Wie die Jugend die Spitzenkandidaten von SPÖ und ÖVP sieht.
Wien (tfactory) - Im Zeitraum von 1. Juni bis 17. Juni 2017 wurden von T-Factory 400 junge ÖsterreicherInnen
im Alter zwischen 16 und 24 Jahren befragt. Im Mittelpunkt standen die Spitzenkandidaten von SPÖ und ÖVP
für die nächsten Nationalratswahlen. Die Erhebung ist repräsentativ nach Geschlecht, Alter und Bildung.
Demokratieskepsis
Die Daten widerspiegeln Politik- und Demokratieverdrossenheit. So wünschen sich ca. 15% der Befragten
für die Politik einen starken Mann, der sich nicht um die repräsentativ-demokratische Einrichtung des
Parlaments bei seinen Entscheidungen kümmern muss. Der Anteil der "Demokratieskeptiker" ist unter
den jungen Männern und in den Milieus mit mittlerer und niedriger Bildung deutlich erhöht. Die Demokratieskepsis
nimmt mit zunehmendem Alter zu. Hauptursache scheint die abstoßende Wirkung der bestehenden politischen Kultur
zu sein und nicht die Anziehungskraft autoritärer Regierungsformen. Die Affinität zum "starken Mann"
ist wahrscheinlich primär auf den Mangel an durchsetzungsstarken und konsequent handelnden Führungsfiguren
zurückzuführen.
Fast 80% der befragten jungen Menschen begrüßen unser repräsentativ-demokratisches System. Mit
der Höhe der Position in der Bildungshierarchie nimmt die Affinität zur Demokratie zu. Im Segment der
niedrigen und mittleren Bildung liegt die Zustimmung zum demokratischen System nur mehr bei 66%. Wir können
davon ausgehen, dass der Grund dafür primär darin liegt, dass bildungsferne Milieus die politische Kultur
als zu wenig resonant und empathisch in Bezug auf ihre soziale und kulturelle Position erleben. Vergleichbare Studien
und eigene qualitative Erhebungen verweisen darauf, dass sich die Menschen, die unter der mittleren Einkommensgrenze
leben, häufig als von der Politik respektlos gegängelt und in ihren Werthaltungen und kulturellen Äußerungsformen
nicht ausreichend respektiert und wertgeschätzt fühlen.
Präferenz für eine Expertenregierung
Mehr positive Resonanz und eine qualitativ bessere Gouvernementalität erwarten sich fast 50% der Befragten
von einer Expertenregierung. Auch diese Präferenz widerspiegelt eine politikskeptische Grundposition bei vielen
Befragten. Die politisch Handelnden erscheinen nicht nur fern der jugendkulturellen und sozialen Interessen zu
agieren, sondern vermögen darüber hinaus nicht die notwendige sozial-kulturelle Empathie auszustrahlen,
um von den jungen Menschen auch affektiv angenommen werden zu können. Interessant ist hier, dass insbesondere
die höheren Bildungsniveaus und die weiblichen Respondenten sich besonders deutlich für den "expertokratischen"
Typus der Gouvernementalität aussprechen.
Die "liberal-etatistische" Gesinnung
Die politische Kultur der Jugend wird dominiert von einem "liberal-etatistischen" Idealtypus, den
man im weitesten Sinn eine "ordo-liberale" Grundhaltung unterstellen kann. Im Sinne dieses widersprüchlichen
Typs treten die Jugendlichen gleichzeitig für Deregulierungsmaßnahmen, wie die Sonntagsöffnung
der Geschäfte, für starke sozialpartnerschaftliche Institutionen (über 80% befürworten die
obligatorische Mitgliedschaft in der AK für alle ArbeitnehmerInnen) und einen starken staatlichen ORF (60%)
ein. Einen staatlich geregelten Mindestlohn wollen gar 77,3% der Befragten. Es geht hier ganz offensichtlich um
maximale Autonomie bei gleichzeitig stark reduziertem persönlichen Risiko durch mächtige Interessensvertretungen
und einflussreiche staatliche Strukturen. Das Konzept "weniger Staat" ist bei den Jungen eine Minderheitenposition.
