Neue wiiw Studie über Potenziale einer „Europäischen Seidenstraße“ – EU benötigt
kohärentes Infrastrukturnetz und Verkehrsstrategie, um Potenziale zu heben
Wien (wiiw) - Chinas Belt-and-Road-Initiative (BRI), die „Neue Seidenstraße“, umfasst milliardenschwere
Investitionen in Infrastruktur und andere Bereiche. China will damit einen neuen Wirtschaftsraum von Westchina
bis Mitteleuropa schaffen. Das Projekt weckt große Erwartungen, auch in Europa, wenngleich Europa auf diese
große Infrastrukturinitiative Chinas bisher eher passiv reagiert hat. Das Wiener Institut für Internationale
Wirtschaftsvergleiche (wiiw) beschäftigt sich in einer neuen Studie damit, wo und wie eine „Europäische
Seidenstraße“ verlaufen und welche Potenziale sich daraus ergeben können. Mario Holzner, leitender Studienautor
und stellvertretender Leiter des wiiw, kommt zum Ergebnis: „Die Zurückhaltung Europas ist aus unserer Sicht
nicht nachzuvollziehen. Insbesondere im Osten des Kontinents gibt es bedeutende Infrastrukturlücken zu füllen
und Einkommensunterschiede auszugleichen. Wir sehen daher enorme Potenziale, die sich für verschiedenste Bereiche
in Europa ergeben.“
Aus den ökonomischen Berechnungen lässt sich ableiten, dass eine „Europäische Seidenstraße“,
die den bevölkerungsreichen, aber schwächer entwickelten Osten mit den industriellen Zentren im Westen
Europas verbindet, sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig für mehr Wachstum und Beschäftigung
sorgen würde. Daher plädiert das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche in seiner
Studie für einen „Big Push“ bei den Infrastrukturinvestitionen in Europa und schlägt den Bau einer „Europäischen
Seidenstraße“ vor.
„Europäische Seidenstraße“ erschließt Wachstumsregion im Osten
Im Osten Europas leben rund 480 Millionen Menschen und damit beinahe so viele Einwohner wie in der EU selbst
(510 Millionen). Sie verfügen allerdings über nur ein rund halb so hohes Einkommen wie das durchschnittliche
Einkommen innerhalb der Europäischen Union. Daraus ergeben sich enorme Marktpotenziale: So identifiziert die
Studie „Europas Seidenstraße“ ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3,5 Prozent
über einen Investitionszeitraum von 10 Jahren. Zeitgleich kann eine „Europäische Seidenstraße“
zu einem Anstieg der Beschäftigung von 2 bis 7 Millionen führen – unter günstigen Umständen
und bei weiterhin anhaltenden niedrigen Zinsen.
Neben positiven Beschäftigungseffekten bewirkt ein solcher Ausbau der Verkehrswege bedeutende Zeitersparnisse.
Durch eine verbesserte Infrastruktur und Anbindung zum russischen Zentralraum können über 8% der Transportzeit
im Straßenverkehr eingespart werden, was einer Fahrzeitreduktion von rund 2,5 Stunden entspricht. Holzner
dazu: „Länder entlang einer Route, die durch den Norden Europas führt, könnten ihre Exporte nach
Russland um mehr als 11% steigern. Das wären zusätzliche Exporte von über 12,5 Milliarden Euro.“
Westeuropa und Österreich potenzielle Hauptprofiteure
Westeuropa und speziell Österreich würden ganz besonders von diesen Infrastrukturmaßnahmen
profitieren und könnten ihre Märkte in der östlichen Nachbarschaft erweitern. Laut Berechnungen
des wiiw würden Österreichs Russland-Exporte um über 14% ansteigen, das entspricht einem Zuwachs
von rund 330 Millionen Euro. Allein durch die Bautätigkeit würden 34.000 bis zu 121.000 neue Arbeitsplätze
in Österreich geschaffen.
Die Vision: ein europäischer Verkehrsbinnenmarkt
Die Untersuchungen zeigten jedoch auch, dass das europäische Transportnetz in vielen Ländern renovierungsbedürftig
und zu modernisieren ist. Insbesondere im Osten fehlt es an modernen Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszugstrecken.
