Länder erhalten beim Grundsatz "Beraten statt strafen" mehr Spielraum
Wien (pk) - Ist es sinnvoll, dass Behörden bei geringfügigen Rechtsverstößen die Betroffenen
zunächst belehren und abmahnen müssen und erst dann eine Strafe verhängen dürfen, wenn der
rechtskonforme Zustand innerhalb einer gesetzten Frist nicht hergestellt wird? Oder fördert das die Rücksichtslosigkeit
von Unternehmen und Personen, da ihnen ohnedies keine Sanktionen drohen, wenn sie das erste Mal bei einer Verwaltungsübertretung
ertappt werden? In dieser Frage schieden sich zuletzt die Geister. Am 4. Juli hat der Nationalrat mit einer
Novellierung des Verwaltungsstrafgesetzes einen vorläufigen Schlussstrich unter die Debatte gesetzt. Am Ende
herausgekommen ist ein Kompromiss: Demnach kann in den jeweiligen Verwaltungsvorschriften verankert werden, dass
der Grundsatz "Beraten statt strafen" für bestimmte Verstöße nicht anzuwenden ist.
Die neuen Bestimmungen sind Teil eines umfangreichen Gesetzespakets, das insbesondere auf mehr Effizienz und Transparenz
bei Verwaltungsstrafverfahren abzielt. Zudem werden auch einige Schritte zur Beschleunigung von Verwaltungsverfahren
gesetzt. Der Beschluss im Nationalrat fiel mit den Stimmen der Koalitionsparteien; SPÖ, NEOS und Liste Pilz
beurteilten einzelne Punkte weiter kritisch
Einstimmig und damit mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit votierten die Abgeordneten für ein neues Bundesgesetz,
mit der die EU-Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen für den Bereich
des Verwaltungsstrafrechts umgesetzt wird. Zuvor war das Gesetz mit einem Abänderungsantrag noch um einen
kleinen Passus ergänzt worden.
Grundsatz "Beraten statt strafen" bleibt umstritten
Bereits in dem von der Regierung vorgeschlagenen Gesetzentwurf war der nunmehr in das Verwaltungsstrafgesetz eingefügte
Grundsatz "Beraten statt strafen" sehr eng gefasst. Abmahnungen und Belehrungen erhalten ab 2019 demnach
nur dann Vorrang vor einer Strafe, wenn es sich um geringfügige Übertretungen handelt und das durch die
Vorschrift geschützte Rechtsgut von weniger großer Bedeutung ist. So dürfen etwa weder Personen
noch Sachgüter je gefährdet gewesen sein. Auch bei vorsätzlichem Verhalten oder wiederholten gleichartigen
Übertretungen ist ein Strafverzicht grundsätzlich ausgeschlossen. Zudem ist der rechtskonforme Zustand
innerhalb einer von der Behörde gesetzten Frist herzustellen.
Mit dem heute von den Koalitionsparteien vorgelegten Abänderungsantrag wurde eine weitere Schranke eingezogen.
Demnach soll in den jeweiligen Verwaltungsvorschriften vorgesehen werden können, dass der Beratungs-Paragraph
für bestimmte Rechtsverstöße nicht zur Anwendung gelangt. Damit wollen ÖVP und FPÖ Bedenken
entgegentreten, dass durch die neuen Bestimmungen Verwaltungsstraftaten Vorschub geleistet wird.
Eingebracht wurde der Abänderungsantrag von Maria Smodics-Neumann (ÖVP). Sie begrüßte in Einklang
mit ihren Fraktionskollegen Wolfgang Gerstl und Josef Lettenbichler den neuen Beratungsparagraphen ausdrücklich.
Niemand könne alle Vorschriften kennen, es sei ein neuer Zugang, wenn man sage, dass eine Behörde beratend
tätig werden solle, bevor sie eine Strafe ausspricht, meinte sie. Schließlich könne ein Verwaltungsstrafverfahren
auch Nachteile bei Ausschreibungen und Förderansuchen bringen.
"Wir wollen entkriminalisieren", ortet auch Gerstl einen neuen Zugang zum Verwaltungsstrafrecht. Statt
gleich zu strafen, sollten die Menschen zu einem rechtskonformen Umgang angeleitet werden. Zur Anwendung kommen
könnte der Beratungs-Paragraph ihm zufolge etwa dann, wenn jemand im Zuge einer Übersiedlung vergessen
hat, sein Auto umzumelden.