Die Slim-Fit-Kultur
Der ideale Körper der gegenwärtig dominierenden Jugendkultur ist der Slim-Fit-Körper. Eine solche
Jugendkultur neigt zur Exklusion von Körperformen, die vom Slim-Fit-Ideal abweichen. Vor allem wird dem jugendlichen,
schlanken, perfekten, fitten Körper Wert beigemessen. Hier überträgt sich das Ideal des "Lean-Managements"
aus der liberalen Wirtschaftstheorie auf das jugendliche Körperideal. Wenn Wirtschaftsvokabel wie "Idealfigur
des Unternehmens", "Kostendiät" oder "überfetter Sozialstaat" hohe Anerkennung
genießen, wird dieserart Schlankheitsideal auch für die persönliche Körpergestaltung affirmiert.
Alles was nicht schlank und rank ist, gilt als behäbig, unbeweglich und nicht erfolgstauglich. Was nicht "slim-fit"
ist, ist nicht tauglich für ein Leben in einer performativen Wettbewerbs- und Erfolgskultur.
Verleiblichung der Politik
Generell sehen wir in der Politik einen Trend weg von der Bedeutsamkeit der Parteien und ihrer Strukturen und
Prozesse hin zu "charismatischen" Einzelpersonen. Der leibliche "Signifikant" repräsentiert
den politischen Inhalt, nicht Parteistruktur und Parteiprogrammatik. Diese Verkörperlichung der Politik führt
zum Wettbewerb um die attraktivste Körpererscheinung. Gewinnende Körper sind heute schlank, fit, beweglich,
sportlich, juvenil. Politikerkörper wie die von Helmut Kohl, Josef Taus, Bruno Kreisky oder Winston Churchill
wären heute eher ein Erfolgshindernis. Die öffentliche "Versportlichung" des Körpers von
Joschka Fischer war eine bewusst gesetzte Image-Geste genauso wie es gegenwertig der Gewichtsverlust vor aller
Welt von Sigmar Gabriel ist. Gabriels Kampf um die schlanke Linie ist eine Art öffentlicher Überlebenskampf,
um eine respektabler Teil einer postmodernen politischen Kultur zu bleiben. Männliche Spitzenpolitiker müssen
Fitness, Flexibilität, Wendigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Leistungsfähigkeit präsentieren.
Die starke Verkörperlichung des Politischen, hat einen neuen Idealtypus hervorgebracht: den Slim-Fit-Warrior.
Der Warrior: Charismatiker, Populist oder keines von beiden?
Die Ära des Populismus ist in Österreich mit dem Tod von Jörg Haider zu Ende gegangen. Denn
der echte Populist ist ein soziales Chamäleon. Er besitzt, wie der "Baldanders" aus Grimmelshausens
Simplicissimus die Fähigkeit "bald groß bald klein, bald reich bald arm, bald hoch bald nieder,
bald lustig bald traurig, bald bös bald gut und in Summa bald so und bald anders" zu sein. Der Populist
ist ein performatives und identitätsloses Wesen. Er ist, so wie der postmoderne Kandidat der Castingkultur
das, was gerade opportun ist und was man von der Menge verlangt wird. Vielen Populisten wird ihre Flexibilität
dermaßen zur eigenen Natur, dass sie am Ende gar nicht mehr wissen, welche der vielen Charaktermasken, die
sie verwenden, nun tatsächlich das Original ist. Genau so ein "Baldanders" war Jörg Haider,
ein Spieler, der auf unterschiedlichsten Festen tanzen und in grundverschiedenen sozialen Situationen bestehen
konnte.
Im Gegensatz zum Populisten steht der Charismatiker. Er hat einen stabilen Identitätskern, ein Wesen, das
Prioritäten setzt, die auf Überzeugungen basieren. Auch der Charismatiker will bedeutsam und herausragend
sein, aber mit dem, was er für seine Sendungsidee hält. Charismatiker sind Christusfiguren, die sich
auch als Opfer hingeben und dieses Opfer als überzeichnetes Darstellungsmittel einsetzen. Im Gegensatz zum
Populisten ist der Charismatiker konzis, kompakt, klar, eindeutig, faszinierend durch seine Konsequenz und Hingebungsfähigkeit.