„Eine Europäische Seidenstraße führt dann zum Erfolg, wenn konsequent auf allen Ebenen ein gemeinsames
Infrastrukturnetz geschaffen wird. Dazu gehören See- und Fluss- sowie Flughäfen und vor allem der Aufbau
von modernen Autobahn- und Hochgeschwindigkeitszugstrecken mit Logistikzentren“, so Holzner. Eine solche Initiative
würde auch die Bemühungen um eine ausgeprägtere wirtschaftliche Integration und mehr politische
Kooperation stärken. Parallel dazu an europäischen Standards zu arbeiten, beispielsweise in der E-Mobilität,
erhöhe nicht nur die Wertschöpfung, sondern könne nachhaltig die Stellung Europas festigen, so die
Studienautoren.
Die Kosten für den Vollausbau des Infrastrukturnetzes werden vom wiiw mit rund 1.000 Milliarden Euro oder
rund 8% des Bruttoinlandsproduktes der entlang den beiden Routen liegenden Länder veranschlagt. Das sind Kosten
in der Höhe von 7% relativ zur Wirtschaftsleistung der EU. Neben wirtschaftlichen Potenzialen innerhalb Europas
könnte eine „Europäische Seidenstraße“ auch die zukünftigen Zugangspunkte nach Ostasien definieren
und somit auch an die „Neue Seidenstraße“ Chinas sinnvoll anschließen.
Möglicher Verlauf der Nord- und Südroute
Zwei mögliche Hauptrouten einer „Europäischen Seidenstraße“ wurden vom wiiw identifiziert,
die die Zentren der westeuropäischen Industrie mit der östlichen Nachbarschaft im größeren
Europa verbinden und zusammen eine Strecke von 11.000 Kilometern umfassen.
Die Nordroute einer „Europäischen Seidenstraße“ verläuft von Lissabon bis Uralsk an der russisch-kasachischen
Grenze. Kernstücke sind im Norden die Strecke vom französischen Industriezentrum Lyon über den Duisburger
Hafen, eines der wichtigsten Logistikzentren im Nordwesten, bis Moskau. Im Südwesten führen Erweiterungen
dieser Route von Lyon über Barcelona bis nach Madrid und Lissabon und im Osten von Moskau über Nischni
Nowgorod und Samara bis in den russisch-kasachischen Grenzort Uralsk.
Die Südroute einer „Europäischen Seidenstraße“ hat ihren Anfangspunkt in der Region um Mailand,
dem größten italienischen Ballungsraum und wirtschaftlichen Zentrum des Landes. Von Mailand verläuft
ihre Kernstrecke über Zürich und den industriell hochentwickelten süddeutschen Raum entlang des
Donautales über Wien und Budapest nach Bukarest und bis zum Hafen von Konstanza am Schwarzen Meer. Über
den Seeweg kann sowohl der russische Hafen von Noworossijsk und weiter nach Wolgograd angesteuert, aber auch der
georgische Hafen Poti und Tiflis bis nach Baku am Kaspischen Meer erreicht werden.
Zur Studie
Die Ergebnisse der Studie basieren auf theoretischen und langfristig-empirischen Untersuchungen. Infrastrukturlücken
wurden mit Hilfe von physischen Infrastrukturdaten relativ zum europäischen Durchschnitt identifiziert. In
Kombination mit Einheitskostendaten wurden damit die Gesamtkosten der Investitionspotenziale errechnet. Mögliche
Auswirkungen auf Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum sowie den internationalen Handel wurden mit Hilfe
von Wachstums- und Gravitationsmodellen geschätzt.
Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche
Mit über 45 Jahren Erfahrung und einem 44-köpfigen Team aus Wirtschaftswissenschaftern, Statistikern
und Projektmanagern ist das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) eines der europaweit
führenden Zentren der Wirtschaftsforschung über Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Weltweite Wirtschaftsentwicklungen
und die europäische Wirtschaftspolitik sind ebenfalls Forschungsgegenstand; so entstanden umfassende Forschungsdatenbanken,
die international genutzt werden. Im globalen Think Tank Ranking der Universität Pennsylvania belegt das wiiw
Rang 4 in der Kategorie der „International Economics“ Think Tanks.
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