Die SPÖ ließ sich von den Argumenten allerdings nicht überzeugen. Zwar begrüßte Johannes
Jarolim die vorgenommene Abänderung, nach Meinung von Angela Lueger wäre es aber zweckmäßiger
gewesen, in den einzelnen Materiengesetzen zu regeln, in welchen Fällen der Grundsatz "Beraten statt
strafen" anzuwenden ist. Durch die generelle Norm, verbunden mit Ausnahmemöglichkeiten, bestehe die Gefahr,
dass es zu unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesländern für denselben Sachverhalt komme.
Für das durch den Gesetzentwurf entstandene "Chaos" in den vergangenen Tagen machte Jarolim Bundeskanzler
Sebastian Kurz verantwortlich. Dessen Vorgaben seien juristisch nicht umsetzbar, hielt er fest. Ausdrückliches
Lob gab es hingegen für das Bemühen von Justizminister Josef Moser, den Entwurf doch noch zu verbessern.
Bedauert wurde die Ablehnung des Beratungs-Paragraphen durch die SPÖ von ÖVP-Abgeordnetem Lettenbichler.
Künftig hätten die Behörden die Möglichkeit, zwischen einer unwissentlichen Übertretung
mit geringen Auswirkungen und einem vorsätzlichen Rechtsbruch zu unterscheiden, machte er geltend. Derzeit
gebe es in vielen Bereichen verhältnismäßig hohe Strafen für geringfügige Rechtsverstöße.
Die in den vergangenen Tagen geäußerten Bedenken gegen den Beratungs-Paragraphen sieht Harald Stefan
(FPÖ) durch den Abänderungsantrag ausgeräumt. Grundsätzlich sei es bei geringfügigen Übertretungen
sinnvoll, wenn die Behörde zunächst berate und erst dann strafe, wenn der rechtskonforme Zustand nicht
innerhalb der gesetzten Frist hergestellt wird, betonte er. Zumal nur Dauerdelikte umfasst seien und Vorsatztaten
wie Glücksspiel nicht darunter fielen. Zum Grundsatz "Beraten statt strafen" bekannte sich auch
NEOS-Abgeordneter Nikolaus Scherak.
Liste Pilz und NEOS sehen erweiterte Polizeibefugnisse kritisch
Vorrangig ein Problem mit einem anderen Punkt des Gesetzespakets hat die Liste Pilz. Sie kritisiert, dass Sicherheitsorgane
in Hinkunft nicht mehr nur dann eine Identitätsfeststellung vornehmen können, wenn sie jemanden auf frischer
Tat bei einer Verwaltungsübertretung ertappen, sondern auch unmittelbar nach einer Tathandlung, sofern die
betreffende Person glaubwürdig der Tatbegehung beschuldigt wird oder Gegenstände bei sich hat, die auf
ihre Beteiligung an der Tat hinweisen. Alfred Noll fürchtet, dass durch diese Bestimmung der nachbarlichen
Vernaderung Tür und Tor geöffnet wird. Sicherheitsorgane müssten künftig etwa behauptete Verwaltungsübertretungen
wie nächtliche Ruhestörung nicht mehr selbst wahrnehmen, um einschreiten und Personalien aufnehmen zu
dürfen. Diesen Bedenken schloss sich auch NEOS-Abgeordneter Scherak an.
FPÖ-Verfassungssprecher Stefan glaubt allerdings nicht, dass die neue Bestimmung überschießend
angewendet wird. Sie ist ihm zufolge in Zusammenhang mit den neuen Regelungen für SchwarzfahrerInnen zu sehen.
Diese haben künftig 14 Tage Zeit, eine Strafe zu zahlen, vorausgesetzt ihre Identität wurde zuvor festgestellt.
Diese Identitätsfeststellung soll auch dann möglich sein, wenn die Straßenbahn, aus der der Kontrolleur
mit dem Schwarzfahrer ausgestiegen ist, die Station bereits verlassen hat, skizzierte er.
Auch bei manchen Verwaltungsdelikten gilt künftig die Unschuldsvermutung
Ein weiterer Kritikpunkt von Noll ist der Umstand, dass von der im Verwaltungsstrafrecht grundsätzlich geltenden
"Schuldvermutung" nun nur in sehr selektiver Form Abstand genommen wird. Nur wenn eine Verwaltungsstrafe
über 50.000 € droht, soll künftig wie im Strafrecht die Unschuldsvermutung zum Tragen kommen. Das sei
ein Ansatz "ohne Courage und ohne Herz", kritisierte Noll. Während die Behörde "den Großen"
künftig einen Vorsatz nachweisen müsse, gelte für "Kleine" weiter die Schuldvermutung.