Diese massive Differenz zwischen den beiden Idealtypen zeitigt auch unterschiedliche führerbezogene Massenkulturen.
"Der Charismatiker hat eine Gefolgschaft - der Populist ein Publikum." (Hans Georg Soeffner) Der Charismatiker
schafft eine überzeugte Gefolgschaft, die mit ähnlicher Konsequenz und Überzeugung in die Fußstapfen
ihres Anführers tritt, dem Populisten folgt eine nach Spektakel, kurzfristigen Vorteilen und hedonistischem
Lustgewinn geiles Massenpublikum, das sich so schnell zerstreuen kann, wie es sich zusammengefunden hat. Und: der
Charismatiker repräsentiert spirituell, politisch und ökonomisch handfeste Interessen, die auf den tatsächlichen
Nutzen seiner Gefolgschaft abzielen, der Populist propagiert abgehobene, schwärmerische, lebensfremde, entrückte
und manipulative Ideen, die über Interessensdifferenzen hinweg Einigkeit in seinem Publikums herstellen sollen.
Typische populistische Ideen sind Nation (Patriotismus), Wertegemeinschaft, Kulturgemeinschaft (Leitkultur), abgehobene
Abstraktionen ohne praktischen Werte und lebensweltlicher Bedeutung. Wird unterhalb der sakralen Sphäre, die
diese Abstraktionen produzieren, nicht ein handfester Interessensvorteil für das Publikum manifest, platzt
die populistische Blase und das Publikum zerstreut sich. Die überzeugte Gefolgschaft des Charismatikers hingegen
setzt ihren Weg, den Spuren des Herrn folgend, auch wenn dieser schon längst nicht mehr unter ihnen weilt,
fort, teilweise bis in den fundamentalistischen Gewaltexzess hinein.
Kern und Kurz: Weder Charisma noch Populismus
Kern und Kurz sind postmodern. Kern ist kein Manager, er spielt einen Manager und Kurz ist kein Politiker,
er spielt eine politische Rolle. Sie sind typische Inszenierungsprofis einer performativen Politik und Ökonomie.
In einer solchen performativen Kultur hat das Schauspiel die Funktion von Identität übernommen. Kern
und Kurz sind Exponenten einer "pragmatisch-konsensuellen Außergewöhnlichkeit". Sie haben
keine ehrfürchtige Gefolgschaft, ihnen fehlt jegliches Numinose, und auch keine flüchtig faszinierte
Zuhörerschaft, wie der Populist. Sie sind niemals exaltiert, überschäumend, unkonventionell, sie
haben sich exakt eingepasst in eine Rolle, die sie selbst kreiert haben oder für sie kreiert wurde - man weiß
es nicht - und gehen, immer kontrolliert, genau nach Plan vor. Sie lassen sich niemals, wie Charismatiker oder
Populisten, von ihrer Überzeugung oder ihrer narzisstischen Selbstliebe (Jörg Haider) mitreißen.
Wenn sie einmal emotional erscheinen, dann deshalb, weil es im Drehbuch steht. "Pragmatisch-konsensuell"
zu sein bedeutet aber auch, dass man extrem zur Risikolosigkeit tendiert. Von beiden ist kein politischer Parforceritt
zu erwarten. Sie werden sich immer im Rahmen ihres Kalküls bewegen, das die Form eines starken, immer auf
"On" stehenden Über-Ichs hat. Charismatiker und Populisten tendieren dazu, sich vorübergehend
vom Über-Ich loszureißen und ein ES-gesteuertes Ich walten zu lassen. Kern und Kurz würden so etwas
nie tun. Sie sind ordentlicher Verwalter ihrer engen Rollen. Sie lassen ihr ES niemals von der Leine, alles was
sie tun, ist in irgendeiner Art und Weise gebremst.
