Offizieller Besuch in Estland: Bundespräsident fordert
 ein engeres Zusammenrücken der 27 EU-Staaten

 

erstellt am
04. 06. 18
13:00 MEZ

Im Vordergrund der Visite stehen die österreichische EU-Ratspräsidentschaft, der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen und die 100-Jahr-Feiern zur estnischen Unabhängigkeit
Tallinn/Wien (apa/prk) - Bundespräsident Alexander Van der Bellen traf zum Auftakt seines offiziellen Besuches in Estland Präsidentin Kersti Kaljulaid und den estnischen Premierminister Jüri Ratas. Zentrales Thema des Besuches ist die Vorbereitung des am 1. Juli beginnenden österreichischen EU-Ratsvorsitzes. Eine besondere Rolle spielen aber auch estnische Wurzeln des Bundespräsidenten.

Am Freitag traf Alexander Van der Bellen erneut auf seine Amtskollegin und pflanzte in Erinnerung an 100. Jahre estnische Unabhängigkeit eine Eiche und hielt eine Festrede auf einer Konferenz zur Außen- und Sicherheitspolitik. Zudem nimmt der Bundespräsident am Freitag an einem österreichisch-estnischen Wirtschaftsforum teil und informiert sich über Estland als digitales Vorzeigeland.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen für effizientere EU-Außenpolitik
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in einem Interview mit dem estnischen Fernsehsender ETV ein engeres Zusammenrücken der 27 EU-Staaten vor allem in punkto Außenpolitik gefordert. Van der Bellen mahnte angesichts der weltpolitischen Situation außerdem zur Eile. Es sei nicht genug, wenn es nur manchmal gelinge, zu einer gemeinsamen Position zu finden.

In dem - teilweise - am Donnerstag ausgestrahlten Interview machte sich Alexander Van der Bellen angesichts der politischen Entwicklung in den USA, Russland und China Sorgen darüber, dass die gemeinsame Entscheidungsfindung der EU zu langsam sein könnte. "Es wird uns in naher Zukunft auf den Kopf fallen, wenn wir nicht darüber nachdenken, wie wir die EU staatsähnlich machen können. Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik. Manchmal erreichen wir sie, dann wieder haben wir 27 verschiedene Meinungen. Das ist künftig nicht genug", zitierte der Sender den Bundespräsidenten.

Alexander Van der Bellen nahm in dem Interview weiters Stellung zu den Plänen der österreichischen Bundesregierung, verpflichtende Deutschkenntnisse für Asylwerber einzuführen. Dass diese Pläne zum Streit mit der EU führen könnten, sehe er nicht. Nur Englisch zu sprechen, reiche zwar für Top-Manager und höher qualifizierte Jobs aus, für den Rest sei es aber wichtig, mittel- oder langfristig die Landessprache zu beherrschen, das sei "offensichtlich".

Gefragt darüber, was bei seinem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin kommende Woche bei dessen Österreich-Besuch zur Sprache kommen werde, sagte Alexander Van der Bellen, man werde sehen, worüber Putin bereit sei, zu sprechen. Falls die Frage der EU-Sanktionen wegen des Ukraine-Konflikts aufkomme, werde er "keinen Zweifel" daran lassen, dass sich Österreich weiterhin an die EU-Linie halten werde.

Bundespräsident: Strache-Vorstoß zur Personenfreizügigkeit chancenlos
Bundespräsident Alexander Van der Bellen glaubt nicht, dass der Vorschlag von Vizekanzler Heinz-Christian Strache in Bezug auf eine Abschwächung der EU-Personenfreizügigkeit umsetzbar ist. Das erklärte Van der Bellen am Donnerstag in einem gemeinsamen Pressegespräch mit seiner estnischen Amtskollegin Kersti Kaljulaid in Tallinn.

Würde man diesen Vorschlag ernst nehmen, müsste man angesichts der Bedeutung von Personenfreizügigkeit als eine der vier Säulen der EU europäisches Recht massiv verändern, sagte er. "Ich sehe absolut keine Chance, dass dieser Vorschlag umgesetzt werden könnte und das ist gut so", erklärte der Bundespräsident.

