EU-Ausschuss beschließt Mitteilung an Brüssel und drängt auf raschere Entscheidungen
und Wahrung des Subsidiaritätsprinzips
Wien (pk) - Zahlreiche Herausforderungen wie die Globalisierung bis hin zu den Auswirkungen neuer Technologien
auf Gesellschaft und Arbeitsplätze sowie außenpolitische Krisenherde, Sicherheitsfragen, nicht zuletzt
aber auch die zunehmende EU-Skepsis und der Brexit – das alles hat die EU-Kommission dazu veranlasst, ein Weißbuch
zur Zukunft Europas zu erstellen. Präsentiert wurde es am 1. März 2017. Das Weißbuch beschreibt
jene Faktoren, die den Wandel im nächsten Jahrzehnt prägen, und skizziert fünf Zukunftsszenarien,
wie sich Europa bis 2025 entwickeln könnte. Das Thema stand am 21. November auf der Tagesordnung des
EU-Ausschusses des Bundesrats.
Die fünf Szenarien für die EU bis 2025
Szenario Nr. eins wird im Weißbuch mit der Überschrift "Fortsetzen" zusammengefasst, womit
gemeint ist, die Politik weiter zu verfolgen wie bisher.
Die zweite Möglichkeit sieht die Kommission darin, sich ausschließlich auf das Funktionieren des Binnenmarkts
zu konzentrieren.
Ein weiterer Vorschlag betrifft die Möglichkeit einer stärkeren Zusammenarbeit jener, die dies wollen,
also quasi einer "Koalition der Willigen". Das kann Bereiche wie Verteidigung, Innere Sicherheit, Steuern
und Soziales umfassen.
"Weniger, dafür effizienter" ist Szenario Nr. vier, wobei man sich auf ausgewählte Politikbereiche
wie etwa Sicherheitspolitik oder Terrorismusbekämpfung konzentriert. Das soll ein rascheres und entschiedeneres
Handeln ermöglichen.
Schließlich kann sich die Kommission auch "Viel mehr gemeinsam machen" vorstellen. Das bedeutet
eine Ausweitung der Kompetenzen, Ressourcen und Entscheidungen der EU auf sämtliche Arbeitsbereiche – etwa
auch auf Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung und Verteidigung. Damit einhergehen soll auch, dass Entscheidungen
schneller getroffen und umgesetzt werden.
EU–Ausschuss drängt auf bessere Handlungsfähigkeit der EU und die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips
Der EU-Ausschuss des Bundesrats hat dazu eine Mitteilung an die EU Kommission, den Rat und das EU Parlament
mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und Grünen beschlossen. Die FPÖ konnte sich damit nicht identifizieren
und verweigerte daher die Zustimmung.
In der Mitteilung unterstreichen die LändervertrerInnen ihr Bekenntnis zu einem Europa des Friedens und der
Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie sehen es als dringend geboten, die Handlungsfähigkeit
der EU ins Zentrum zu rücken und fordern in diesem Zusammenhang eine Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips.
"Wir setzen uns darum für eine stärkere Beachtung der Subsidiarität vor der Vorlage eines neuen
Rechtsakts ein", heißt es wörtlich in der Mitteilung.
Angesichts der Paradise Papers plädiert der Ausschuss vor allem dafür, dass Steuern dort bezahlt werden,
wo sie erwirtschaftet werden. Das gelte insbesondere für multinationale Konzerne.
Besonderen Wert legt der Ausschuss auch auf die soziale Komponente der EU. Damit Europa nicht scheitert, müsse
es die Menschen schützen, indem es eine Perspektive auf Wohlstand gibt. Neben der Wettbewerbsfähigkeit
und funktionierenden Märkten sei darauf zu achten, dass niemand zurückbleibt. Der Bundesrat unterstützt
explizit die Forderungen von Kommissionspräsident Juncker zur sozialen Absicherung der Bürgerinnen und
Bürger in der EU.
Diese Aspekte unterstrich auch Ausschussvorsitzender Edgar Mayer (ÖVP/V). Mayer merkte an, dass sich der EU-Ausschuss
immer wieder schwerpunktmäßig mit diesen Fragen auseinandersetzt und erinnerte in diesem Zusammenhang
an die Enquete der Länderkammer vom 7. November. Zudem wies er auf die Vorarbeiten zur Erklärung der
Landtagspräsidentinnen und -präsidenten aus Deutschland, Österreich und Südtirol zum Weißbuch
anlässlich der zweiten Europakonferenz Ende November hin. Der Ausschussvorsitzende kritisierte einmal mehr
die steigende Zahl der delegierten Rechtsakte und zeigte sich erfreut über die Einrichtung einer Task Force
zur Subsidiarität.