Imagedefizite der Kandidaten
Kurz und Kern sind der Persönlichkeit nach nicht extrem different. Der eine ist die ältere Ausgabe
des andern und umgekehrt. Insofern evozieren sie bei der Jugend eine Suchbewegung nach dem, was sie beide nicht
repräsentieren. 50% der Jugendlichen sind der Auffassung, dass weder Kurz noch Kern "Menschen aus dem
Volk" sind. Weder Kern noch Kurz gelten ihnen als "einer von uns". Man vergleiche die Anmutung der
beiden mit jener von Jeremy Corbyn, dem die Jugend auf Musikfestivals Hymnen singen. Weder Kurz noch Kern kann
man sich auf der Bühne von "Frequency" in nicht-prätentiöser Kleidung vorstellen. Kurz
oder Kern mit einem Band-T-Shirt? Undenkbar. Dadurch würden sie den Rahmen des "pragmatisch-konsensuell
gebremsten Außergewöhnlichen" sprengen, einer Außergewöhnlichkeit, die tief in der Normalität
verwurzelt ist und die in jeder ihrer Äußerungsformen anschlussfähig an eine gut-bürgerliche
Ordentlichkeit bleibt. Weil sie beide Rollen spielen, wenn auch sehr professionell, haben sie Authentizitätsprobleme.
Wie im Theater weiß der Wähler, dass nach Ende der Vorstellung König Lear das Kostüm auszieht
und in Straßenkleidern von dannen geht. Wie im Theater weiß jeder, dass beide, wenn ihre Mission schiefgeht,
in eine beliebige andere Rolle schlüpfen werden können, in der sie genauso gut performen werden wie in
ihrer jetzigen.
Nachdem alle Politiker heute Rollenspieler sind, erscheinen Kurz und Kern vielen als typische Politiker, was
in einer Zeit, in der es zweckmäßiger wäre ein atypischer Politiker zu sein, ein gewisser Nachteil
ist. In Österreich ist dieser Nachteil aber auch wieder nicht allzu groß, als es hier ausschließlich
nur typische Politiker im Angebot gibt.
Nachdenklich stimmt, dass über 40% der jungen WählerInnen den beiden "nicht gerne zuhören".
Das ist für top-performende Profis, wie es die beiden nun einmal sind, ein Grund nachzudenken. In beiden Fälle
sollte hier nicht primär an den Narrativen, sondern wahrscheinlich am Formalen, am Stil des Vortrags gearbeitet
werden.
Die positiven Imageprofile der Kandidaten
Kurz liegt im Augenblick in der Wählergunst der Bevölkerung und insbesondere der Jugend vor Kern.
Es erhebt sich die Frage, was die besonderen Assets des ÖVP-Kandidaten sind, über welche Image-Trümpfe
er verfügt. Der erste Trumpf ist wohl naheliegend. Nachdem die Jugend gegenwärtig durch altersnahe, zumindest
aber juvenil wirkende Symbolfiguren vertreten werden möchte, ist das Alter von Sebastian Kurz im Jugendsegment
der Topseller. Die Altersidentität mit der Zielgruppe lässt in der jungen Wählerschaft den Eindruck
entstehen, dass sich Kurz naturgemäß mehr für die Anliegen von jungen Menschen einsetzen könnte.
Dieser (Kurz-)Schluss ist naheliegend und nachvollziehbar. Was aber über sein Alter hinaus die eigentlich
wichtige Zuschreibung bei Kurz ist, ist seine "Modernität". Der Begriff "Modernität"
ist stark gegenüber Inhalten wie Zukunft, Veränderung, Aufbruch und vor allem "Überwindung"
des hemmenden Traditionellen offen. Kurz steht für Veränderung, im Gegensatz zum "bewahrenden"
Kern. Wir wissen aus diversen Studien, dass die Menschen heute generell der Auffassung sind, dass sie ihre soziale
und kulturelle Position nur durch eine Veränderung der politischen Rahmenbedingungen halten werden können.
