Mit Beiträgen von: Battle-ax, Marcel Beyer, Ann Cotten, Jeremiah Day, Bart de Kroon, Jan
Erbelding, Alix Eynaudi, Lena Grossmann, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Public Possession, Felix Leon Westner
Berlin/Wien (kunsthalle) - Die Kunsthalle Wien widmet dem deutschen Künstler Olaf Nicolai mit There
Is No Place Before Arrival eine umfangreiche Ausstellung. Bekannt für sein ideenreiches Werk, das sich durch
die Verwendung unterschiedlicher Materialien und Medien auszeichnet, entwickelte Nicolai im Laufe der letzten fünfundzwanzig
Jahre konzeptuelle Werke von großer Komplexität und Poesie. Seine vielfältigen interdisziplinären
Projekte nehmen Bezug auf die primäre Erfahrung von Raum, Zeit und Körperlichkeit. Performative Elemente,
sich verändernde Werke, modifizierte Alltagsgegenstände und Ikonen der Populärkultur sowie ein umfangreiches
Bezugsfeld aus singulären Momenten der Politik- und Geistesgeschichte charakterisieren seine künstlerische
Praxis. Nicolais interdisziplinäre Arbeitsweise umfasst Biologie, Architektur und Philosophie, aber auch Science-Fiction,
Design und Musik. Seine multimediale Praxis hinterfragt unsere gewohnten Sichtweisen und reflektiert die Art und
Weise, in der die Verbindung zwischen Bedeutung und Erfahrung sich immer wieder neu gestaltet. Nicolai arbeitet
mit verschiedenen Materialien und schafft konzeptionelle Werke von großer inhaltlicher und sinnlicher Dichte.
Er entwickelt vielfältige interdisziplinäre Projekte, die die elementaren Erfahrungen von Raum, Zeit
und Körperlichkeit thematisieren.
"Die Methode" als künstlerische Arbeitsweise
There Is No Place Before Arrival stellt Fragen einer speziellen "Methode" ins Zentrum - einer Praxis,
die nicht nur Nicolais künstlerische Arbeitsweise bestimmt, sondern auch selbst Werkcharakter annimmt. Für
die Ausstellung in der Kunsthalle Wien beauftragte Olaf Nicolai mehrere Straßen- und Theatermaler/innen,
zweiundzwanzig unterschiedlich große Bilder auf den Boden der Ausstellungshalle zu malen. Als Vorlage dienten
Zeitungsausschnitte aus dem Privatarchiv des Künstlers. Frei von architektonischen Interventionen ist der
gesamte Raum der Präsentation eines riesigen "Bildteppichs" gewidmet, den die Besucher/innen betreten
oder umschreiten können. Im Zusammenspiel der evokativen Bilder mit sowohl politischen als auch poetischen
Konnotationen entsteht ein Tableau aus variierenden Dimensionen und Maßstäben. Das Publikum trifft auf
Vertrautes, das auf den ersten Blick schwer einzuordnen ist. Durch die konzeptuelle Geste der Übertragung
medialer Bilder in vergrößerte Malereien werden diese Bilder in einen anderen Kontext eingebettet, was
sich auf ihre Wahrnehmung und Rezeption auswirkt. Im Lauf der Zeit wird sich die Installation aufgrund ihrer Materialität
nicht nur verändern, sondern sie wird auch von Schriftsteller/innen, Tänzer/ innen, Choreograf/innen,
Musiker/innen, Künstler/innen und Performer/innen, die eingeladen wurden, auf das Tableau und die einzelnen
Bilder einzugehen, aktiviert.
Die Auseinandersetzung mit dem Ort
Ein weiterer Aspekt von Nicolais methodischer Herangehensweise an seine Arbeit ist die Auseinandersetzung mit
dem Ort, an dem seine Werke gezeigt werden.
Um diesen zu reflektieren und zu hinterfragen, führt er seine Ausstellung mit interdisziplinären Projekten
außerhalb der Institution weiter und vervielfältigt so die Bezüge der Arbeiten untereinander und
zu ihrer jeweiligen Umgebung.
Unter dem Projekttitel media loop (#medialoop) wird die Ausstellung in Kooperation mit museum in progress im medialen
und digitalen Raum fortgesetzt. Durch die Veröffentlichung von Fotografien der Bilder aus der Installation
in internationalen Zeitungen und Zeitschriften sowie auf Instagram wird das Ausgangsmaterial einem kontextuellen
Feedback-Loop ausgesetzt.
Im Sigmund Freud Museum ist das Werk Trauer und Melancholie (2009/12) zu sehen, eine arabische Übersetzung
des Textes von Freud in Schrift- und Audioform. Präsentiert wird die originale Publikation zusammen mit einem
Video, das die Komplexität des Übersetzungsvorgangs beschreibt und einen Einblick in die Vorbereitungen
für die Lesung im Radio gibt.
Für das ZOOM Kindermuseum hat Olaf Nicolai einen Workshop für Kinder entwickelt, der auf dem Zeichenbuch
für Kinder nach Motiven von Arnulf Rainer (2002) basiert. Nach Zeichnungen und Kollagen aus einer der Mappen
von Rainer (Proportionsanordnungen, 1954) wurden für dieses Buch Vorlagen zum Aus- beziehungsweise Übermalen
entwickelt.
Kunsthalle Wien
Das Georg Fritsch Antiquariat bietet die perfekte Struktur zur Anknüpfung an Olaf Nicolais Interesse an
experimenteller Literatur und dem Buch als Medium. Sowohl im Buchladen als auch im Schaufenster inszeniert Nicolai
eine Intervention um das bahnbrechende Manifest Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes von H.C. Artmann
von 1953.
