ForscherInnen gelingt die Steuerung der Quantenwechselwirkungen in realistischem Material
Wien (universität) - Für Elektronik und Quantencomputer der Zukunft sind Materialien mit kontrollierbaren
quantenmechanischen Eigenschaften von großer Bedeutung. Es ist jedoch eine große Herausforderung, realistische
Materialien zu finden und zu entwickeln, die diese Effekte tatsächlich besitzen. Nun bestätigt ein internationales
Forschungsteam aus TheoretikerInnen und ComputerwissenschafterInnen um Cesare Franchini von der Universität
Wien, dass mehrere dieser quantenmechanischen Wechselwirkungen in einem einzigen, realistischen Material gleichzeitig
vorkommen können – und zeigen, wie diese durch ein elektrisches Feld kontrollierbar werden. Die Ergebnisse
der Studie erscheinen aktuell in Nature Communications.
Die Elektronik und Quantencomputer der Zukunft setzen auf Materialien, die quantenmechanische Eigenschaften besitzen
und von außen zum Beispiel mit Hilfe einer Batterie in einem mikroelektronischen Schaltkreis gesteuert werden
können. Quantenmechanik bestimmt unter anderem, wie schnell sich Elektronen durch ein Material bewegen können
und legen damit fest, ob das Material ein Metall ist, das elektrischen Strom leitet, oder ein Isolator, der keinen
Strom leiten kann. Außerdem steuert die Wechselwirkung der Elektronen mit der Kristallstruktur, ob ein Material
ferroelektrisches Verhalten haben kann. In diesem Fall ist es möglich, mithilfe eines äußeren elektrischen
Feldes zwischen zwei elektrischen Orientierungen zu schalten. Die Möglichkeit, mehrere quantenmechanische
Wechselwirkungen in ein- und demselben Material zu aktivieren ist nicht nur von grundsätzlichem wissenschaftlichen
Interesse, sondern kann auch das Spektrum möglicher Anwendungen erweitern.
Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung von Cesare Franchini und Jiangang He der Quantum Materials
Modelling Gruppe an der Universität Wien, in Zusammenarbeit mit James Rondinelli von der Northwestern University
und Xing-Qiu Chen von der Chinese Academy of Science, hat nun erstmals den Nachweis eines solchen Materials erbracht.
Mittels eines elektrischen Feldes können dessen Eigenschaften beeinflusst werden. "Es ist, als ob man
verschiedene Arten von Quantenwechselwirkungen aufwecken würde, die friedlich in demselben Haus schlummern,
ohne voneinander zu wissen", erklärt Cesare Franchini. Für ihre Entdeckung lösten die WissenschafterInnen
die relativistische Form der Schrödinger-Gleichung, indem sie Computersimulationen auf dem Vienna Scientific
Cluster durchführten. Das Material ihrer Wahl, die Verbindung Ag2BiO3, ist aus zwei Gründen besonders.
Zum einen ist es aus dem schweren Element Bismut aufgebaut, das es dem Spin des Elektrons ermöglicht, mit
seiner eigenen Bewegung wechselzuwirken (Spin-Bahn-Wechselwirkung) – eine Besonderheit, für die es in der
klassischen Physik keine Parallelen gibt. Zum anderen weist die Kristallstruktur des Materials keine Umkehrsymmetrie
auf, was nahelegt, dass Ferroelektrizität auftreten könnte.
"Mehrere quantenmechanische Eigenschaften, die oft nicht gemeinsam auftreten, miteinander in Einklang zu bringen
und dies außerdem zielgerichtet zu tun, ist äußerst schwierig", erläutert James Rondinelli.
Wenn man ein elektrisches Feld an das Oxid Ag2BiO3 anlegt, bestimmen winzige Änderungen in den Atomlagen,
ob sich die Spins in Paaren koppeln (Weyl-Fermion) oder trennen (Rashba-Trennung) und ob das Material ein elektrischer
Leiter oder Isolator ist. Franchini ergänzt: "Wir haben den ersten echten Fall eines topologischen Quantenübergangs
von einem ferroelektrischen Isolator zu einem nicht-ferroelektrischen Halbmetall gefunden". Die Spin-Bahn-Wechselwirkung
ist von fundamentaler Bedeutung, da sie neuartige Quantenzustände von Materie verwirklicht und eines der aktuellsten
Forschungsgebiete moderner Physik darstellt. Auch in Bezug auf mögliche Anwendungen gibt es vielversprechende
Aussichten: Die Kontrolle über die Quantenwechselwirkungen in einem echten Material könnte ultraschnelle,
beinahe verlustlose Elektronik und damit Quantencomputer ermöglichen. Das wäre ein wesentlicher Technologiesprung
im Bereich der Datengewinnung, der Datenverarbeitung und des Datenaustauschs.
Publikation in "Nature Communications": J.
He, D. Di Sante, R. Li, X.-Q. Chen, J.M. Rondinelli, C. Franchini Tunable metal-insulator transition, Rashba effect
and Weyl Fermions in a relativistic charge-ordered ferroelectric oxide, Nature Communication 4,9, 492 (2018).
DOI:10.1038/s41467-017-02814-4
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