Auch seitens des Außenministeriums hält man die Dynamik aufgrund des Weißbuchs für positiv,
denn jetzt sei die Zeit für wichtige Weichenstellungen. Österreich werde sich während seiner Ratspräsidentschaft
intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Für die österreichische Bundesregierung sei es wichtig, wie
der Vertreter des Außenressorts betonte, sich nicht hinter einer Institutionendebatte zu verstecken, vielmehr
habe ein pragmatischer Lösungsansatz zu aktuellen Themen, wie Migration und Sicherung der Außengrenzen,
oberste Priorität. Die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips stehe ebenfalls im Interesse heimischer
EU-Politik wie auch die Weiterführung einer verstärkten Zusammenarbeit und die Vertiefung der Eurozone.
Einmal mehr wurde die Notwendigkeit hervorgehoben, dem Westbalkan eine europäische Perspektive zu bieten.
Herausforderungen
Der Brexit sei ein Weckruf gewesen, hieß es im Ausschuss aus dem Außenministerium, Europa müsse
sich die Frage stellen, wie es in Zukunft außen- und wirtschaftspolitisch stringenter vorgehen kann.
Als bestimmende Faktoren, die die Zukunft Europas prägen, nennt das Weißbuch unter anderem die Tatsache,
dass das Gewicht Europas - obwohl es der größte Binnenmarkt mit der am zweithäufigsten weltweit
genutzten Währung, die führende Handelsmacht und der größte Geber von Entwicklungshilfe und
humanitärer Hilfe ist – in dem Maße abnimmt, in dem andere Teile der Welt wachsen, auch in wirtschaftlicher
Hinsicht. Dazu kommen Konflikte an den Außengrenzen der Union, Krieg und Terror im Nahen Osten und in Afrika
sowie eine zunehmende Militarisierung in allen Teilen der Welt, die die zunehmenden weltweiten Spannungen deutlich
macht. Obwohl die Welt immer vernetzter wird, gebe es Tendenzen zum Isolationismus und zu Zweifel an der Zukunft
des internationalen Handels und des Multilateralismus.
Als eine zentrale Frage macht die Kommission soziale Ungleichheit sowie die öffentliche und private Verschuldung
fest. Es bestehe die Gefahr, dass es der heutigen Jugend zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg schlechter gehen
könnte als ihren Eltern. Europa könne es sich aber nicht leisten, die am besten ausgebildete Altersgruppe,
die es je hatte, zu verlieren und zuzulassen, dass Ungleichheit ihre Zukunftschancen ruiniert. Zudem sieht es die
Kommission als eine Notwendigkeit an, die sozialen Sicherungssysteme, die sie als die fortschrittlichsten bezeichnet,
gründlich zu modernisieren, um bezahlbar zu bleiben und mit der demografischen Entwicklung und der beruflichen
Realität Schritt halten zu können.
Auch die Digitalisierung stellt eine enorme Herausforderung dar. Bereits jetzt seien die Trennlinien zwischen ArbeitnehmerInnen
und Selbständigen, Waren und Dienstleistungen, KonsumentInnen und ProduzentInnen verwischt. Die beruflichen
Umwälzungen sind weitreichend. Daher müsse man, um negative Auswirkungen zu mindern, in der Ausbildung
und in den Systemen für ein lebenslanges Lernen umdenken. Die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern
auch neue soziale Rechte.
Gleichzeitig hat sich die EU im Rahmen einer verantwortungsvollen Klimapolitik zu einer ehrgeizigen Dekarbonisierung
der Wirtschaft und zur Verringerung schädlicher Emissionen verpflichtet. Das bedeute, innovative Lösungen
auf die einheimischen und internationalen Märkte zu bringen.
Martin Preineder (ÖVP/N) merkte dazu an, die EU habe bisher viele Aufgaben gut erfüllt, vieles sei aber
nicht gut gelaufen und dafür sei der Brexit ein klares Zeichen. Das Ausscheiden Großbritanniens aus
der EU könne aber auch zeigen, was man damit verliert. In der EU sei vor allem eine raschere Entscheidungs
– und Kompromissfähigkeit gefragt, sagte Preineder, der sich auch seinerseits für die Subsidiarität
stark machte. Er ist aber dafür, Großkonzerne mehr in die Verantwortung zu nehmen und meinte, in der
Frage der Sicherheit und des Grenzschutzes müsse man von der EU mehr erwarten.