Das postmoderne Oxymoron lautet: Stabilität durch Veränderung. Diese Zuschreibung wird nun auf Kurz eher
projiziert als auf Kern. Kern scheint festzustecken im Alten, während Kurz offen und unbeschwert das Neue
anpacken kann. Hier ist es auch wichtig, den Aspekt der Durchsetzungsfähigkeit aufzugreifen. Kurz erscheint
durchsetzungsfähiger unter den Jungen als Kern, wohl vor allem deshalb, weil er sich gegen alte Strukturen
durchsetzen konnte. Erinnern wir uns an die eingangs abgehandelte Präferenz der Jugend für eine "Expertenregierung".
Diese resultiert aus einer großen Skepsis gegenüber politischen Apparaten und gleichzeitig wird sie
gespeist aus der Individualisierung und "Verleiblichung" der Politik. Der Einzelne, die Person, der ästhetisierte
"Leib" zählt. Heute muss sich der erfolgreiche Politiker zumindest symbolisch und theatralisch gegen
seine Partei durchsetzen, wenn er sie nicht gleich martialisch zerstören muss, wie der Franzose Macron. Kurz
ist der disruptive Zerstörer der ÖVP, davon profitiert er. Kern erscheint zu stark an die SPÖ gebunden.
Er wird sich größere Spielräume, eine größere Autonomiesphäre verschaffen müssen,
will er die Jugend begeistern.
Kurz und die jungen Frauen
Die Herzen der jungen Frauen fliegen Kurz zu. Für sie ist er ein, wenn auch pragmatisch-konsensuell gebremstes,
Idol. Dies liegt wohl daran, dass das Männlichkeitsideal unter der Mehrheit der jungen Frauen eben ein pragmatisch-konsensuelles
ist. Extravagante Rulebreaker sind augenblicklich nicht mehrheitstauglich. Die postmoderne Disruption kommt manierlich
und ordentlich daher, zumindest wenn es um die öffentliche Selbstdarstellung geht. Was hinter der Bühne
passiert, ist in der performativen Kultur ein anderes paar Schuhe. Jedenfalls dominiert Kurz bei den jungen Frauen
in allen Imageausprägungen. Er ist sympathischer, besser gekleidet, durchsetzungsfähiger, ehrlicher,
echter, moderner und natürlich jugendlicher.
Kern und die Bildungsschichten
Gleichzeitig flirtet Kern unglaublich erfolgreich mit den jungen Bildungsschichten. 45% unter den Hochgebildeten
finden ihn glaubwürdig, während es Kurz in dieser Gruppe gerade einmal auf 25% bringt. Nur zum Vergleich:
Unter den Gebildeten kommt Heinz-Christian Strache nicht über ein Grundgeräusch von drei Prozent hinaus.
Was bringt Kern unter den Gebildeten dermaßen voran? Es ist wohl sein sozialer Aufstieg, aus Simmering an
die Spitze der ÖBB und von dort ins Bundeskanzleramt. Ein Selfmademan, glaubwürdig und echt, was seine
Berufskarriere betrifft. Hinzu kommt sein Lebensstil. Christian Kern ist ein Meister der subtilen ästhetischen
Abgrenzung. Er ist das Gegenbild zum neureichen Protz-Trump, ein Gentleman, ein Professional der subtilen Distinktion.
Er versteht es, sein Managertum zu inszenieren, ohne die mittelmäßige Mehrheit des Volkes zu verletzen.
Eine perfektionierte Ausgabe des noch etwas grobschlächtigen Franz Vranitzkys. Ihm ist es nie ganz gelungen,
die Floridsdorfer Patina völlig abzubekommen. Bei Kern ist von der Simmeringer Aura absolut nichts mehr da.
Eine perfekte Verwandlung, ein performatives Kunstwerk, das von den Bildungsschichten honoriert wird.
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Kern und Kurz: Die Differenzen
Die beiden Kandidaten sind hochbegabte Selbstdarsteller im Metier der "pragmatisch-konsensuellen Außergewöhnlichkeit".
