Klosterneuburg (ist) - Es mag offensichtlich erscheinen, dass vergangene Interaktionen zukünftige Entscheidungen
beeinflussen, auch wenn diese nicht mit dem vorher Erlebten zusammenhängen. Ein Fremder Mensch in der Warteschlange
zahlt für den Kaffee des Nachfolgenden, und dieser wiederum bezahlt daraufhin für den Fremden hinter
ihm. Keiner hatte Kontakt zu dem jeweils anderen, noch hat jemand einen Grund dem anderen einen Gefallen zu tun,
und dennoch tun sie es. Wenn ein Freund sich weigert einem zu helfen, ist man weniger geneigt, der nächsten
Person zu helfen, die um etwas bittet. Dies sind beides Fälle von „Crosstalk“ – so nennt man es, wenn frühere
Interaktionen sich auf damit nicht zusammenhängende zukünftige Entscheidungen auswirken. Obwohl dieses
Phänomen natürlich erscheinen mag, wurde es in Simulationen von wiederholten sozialen Dilemmata bisher
nie berücksichtigt. Ein neues Modell, das von Computerwissenschaftlern am IST Austria gemeinsam mit ihren
Kollegen in Harvard, Yale und Stanford entwickelt wurde, ermöglicht nun erstmals die Analyse der Auswirkungen
von Crosstalk zwischen Spielen.
Das sogenannte Gefangenendilemma ist ein klassisches Beispiel für ein soziales Dilemma. Es ist eine Situation,
in der es beiden Menschen besser ginge, wenn sie kooperieren, als wenn beide eigennützig sind, dennoch besteht
immer noch ein Anreiz zum Verrat. Wenn sich soziale Dilemmata wiederholen, entwickeln die Menschen (normalerweise
unterbewusst) eine Strategie, die vorgibt, wann sie kooperieren und wann sie den Mitspieler hintergehen. Die Forscher
untersuchen die Evolution von solchen Verhaltensweisen mithilfe von Computersimulationen. Sie weisen dabei virtuellen
Akteuren verschiedene Strategien zu und stellen fest, welche Strategien zur Entwicklung von Kooperation führen
und wie stabil die daraus resultierenden kooperativen Situationen sind. Erfolgreiche Strategien beinhalten zum
Beispiel "tit-for-tat" (der Spieler beginnt mit Kooperation, danach gilt: Wie du mir, so ich dir) oder
"win-stay, lose-shift" (Der Spieler beginnt mit Kooperation und ändert sein Verhalten immer wenn
er verliert).
In bisherigen Studien haben Wissenschaftler aber immer angenommen, dass ein Spieler nur mit einem einzigen anderen
Spieler interagiert (Bob spielt nur mit Alice), oder dass die Entscheidungen eines Spielers in einem Spiel völlig
unabhängig von seinen Entscheidungen in einem anderen Spiel sind (Bobs Spiele mit Alice haben keine Auswirkungen
auf seine Spiele mit Caroline). Diese Annahmen treffen jedoch nicht notwendigerweise auf reale soziale Dilemmata
zu: Menschen sind oft gleichzeitig an vielen Spielen beteiligt, und Interaktionen mit Spielern übertragen
sich in andere Spiele: es kommt zu „Crosstalk“.
Nun hat ein Forscherteam diese Einschränkung der Theorie in Angriff genommen, um die quantitative Bewertung
der Auswirkungen von Crosstalk auf die Kooperationsdynamik in einer Population zu ermöglichen. Das Team besteht
aus den beiden gemeinsamen Erstautoren Johannes Reiter, Absolvent des IST Austria und aktuell in Stanford, und
Christian Hilbe, Postdoc am IST Austria, sowie den Professoren David Rand (Yale), Krishnendu Chatterjee (IST Austria)
und Martin Nowak, (Harvard). Ihre verschiedenen Expertisen und Perspektiven, von evolutionärer Dynamiken,
über Spieltheorie, Psychologie bis hin zu Ökonomie, ermöglichten zusammen die Schaffung des neuen
Modells.
In einer Simulation erinnert sich jeder virtuelle Spieler an die Spiele, die er mit jedem der anderen Spieler gespielt
hat. In früheren Modellen würde ein Spieler ausschließlich seine Erfahrungen mit seinem aktuellen
Gegner berücksichtigen und nur auf dieser Basis je nach Spielstrategie eine Vorgehensweise festlegen. In dem
neuen Modell besteht die Möglichkeit, dass diese Erinnerungen durch die Erinnerungen an einen dritten Spieler
ersetzt werden. Diese Methode der Codierung von Crosstalk ist allgemein anwendbar und gilt für verschiedene
Arten von Crosstalk, sei es ein einfacher menschlicher Fehler wie das Verwechseln von Leuten, ein Weiterleiten
(man erinnert sich an seine gute Erfahrung) oder eine andere Art. Darüber hinaus kann es auf jedes gesellschaftliche
Netzwerk angewendet werden - von einer Gruppe, in der jeder alle anderen kennt, bis hin zu einem Kreis von Zufallskontakten.
Für Christian Hilbe war diese Entwicklung genau das, was der Theorie noch fehlte: "Wenn Sie wiederholte
Spiele modellieren, gibt es immer bestimmte Phänomene, die Sie beschreiben wollen. Für mich hat es sich
nie so angefühlt, als wären die Vorgängermodelle fertig. Als wir Crosstalk einführten, war
es, als würde sich endlich alles zusammenfügen - das ist das Modell, das wir verwenden sollten."
Menschliche Fehler wurden bereits zuvor in Simulationen von wiederholten sozialen Dilemmata berücksichtigt,
allerdings beeinflussten diese Fehler nur das Spiel, in dem sie auftraten. Crosstalk verursacht dagegen Wellen,
die sich durch die gesamte Bevölkerung ausbreiten: "Wenn Crosstalk eingeführt wird, spielt man nicht
gegen eine einzige Person - man spielt gegen jeden mit dem man verbunden ist – also gegen die ganze Gesellschaft",
erklärt Krishnendu Chatterjee.
Dies führt dazu, dass kooperatives und eigennütziges Verhalten sich viel leichter ausbreitet - selbst
ein einzelner Egoist kann den vollständigen Zusammenbruch der Kooperation in einer Gesellschaft verursachen,
wenn die anderen Spieler nicht ausreichend nachsichtig sind. Aber Crosstalk erfordert auch Strategien mit dem "richtigen"
Maß an Vergebung: zu hart, und man endet mit einer Gesellschaft, in der niemand kooperiert, zu großzügig,
und Verrat kann sich ausbreiten wenn Spieler lernen, andere Spieler auszunutzen. Crosstalk behindert darüber
hinaus die Entwicklung der Kooperation: Die Autoren implementierten ein evolutionäres Modell und fanden heraus,
dass Crosstalk die Anzahl der Gesellschaften, die in stabilen kooperativen Zuständen enden, verringert.
Der am 7. Feber in Nature Communications veröffentlichte Artikel birgt eine interessante Botschaft für
unsere heutige Gesellschaft. Johannes Reiter erklärt: "Das Vorhandensein von Crosstalk bedeutet, dass
die Spieler mehr Nachsicht zeigen müssen, speziell wenn das Netzwerk dicht verwoben ist. Eine harsche Strategie
der Zusammenarbeit, wie "Tit-for-Tat", hat in einem solchen Umfeld besonders katastrophale Auswirkungen."
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