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SPÖ- und ÖVP-Stimmen für eine Stärkung der sozialen Komponente in der EU
In der Diskussion unterstrich vor allem die SPÖ die Notwendigkeit einer sozialen Komponente innerhalb
der EU. Auch aus dem Außenministerium hieß es, die soziale Säule sei ein wichtiger Schritt, die
Kompetenzen müssen jedoch klar sein. In Göteborg habe man 20 Grundsätze festgelegt, die treibende
Kraft dahinter sei Kommissionspräsident Juncker gewesen. Sie seien jedoch unverbindlich, jetzt gehe es um
die Umsetzung.
Die EU sei nicht nur eine Sicherheitsgemeinschaft, eine Verteidigungsunion und ein Grenzwächterstaat, meinte
Stefan Schennach (SPÖ/W). Vielmehr gehe es um einen Kontinent der Innovation aber auch der sozialen Verantwortung.
In diesem Sinne begrüßte Schennach die Erklärung vom Gipfel in Göteborg. Bisher fehle nämlich
eine europäische Arbeitspolitik und Steuerpolitik, Sozialdumping sei ein Problem. Die Komponente Mensch muss
viel mehr vorkommen, ergänzte seine Fraktionskollegin Ingrid Winkler (SPÖ/N), und das müsse auch
spürbar werden, damit Europa Akzeptanz bei den BürgerInnen findet.
In diesem Sinne argumentierte auch der Vertreter der Arbeiterkammer, der von einer Schieflage zwischen sozialen
Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten sprach. Er forderte daher, dass soziale Grundrechte gleich gewichtet werden.
Notwendig sei es, eine Nivellierung nach unten und die Aushebelung von Standards zu verhindern. Um die steuerpolitische
Handlungsfähigkeit zu erhöhen und die Steuerpolitik fairer zu gestalten, plädierte er für ein
Abgehen vom Einstimmigkeitsprinzip. Ihm zufolge muss das EU-Budget in Richtung soziale Ziele weiter entwickelt
und die goldene Investitionsregel zur antizyklischen Wirtschaftspolitik eingeführt werden. Die Wirtschaftspolitik
dürfe sich nicht nur nach dem Export ausrichten, sagte er, sondern auch auf die Binnenmarktnachfrage. Eine
Kompetenzübertragung an die EU erfordere vor allem auch ein starkes EU-Parlament.
Bundesrat Stefan Schennach (SPÖ/W) warnte in seiner Stellungnahme zudem davor, die EU dort, wo sie Souveränität
hat, durch nationalstaatliche Alleingänge zu behindern. Er sprach sich auch gegen ein Europa der verschiedenen
Geschwindigkeiten aus, denn dieses habe man schon in Bezug auf die Eurozone und Schengen. Eine weitere Abkoppelung
würde Europa schwächen, zeigte er sich überzeugt. Notwendig sei es, die Geschwindigkeit der Entscheidungen
zu steigern und den Schengenraum zu schützen.
Auch die ÖVP Mandatare halten es für notwendig, die soziale Komponente der EU zu stärken. Für
Ferdinand Tiefnig (ÖVP/O) ist es aber unerlässlich, sich intensiv mit dem Internethandel zu beschäftigen
und sich über die Digitalisierung und Automatisierung Gedanken zu machen. Das könne nicht alleinige Aufgabe
der Mitgliedstaaten sein, sagte er. Auch die Zügelung des Kapitals und die Einführung der Finanztransaktionssteuer
sollte Thema sein, meinte Eduard Köck (ÖVP/N). Er ist auch dafür, soziale Transferleistungen an
die Lebenshaltungskosten anzupassen.
Sozialunion: FPÖ skeptisch
Selbstverständlich darf man Menschen nicht zurücklassen, reagierte Monika Mühlwerth (FPÖ/W)
auf die Forderungen nach einer sozialen Union, die FPÖ habe damit aber ihre Probleme. Sie erinnerte in diesem
Zusammenhang an Griechenland, wo es den Menschen trotz Milliardenhilfe noch immer nicht besser gehe. Die Staaten
müssten selbst wieder auf die Beine kommen.
Helfen können nur eine Politik, die die Menschen auch verstehen, das heißt, weg von Dingen wie Allergenverordnung
oder die Höchstleistung von Staubsaugern. Für die Sicherung der Außengrenzen sei jedoch die EU
zuständig.