Wo liegen die wesentlichen Brüche?
a) Erfahrung versus Unschuld
Kern steht für Erfahrung, beruflich und persönlich. Erfahrung hat den Vorteil, dass sie lebenstauglich
macht. Und führungsund regierungstauglich. Sie hat aber auch einen Nachteil. Wer Erfahrungen macht, der verliert
seine Unschuld, seine sauberen Hände. Das Leben hinterlässt seine Spuren, vielleicht macht es sogar abgebrüht,
raffiniert, ausgekocht? Kurz steht im Gegensatz zu Kern da wie die männliche Jungfrau Maria. Er scheint keine
Vergangenheit zu haben, er ist unbeschmutzt, durch keine Niederungen und Niedrigkeiten des Lebens gegangen und
durch sie verunreinigt. Er ist strahlend sauber und rein und symbolisiert so einen moralischen Neuanfang in einem
schmutzigen Geschäft. An diesen beiden gegensätzlichen Eigenschaften werden sich die Geister scheiden.
Will man den abgebrühten Profi oder den sauberen Infanten ohne Schuld und Tadel?
b) Kontinuität versus Disruption
Kurz steht für den Neubeginn. Die Jugend ist der symbolische Aufbruch. Sie ist rücksichtslos gegenüber
dem Alten. Wie der destruktive Charakter, den Walter Benjamin durchaus positiv beurteilt, errichtet er auf den
Trümmern des abgelebten Heutigen die neue Welt des Morgens. Kurz wirkt revolutionär, für die Jugend
verkörpert er ein wenig Rebellion und Revolte, stellvertretend für sie. Die Kompromisslosigkeit des Neubeginns
begeistert die Jugend. Im Gegensatz dazu der nachdenkliche, reflektierte, vernünftige, abgeklärte Christian
Kern. Er kommt nicht umhin milde zu lächeln, wenn der junge Rebell seine Zukunftsvisionen vorträgt. Überlegtes
Handeln steht gegen mutiges Experimentieren, zwischen Gestern, Heute und Morgen vermitteln als Gegensatz zum disruptiven
Abbruch und Aufbruch.
c) Sicherheit versus Risiko
Der bedächtige, erfahrene, überlegte Christian Kern steht für Sicherheit. Er wird nichts Unüberlegtes
tun, wird keine tiefen Brüche erzeugen, wird eher vermitteln als polarisieren, wird den Brückenschlag
zwischen dem Gestern und dem Morgen versuchen. Mit Christian Kern kauft man nicht die Katze im Sack, muss sich
auf keine Überraschungen einstellen. Wählt man Kern, dann geht man nicht ins Casino und setzt alles auf
Zero. Man setzt einen Teil seines Einsatzes auf Rouge und hält sich noch genügend Spielgeld in der Hinterhand.
Kurz hingegen ist alles oder nichts, er ist Risiko pur. Kurz setzt alles auf Disruption, auf Unterbrechung, auf
Erneuerung. Mit der Stimme für Kurz setzt der Wähler seinen ganzen Einsatz auf die schwarze Zahl und
hofft auf den 35-fachen Gewinn. Die Wahl zwischen Kurz und Kern wird also zur Wahl zwischen konservativen (Stimmen-)Investment
und Risikoanlage. Die Frage wird sein: Setzt ganz Österreich wie die Jugend? Die Jugend, so zeigt diese Untersuchung,
tendiert zum Risiko. Was werden die älteren Jahrgänge tun? Man wird sehen.
d) Kollektiv versus Individuum
Kurz ist aus dem Kollektiv herausgetreten, er hat das Kollektiv diszipliniert, Kern bleibt Bestandteil der
Gruppe, der Gemeinschaft, geht achtsam und kalkuliert mit ihr um. Kurz stellt Ultimaten, Kern würde das nie
tun. Kurz konfrontiert sich, Kern verhandelt. Kurz droht, Kern macht Angebote. Kurz steht für Push-Strategien,
Kern für Pull-Strategien. Hier wird die Frage sein: Wie wichtig ist den ÖsterreicherInnen der subtile,
achtsame Umgang mit Traditionen, mit Gruppenidentitäten, mit verlässlichen alten Strukturen? Kurz räumt
auf, Kern baut sensibel um. Kurz setzt auf das Individuum, das aus der "alten" Masse hervortritt, Kern
bleibt wertschätzend dem Althergebrachten gegenüber, nimmt ihm nicht die Würde. Kurz will alles
sofort, mit einem Schlag, Kern steht für nachhaltigen Wandel, für bedächtiges Verändern bei
reduzierter Geschwindigkeit. Der Jugend steht der Sinn nach beschleunigter Modernisierung. Werden die Älteren
mitziehen oder stehen sie eher auf der Seite des kalkulierten, überlegten Handelns bei reduzierten Tempo?
e) Argument versus Emotion
In der Kommunikationstheorie unterscheidet man zwischen Formen der diskursiven und der präsentativen Symbolik.
