Die Forscher wollen in den nächsten
Jahren aber auch klären, ob Chemie in stark unterkühltem Wasser nur in Zeitlupe abläuft, oder ob
dieses Tieftemperatur-Lösungsmittel das Tor zu einer ganz neuen Form von Chemie aufstößt.
Die aktuelle Arbeit entstand im Rahmen der Forschungsplattform Material- und Nanowissenschaften an der Universität
Innsbruck und wurde unter anderem vom österreichischen Forschungsförderungsfonds (FWF) finanziell unterstützt.
Publikation: Diffusive dynamics during
the high-to-low density transition in amorphous ice. Fivos Perakis, Katrin Amann-Winkel, Felix Lehmkühler,
Michael Sprung, Daniel Mariedahl, Jonas A. Sellberg, Harshad Pathak, Alexander Späh, Filippo Cavalca, Daniel
Schlesinger, Alessandro Ricci, Avni Jain, Bernhard Massani, Flora Aubree, Chris J. Benmore, Thomas Loerting, Gerhard
Grübel, Lars G. M. Pettersson, and Anders Nilsson. Proc. Natl. Acad. Sci. 2017 DOI: 10.1073/pnas.1705303114
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