Kritisch äußerte sich Mühlwerth auch zu einer etwaigen EU-Mitgliedschaft der Westbalkanstaaten.
Selbstverständlich sei dies ein wichtiges Thema und vor allem Österreich sollte sich hier engagieren.
Angesichts der Probleme in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaft hält Mühlwerth eine diesbezügliche
Erweiterung für den Bestand der EU gefährlich. Die EU müsse so reformiert werden, dass sich die
BürgerInnen zugehörig fühlen, sagte sie.
Grüne: EU-BürgerInnen mehr einbinden
Für Heidelinde Reiter (Grüne/S) kann diese Zugehörigkeit durch eine stärkere Bürgerbeteiligung
erzielt werden. Die bisherige Debatte ist ihrer Meinung nach viel zu abgehoben. Reiter plädierte für
mehr Pragmatismus beim Ausarbeiten von Lösungen und meinte, es sei oft sehr schwierig, den Widerspruch zwischen
Subsidiarität einerseits und Vertiefung andererseits aufzulösen.
Dazu meinte der Vertreter des Außenministeriums, es sei vorgesehen, die europäische Bürgerinitiative
noch bürgernäher zu gestalten. Man werde daher die bisherigen Bestimmungen überarbeiten mit dem
Ziel, es zu erleichtern, eine Initiative zu starten und Unterschriften zu leisten. Außerdem will man die
Bürgerkonvente ausweiten.
Vor den EU-Wahlen 2019 will EU eine Vision vorstellen können
Das Weißbuch stellt den Beginn der Diskussion dar. Den Bürgerinnen und Bürgern Europas soll man
laut Juncker jedenfalls zur Europawahl im Juni 2019 einen Plan, eine Vision und einen Weg vorstellen können.
Mit dem Weißbuch wird eine Debatte darüber angestoßen, welchen Weg die EU einschlagen soll. Sie
soll aber auch helfen, sich auf das Wesentliche zu besinnen, heißt es in der Einleitung des Dokuments.
Zusätzlich zum Weißbuch zur Zukunft Europas hat die EU-Kommission im ersten Halbjahr 2017 fünf
thematische Reflexionspapiere vorgelegt: "Soziale Dimension der EU", "Globalisierung meistern",
"Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion", "Zukunft der europäischen Verteidigung"
und "Zukunft der EU-Finanzen".
Am 13. September skizzierte Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union ein auf drei Prinzipien
- Freiheit, Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit - basierendes sechstes Szenario, und zwar eine Mischung
aus den Szenarien vier und fünf. Er forderte dabei die Konvergenz der EU-Staaten als gemeinsames Ziel mit
dem Ziel einer "stärkeren, geeinteren und demokratischeren EU". Nicht eingegangen ist der Kommissionspräsident
dabei auf ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Am 25. März verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU 27 die Römer Erklärung zur Zukunft
der EU. Darin wird der Zusammenhalt und die Geschlossenheit der 27 bekräftigt und zentrale Ziele für
Europa wurden definiert: "sicher und geschützt, wohlhabend und nachhaltig, sozial und stärker auf
der globalen Bühne". Ratspräsident Tusk wurde schließlich beauftragt, die Diskussion und jüngsten
Reflexionen und Ideen zur Zukunft Europas in ein konkretes Arbeitsprogramm zu übersetzen.
Tusk hat zudem am Rande des Europäischen Rats vom 20.Oktober eine sogenannte "Leader's Agenda" vorgeschlagen,
die bis zum Ende der Funktionsperiode des Europäischen Parlaments und der Kommission 13 Gipfeltreffen – darunter
eines im September 2018 in Wien zum Thema Sicherheit – vorsieht. Zur Beschleunigung gemeinsamer Entscheidungen
sollen von den Mitgliedstaaten in Form von "Decision notes" Problembereiche aufgezeigt werden und damit
ernsthafte politische Diskussionen ermöglichen. Gibt es keine Einigung, dann könnte die Frage auch in
Form einer vertieften Zusammenarbeit gelöst werden.
Auch das Europäische Parlament (EP) hat am 16. Februar 2017 drei ambitionierte Entschließungen zur Zukunft
der EU angenommen. So soll nach Meinung der ParlamentarierInnen unter anderem der Ministerrat in eine wirkliche
zweite Gesetzgebungskammer umgewandelt werden, das EP spricht sich auch dafür aus, dass die Beschlüsse
vollständig mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, um wichtige Gesetze nicht blockieren zu können.
Außerdem soll ein EU-Finanzminister installiert werden.
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