Bundespräsident nahm an estnischen Jubiläumsfeiern teil
Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat im Rahmen seines Besuchs in Estland an einer symbolträchtigen Zeremonie teilgenommen. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der estnischen Unabhängigkeit pflanzte er am Freitag gemeinsam mit seiner Amtskollegin Kersti Kaljulaid eine von 100 Eichen im Kleinstädtchen Tamsalu.

Van der Bellen war am Vormittag über holprige Landstraßen eigens in den etwa 100 Kilometer östlich von Tallinn gelegenen Ort gereist, dessen Name sich mit "Eichenhain" übersetzen lässt. Tamsalu sei symbolisch der beste Ort für einen von knapp 30 landesweiten "Eichenwäldern" mit jeweils 100 Eichen, mit denen an die estnische Unabhängigkeit erinnert werde, sagte Staatssekretär Heiki Loodi. Eichen gelten in Estland seit vorchristlicher Zeit als heilige Bäume, mit Eichenwäldchen war hier bereits in den späten 1930er-Jahren die Eigenstaatlichkeit gefeiert worden.

Bei der Pflanzung des Baumes durch Präsidentin Kersti Kaljulaid und Bundespräsident Alexander Van der Bellen wurde daran erinnert, dass die Eltern des Bundespräsidenten bis 1941 in Estland gelebt hatten. "Ich finde, dass es eine schöne symbolische Geschichte ist, an diesem Tag eine Eiche zu pflanzen. Eichen werden sehr alt und ich wünsche jeder dieser Eichen ein sehr langes Leben – als Schutzschild über Estland", sagte das österreichische Staatsoberhaupt anschließend vor lokalen Journalisten.

Am späten Nachmittag wird der Bundespräsident eine Festrede auf der Lennart Meri Konferenz in der estnischen Hauptstadt Tallinn halten, die sich traditionell mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid bei bilateralem Wirtschaftsforum in Tallinn - Interesse an estnischem E-Government
Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid haben am Freitagnachmittag bei einem österreichisch-estnischen Wirtschaftsforum für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen plädiert. Van der Bellen zeigte Interesse an E-Government in Estland, warnte aber vor autoritären Regimen, die sich zeitgenössischer digitaler Werkzeuge bedienen könnten.

"Estland hat es irgendwie geschafft, mit Skype, TransferWise PlayTech, und Taxify vier 'Einhörner' (Startup-Unternehmen im IT-Bereich mit Marktwert von mehr als einer Milliarde Dollar, Anm.) zu kreieren. Wir haben als Land die weltweit größte Dichte an derartigen Unternehmen", sagte Präsidentin Kaljulaid vor estnischen und österreichischen Geschäftsleuten. Möglich sei dies durch Bemühungen des estnischen Gesetzgebers geworden, der seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 wirtschaftsfreundliche Bedingungen geschaffen habe, warb Kaljulaid für Estland als Wirtschaftsstandort.

Im Bereich von Handel und Dienstleistungen habe es 2017 zwischen Österreich und Estland einen Umsatz von 320 Millionen Euro gegeben, erzählte Van der Bellen. "Angesichts der Größe der beiden Staaten ist das viel, aber es gibt Raum für Wachstum", betonte er. Bei erneuerbarer Energie und im umweltfreundlichen Bau gebe es gemeinsame Interessen, erklärte der Bundespräsident, der mit Verweis auf estnische Erfahrungen auch die Bedeutung von Digitalisierung für künftige wirtschaftliche Entwicklungen unterstrich.

Bereits vor seinem Besuch des Wirtschaftsforums hatte sich der österreichische Bundespräsident in einem staatlichen Showroom über E-Government, die Verwendung von Informationstechnologien in der estnischen Verwaltung, informieren lassen. Esten werden etwa automatisch über den Ablauf von Führerscheinen informiert und können online neue Dokumente bestellen, einige Sozialleistungen werden automatisch ausbezahlt, die Verknüpfung staatlicher Datenbanken macht dies möglich.

Er würde dem demokratischen Estland ohne Zweifel seine Daten anvertrauen, kommentierte Van der Bellen. "Aber was mit autoritären oder totalitären Regimen? Mit so einem System (E-Government, Anm.) wäre politischer Widerstand unmöglich", warnte er.

 

 

 

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