In ihrer Funktion als Direktorin des Berliner Ensembles kaufte die Schauspielerin und Ehefrau Bertolt Brechts,
Helene Weigel, 1967 einen Mercedes Benz Ponton, den sie als Firmenwagen registrierte. Das originale Fahrzeug wurde
jüngst wiederentdeckt, von Olaf Nicolai erstanden und fahrtauglich gemacht. Der Mercedes Benz Ponton ist nicht
als Marketingwerkzeug oder "Gag", sondern als Schauplatz oder Akteur im öffentlichen Raum gedacht.
Als Ort/Raum/ Objekt wird er zum historisch aufgeladenen Fetisch. Die Geschichte um dieses Fahrzeug, das bezeichnenderweise
nach dem Bau der Berliner Mauer erworben wurde, scheint omnipräsent. Der Mercedes wurde nach Wien transportiert
und an prominenter Stelle zwischen Wiener Burgtheater und Volkstheater geparkt - eine Art Rückkehr der Österreicherin
Helene Weigel - und Reminiszenz an den Wiener "Brecht Boykott" (1953-1963), der 1962/63 mit einer Aufführung
im Volkstheater endete.
Auch das Deserteursdenkmal am Ballhausplatz ist Schauplatz für seine breit angelegten Ausstellungsaktivitäten.
Es wurde 2014 nach einem Entwurf des Künstlers als Mahnmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz
errichtet. Als ein elementarer Bestandteil des Projekts wird das Monument neu aktiviert, indem Gesangs-Performer/innen
a capella Stücke aufführen. Es handelt sich dabei um eine Fortsetzung des Projekts Escalier Du Chant,
das Nicolai 2011 für die Pinakothek der Moderne in München umgesetzt hat. Das Konzept sieht vor, dass
der Künstler Komponist/innen einlädt, jeweils kurze Werke ausgehend von aktuellen Ereignissen zu schreiben,
die dann von den Neuen Vocalsolisten (Stuttgart) musikalisch interpretiert werden.
There Is No Place Before Arrival
Der Ausstellungstitel There Is No Place Before Arrival geht zurück auf ein Werk des Künstlers mit
dem Titel Don't spend time searching the colorful layered flood of leaking information, or: There is no place before
arrival. Dieses besteht aus einer großen Steinplatte aus präkambrischen Quarzsandstein, der aus einer
Zeit noch vor dem ersten Aufkommen von Lebewesen auf der Erde stammt. There Is No Place Before Arrival verweist
darauf, dass es keinen Ort vor der Ankunft gibt: Gedanken, Worte, Bilder und Gesten, die übermittelt werden,
finden, wenn sie ankommen, ihren Ort nicht als solchen schon vor, sondern schaffen ihn allererst. Gleichzeitig
handelt es sich um eine poetische Paraphrase über die Dialektik des Wunsches, "die erhoffte Dauer und
den permanenten Aufschub in der Bewegung", so der Künstler über den Titel seiner Ausstellung in
Wien.
Kunsthalle Wien
Olaf Nicolai zeigt mit There Is No Place Before Arrival nicht nur seine Methode: Er verbindet vielmehr performative
Elemente, sich im Laufe der Ausstellung transformierende Werke, Verfremdungen bekannter Alltagsgegenstände
und popkulturelle Motive in einem dichten Feld aus Verweisen auf ikonische Momente in Politik und Geistesgeschichte.
Zugleich inszeniert die Ausstellung ein Ensemble sich wandelnder Situationen, in dem sich die Besucher/innen bewegen.
Dieses ist gleichermaßen für eine zerstreute, eher nomadische Rezeption wie für eine sehr persönliche
Aneignung der Arbeiten offen.
St. Gallen, Bielefeld und Wien
There Is No Place Before Arrival in der Kunsthalle Wien läuft parallel mit zwei anderen Ausstellungen von
Olaf Nicolai in der Kunsthalle Bielefeld (16/6 - 9/9 2018) und im Kunstmuseum St. Gallen (7/7 - 11/11 2018). Gemeinsam
geben die drei Ausstellungen eine Übersicht über das facettenreiche Werk des Künstlers und reflektieren
dabei seine interdisziplinären Konzepte der letzten zwanzig Jahre. In Bielefeld rückt die Architektur
der Kunsthalle von Philipp Johnson in den Mittelpunkt der Schau, wo es um Nähe und Distanz, Einschluss und
Ausschluss geht. Für die LOK in St. Gallen hat der Künstler ein begehbares Environment konzipiert, das
ebenso eine Wüste wie eine Mondlandschaft sein könnte. Zentral sind dabei sowohl die Verschiebungen im
Verhältnis von Körper, Raum und Bewegung als auch die auf diese Weise evozierten Imaginationen. Als
gemeinsame Produktion der drei Institutionen wird 2019 eine umfassende Publikation erscheinen.
Olaf Nicolai (*1962) lebt und arbeitet in Berlin. Nach dem Studium der Germanistik an den Universitäten Leipzig,
Budapest und Wien arbeitet er seit 1990 als bildender Künstler. Neben der Teilnahme an zahlreichen internationalen
Einzel- und Gruppenausstellungen war er auf der documenta X (1997) und documenta 14 (2017) vertreten sowie auf
der 49., 51. und 56. Venedig Biennale (2001, 2005 und 2015). Für seine von der documenta 14 in Auftrag gegebene
Arbeit In The Woods There Is A Bird... erhielt Olaf Nicolai 2017 den Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als
Radiokunst.
Kurator: Luca Lo Pinto
Mit freundlicher Unterstützung der Galerie EIGEN + ART, Leipzig / Berlin
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