Die Postmoderne ist präsentativ. Sie privilegiert das Zeigen vor dem Sprechen. In der Postmoderne hat der
Sehsinn die Vorrangstellung im Wahrnehmungsapparat. Der Mensch ist geprägt durch visuelle, bildzentrierte
Massenkommunikation. Die Sprache, das Symbolische tritt ins zweite Glied, in den Vordergrund drängt sich das
Bild, das Imaginäre, das Phantasmatische, Trügerische, Faszinierende, die Begierde, das Impressive. Diskurse,
rationales Argumentieren wird durch performative Praktiken, die Sprache der Vernunft durch die Bildsprache ersetzt.
Während Kern als Exponent der traditionelle diskursorientierten Politik Programme vorlegt (Plan A, 7-Punkte-Konzept
zur Flüchtlingskrise etc.), beschränkt sich Kurz darauf, opulente Sprachbilder in Umlauf zu bringen.
Er bleibt bei einer abstrakten, weitgehend bedeutungsoffenen Bildrhetorik. Während Kern Papier, Druck, Programm,
Facebook ist, ist Kurz Instagram, Snapchat und Twitter. Während Kern für das bestimmt, klar strukturierte
Statement steht, nutzt Kurz flüchtige, federleichte, plastische Wortbild. Kern ist Identität, Kurz ist
der ephemere "Baldanders", Kern ist die Vernunft, Kurz die Emotion.
Fazit und Schluss
Wir können zusammenfassen: Sebastian Kurz steht für die Neutralisierung des Alten, welches das Neue
möglich macht. Er ist der personifizierte Umbruch, die geschichtsvergessene Radikalität. Kern balanciert
auf einem zwischen Tradition und Erneuerung gespannten Drahtseil, bemüht um Ausgewogenheit und Kontinuität.
Während Kurz befreit von Partei- und Strukturzwängen federleicht durch die Medienlandschaft tänzelt,
trägt Kern die Bürde der Staatsverantwortung, die Last der Vernunft und die Schwere des Parteiapparats
mit sich herum.
Louis Althusser hat darauf hingewiesen, dass es in ideologischen Kämpfen nicht um Inhalte geht, sondern
um die Organisation von Affekten. Das Mittel, um politische Auseinandersetzungen zu gewinnen, ist nicht die Idee,
sondern Identifizierung. Es geht nicht um Programme, Aufklärung, tatsächliche Emanzipation oder um die
Organisation von Überzeugungsdiskursen, sondern um das Wecken von irrationalen Begehrlichkeiten, um die Ermöglichung
von lustvoller Identifizierung mit attraktiven Personen und einer reizvollen und anzüglichen Zukunft. "Make
America great again", was immer das auch bedeutet, aber der amerikanische Wähler hat sich mehrheitlich
mit diesem "leeren Signifikanten" identifiziert. Identifikation mit Wunschbildern, professionelle Organisation
von Affekten durch die Verbreitung von diffusen Sprachbildern auf hoher Abstraktionsebene und die Vermeidung der
argumentativen Konfrontation, dafür steht Sebastian Kurz. Kern steht für die Verteidigung des Erschöpften,
für Programme, Diskurs, Kritik, Reflexion. Während Kern sich mit alten Strukturen und Problemen abmüht,
schwebt Kurz, getragen von flotten Wendungen und Floskeln über den Mühen der Ebene. Wenn Kern sich nicht
gleichsam erheben kann über die Banalität des Alltags und die enge Notwendigkeit des Realen, wird er
Kurz die Jugend nicht entreißen können.
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