Wien (universität) - Sexuelle Fortpflanzung ist die dominante Reproduktionsform im Tier- und Pflanzenreich.
Trotzdem gibt es Arten, die sich teilweise oder ausschließlich asexuell vermehren. Überraschenderweise
sind diese asexuellen Arten oft weiter verbreitet als ihre nächsten sexuellen Verwandten. Die Ursachen dieses
"Geographische Parthenogenese" genannten Phänomens sind umstritten. Eine Arbeitsgruppe des Departments
für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien um Stefan Dullinger hat nun dazu in
Zusammenarbeit mit Wissenschaftern der Universität Göttingen um Elvira Hörandl und einem internationalen
Forschungsteam ein neues Computermodell entwickelt. Die Studie erscheint in der renommierten Fachzeitschrift "Ecology
Letters".
Die Dominanz der sexuellen Fortpflanzung unter höher entwickelten Formen des Lebens ist ein eindrucksvoller
Beleg für die evolutiven Vorteile dieser Reproduktionsform. Dennoch gibt es auch in der heutigen Flora und
Fauna weit verbreitete und daher offensichtlich höchst erfolgreiche Arten, die auf Sex weitgehend verzichten.
Ein besonders auffälliges Phänomen stellt die sogenannte "Geographische Parthenogenese" dar.
Der Begriff bezeichnet die Tatsache, dass asexuelle Arten ein größeres, oft sogar ein sehr viel größeres
Verbreitungsgebiet besitzen als nächstverwandte sexuelle Sippen – vor allem in Regionen der Erde, die während
der Eiszeiten vergletschert waren. Die möglichen Ursachen für dieses Phänomen sind seit langem in
Diskussion.
Modellierung der nacheiszeitlichen Ausbreitung
Eine Blütenpflanze mit klassischer "Geographischer Parthenogenese" ist der Pyrenäen-Hahnenfuß,
Ranunculus kuepferi. Zwei Sippen dieser Art existieren, eine sexuell reproduzierende und eine asexuelle, die sich
mit Hilfe unbefruchteter Samen (so genannte Apomixis) fortpflanzt. Die asexuelle Sippe hat sich aus der sexuellen
entwickelt und dabei, wie häufig bei Blütenpflanzen, eine Verdoppelung des Chromosomensatzes (Polyploidisierung)
erfahren. Beide Sippen waren am Ende der letzten Eiszeit nur im südwestlichsten Teil der französischen
Alpen verbreitet. Während die sexuelle Sippe auch heute noch auf diese Region beschränkt ist, hat sich
die asexuelle seit der letzten Eiszeit über fast den gesamten Alpenbogen ausgebreitet. BiologInnen des Departments
für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien um Stefan Dullinger haben in Zusammenarbeit
mit einem internationalen ForscherInnenteam ein Computermodell entwickelt, mit dem sich der nacheiszeitliche Ausbreitungsprozess
dieser beiden Sippen rekonstruieren lässt. "Mit diesem Modell können wir simulieren, wie die beiden
Sippen nach der Eiszeit emigriert und dabei unterschiedlich weit gekommen sind. Und wir können verschiedene
Hypothesen für ihren unterschiedlichen Erfolg überprüfen", erläutert Stefan Dullinger,
Projektleiter der Studie.
Die Computersimulationen legen nahe, dass die asexuelle Sippe vor allem von ihrer größeren Kälteresistenz
profitiert hat. Diese höhere Kälteresistenz hat der asexuellen Sippe offensichtlich das Durchwandern
der besonders hohen südwestalpinen Gebirgsketten um den Mont Blanc erleichtert. "Die Kälteresistenz
ist vermutlich eine Folge der Polyploidisierung, hat also nur indirekt mit dem Verzicht auf sexuelle Reproduktion
zu tun", erklärt Elvira Hörandl von der Universität Göttingen, eine der international
führenden Forscherinnen auf diesem Gebiet.
Die asexuelle Fortpflanzung hatte aber sehr wohl auch direkte Vorteile: "Wenn Pflanzen der sexuellen und der
asexuellen Sippe gemeinsam vorkommen, sinkt der Reproduktionserfolg der sexuellen, weil bestäubende Insekten
einen Teil des Pollens zu den 'falschen' Blüten tragen", so Bernhard Kirchheimer von der Universität
Wien und Erstautor der Studie. Die asexuell reproduzierende Sippe hat dieses Problem nicht, weil ihre Eizellen
nicht befruchtet werden müssen. "Aus dieser Situation ergibt sich ein Konkurrenzvorteil, der dazu führt,
dass Populationen der asexuellen Sippe die weitere Ausbreitung der sexuellen blockieren können, während
das umgekehrt nicht der Fall ist", meint Kirchheimer.
Diese und weitere Simulationen in der Studie legen nahe, dass sich "Geographische Parthenogenese" nicht
auf eine einzige Ursache reduzieren lässt. Veränderungen des Chromosomensatzes, die den Verzicht auf
Sex oft begleiten, können eine wichtige Rolle spielen, und Toleranz gegen kältere Temperaturen und Unabhängigkeit
von Bestäubern bringen Konkurrenz- und Ausbreitungsvorteile, deren Wirksamkeit von den konkreten Wanderwegen
der Sippen abhängt. Wie so oft dürfte es das Zusammenspiel mehrerer Faktoren sein, das dieses auffällige
biogeographische Muster verursacht und "Geographische Parthenogenese" zu einem komplexen Phänomen
macht.
Publikation in "Ecology Letters": Kirchheimer,
B., Wessely, J., Gattringer, A., Hülber, K., Moser, D., Schinkel, C.C.F., Appelhans, M., Klatt, S., Caccianigia,
M., Dellinger, A., Guisan, A., Kuttner, M., Lenoir, J., Maiorano, L., Nieto-Lugilde, D., Plutzar, C., Svenning,
J.-C., Willner, W. Hörandl, E. & Dullinger, S. 2018: Reconstructing geographical parthenogenesis: effects
of niche differentiation and reproductive mode on Holocene range expansion of an alpine plant. Ecology Letters.
Doi: 10.1111/ele.12908
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