Noll plädierte demgegenüber für eine Grenze von 500 € oder 1.000 €, damit seien Bagatelldelikte
ohnehin draußen.
Auch die SPÖ forderte in diesem Bereich Änderungen, wobei Angela Lueger eine Grenze von 5.000 € vorschlug.
Dann würden auch natürliche und nicht nur juristische Personen darunterfallen. Ihr Fraktionskollege Jarolim
glaubt ohnehin, dass die Grenze von 50.000 € verfassungsrechtlich nicht halten wird, da sie eine willkürliche
sei.
FPÖ-Verfassungssprecher Stefan begrüßte hingegen die neue Bestimmung ausdrücklich. Es sei
unbillig, dass man im Verwaltungsstrafrecht derzeit auch bei sehr hohen Strafdrohungen selbst beweisen müsse,
dass man unschuldig ist. Deshalb werde das Prinzip bei Strafdrohungen über 50.000 € umgekehrt. Künftig
müsse die Behörde ein Verschulden nachweisen.
Beschleunigung von Verwaltungsverfahren, einheitliche Strafkataloge
Als weiteren wesentlichen Punkt des Gesetzespakets hoben Stefan und ÖVP-Verfassungssprecher Gerstl die Maßnahmen
zur Beschleunigung von Verwaltungsverfahren hervor. Derzeit könne man Verfahren fast unendlich hinauszögern,
indem man immer wieder neue Eingaben mache, kritisierten die beiden. Nun würde derartigen Verfahrensverschleppungen
ein Riegel vorgeschoben.
Begrüßt wurde von Gerstl darüber hinaus auch die vorgesehene Vereinheitlichung der Strafkataloge.
Es sorge für mehr Rechtssicherheit und Klarheit, wenn etwa bestimmte Verkehrsdelikte überall gleich bestraft
werden, egal ob sie in Wien oder Niederösterreich begangen wurden, hielt er fest. Angela Lueger (SPÖ)
bedauerte hingegen, dass es im Bereich des Verwaltungsstrafrechts, anders als in anderen Bereichen, weiter nicht
möglich sein wird, eine Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Leistungen abzudienen.
Moser: Gesetz bringt Entbürokratisierung und Entkriminalisierung
Justizminister Josef Moser betonte, dass man beim Grundsatz "Beraten statt strafen" die Bestimmungen
des Arbeitsinspektionsgesetzes zum Vorbild genommen habe. Es sei "sicher ein Weg, der richtig ist", betonte
er. Auch bei den neuen Bestimmungen zur Unschuldsvermutung gehe es um eine Entkriminalisierung. Für die Grenze
von 50.000 € gibt es laut Moser mehrere Anknüpfungspunkte, er kann sich aber vorstellen, diese Grenze in weiterer
Folge nach einer Evaluierung weiter zu senken.
Viele im Paket enthaltene Maßnahmen wie etwa die Möglichkeit, einen Einspruch gegen eine Strafverfügung
zurückzuziehen, würden überdies eine Entbürokratisierung bringen, unterstrich Moser. Hervorgehoben
wurden von ihm außerdem die neue Verfahrensförderungspflicht der Parteien in Verwaltungsverfahren und
die Möglichkeit, für einzelne Deliktstypen einheitliche Strafobergrenzen festzulegen. Zu den neuen Polizeibefugnissen
in Bezug auf Identitätsfeststellungen merkte er an, die strenge Auslegung des Verfassungsgerichtshofs stehe
einer exzessiven Auslegung der Bestimmungen entgegen.
Erweiterte Verfahrensrechte für Beschuldigte
Mit dem verabschiedeten Gesetzespaket werden auch Verfahrensrechte von Beschuldigten ausgeweitet, etwa was die
Beiziehung eines Verteidigers, verständliche Rechtsbelehrungen und die Übersetzung von Strafverfügungen
betrifft. Außerdem erhalten Sicherheitsorgane das Recht, zur Durchsetzung ihrer Befugnisse "angemessenen
Zwang" anzuwenden, auch wird ihnen das sprengelübergreifende Einschreiten erleichtert. Im Interesse einer
möglichst einheitlichen Strafpraxis und aus Gründen der Gleichbehandlung und der Transparenz sind einheitliche
Deliktskataloge für Strafverfügungen, Anonymverfügungen und Organstrafen vorgesehen. Wer zur Begleichung
einer Anonymverfügung versehentlich zu viel eingezahlt hat, muss nicht mehr automatisch mit einem Strafverfahren
rechnen. SchwarzfahrerInnen haben für das Begleichen einer Strafe künftig 14 statt drei Tage Zeit, sofern
ihre Identität festgestellt wurde.
Um Verwaltungsverfahren zu beschleunigen, wird Behörden und Verwaltungsgerichten mit der Novelle die Möglichkeit
eingeräumt, Ermittlungsverfahren mit Schluss der mündlichen Verhandlung für beendet zu erklären.
Auch sonst wird es Parteien erschwert, im letzten Augenblick noch neue Tatsachen und Beweismittel vorzubringen.
Außerdem sind Parteien in Hinkunft ausdrücklich dazu angehalten, "ihr Vorbringen so rechtzeitig
und vollständig zu erstatten, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann".
Bundesgesetz über die Europäische Ermittlungsanordnung in Verwaltungsstrafsachen
Einstimmig verabschiedete der Nationalrat ein eigenes Bundesgesetz, mit dem die EU-Richtlinie über die Europäische
Ermittlungsanordnung in Strafsachen für den Bereich des Verwaltungsstrafrechts umgesetzt wird. Ziel des Vorhabens
ist es, grenzüberschreitende Beweiserhebungen in Verwaltungsstrafsachen durch ein einheitliches Verfahren,
standardisierte Formulare und vorgegebene Fristen zu beschleunigen. Zudem ist der EU-Vorgabe, wonach grenzüberschreitende
Ermittlungsanordnungen einer Verwaltungsbehörde durch einen Richter, ein Gericht oder einen Staatsanwalt auf
ihre Validität zu prüfen sind, Rechnung zu tragen. Diese Aufgabe sollen in Österreich die Verwaltungsgerichte
übernehmen.
Mit berücksichtigt bei der Abstimmung wurde ein im Zuge der Debatte von Abgeordnetem Nikolaus Scherak eingebrachter
Fünf-Parteien-Abänderungsantrag, mit dem im Gesetz eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für das
in der EU-Richtlinie vorgesehene Konsultationsverfahren zwischen der ausführenden und der anordnenden Behörde
geschaffen wird. Dieses soll demnach dann zur Anwendung kommen, wenn eine Ermittlungsanordnung unverhältnismäßig
erscheint bzw. die gewünschte Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht
zur Verfügung stünde. Zudem wurden die Erläuterungen zum Gesetz präzisiert.
Damit sah auch die Opposition ihre im Ausschuss vorgebrachten Bedenken ausgeräumt. Es handle sich um vernünftige
Bestimmungen, sagte etwa Peter Wittmann (SPÖ). NEOS-Abgeordneter Nikolaus Scherak verwies insbesondere auf
die in die Begründung des Abänderungsantrags aufgenommene Feststellung, wonach es Beschuldigten grundsätzlich
auch in Verwaltungsstrafverfahren möglich ist, Beweisanträge zu stellen.
Wittmann kritisiert Amtsführung des Nationalratspräsidenten
SPÖ-Abgeordneter Wittmann nutzte die Debatte in erster Linie allerdings dazu, um massive Kritik an Nationalratspräsident
Wolfgang Sobotka zu üben. Anders als seine VorgängerInnen lasse dieser eine objektive Amtsführung
vermissen, beklagte er. Sobotka hätte seiner Meinung nach etwa Sorge dafür zu tragen, dass Gesetzentwürfe
ordentlich begutachtet und den tatsächlich zuständigen Ausschüssen zugewiesen werden. Es brauche
überdies ein selbstbewusstes Auftreten des Parlaments gegenüber der Regierung.
Zurückgewiesen wurden die Vorwürfe von ÖVP-Verfassungssprecher Gerstl. Sobotka habe bei keiner seiner
Entscheidungen verfassungswidrig gehandelt, betonte er. Im Übrigen habe sich in der Vergangenheit die Usance
eingespielt, in der Präsidiale nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Wenn eine Fraktion für eine
gemeinsame Lösung nicht bereit sei, müsse Sobotka entscheiden, meinte er in Richtung SPÖ.
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