Regierung zieht positive Bilanz des EU-Ratsvorsitzes, Opposition ortet Versäumnisse
Brüssel/Wien (pk) - Die in der Endphase laufenden Verhandlungen zum Brexit, die Frage der Migration,
der Mehrjährige Finanzrahmen und die EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn standen am 17. Oktober
im Mittelpunkt des EU-Hauptausschusses, der im Vorfeld des EU-Gipfels zusammengetreten ist. Dabei bewerteten Bundeskanzler
Sebastian Kurz, Europaminister Gernot Blümel sowie die Abgeordneten von ÖVP und FPÖ den bisherigen
Verlauf des österreichischen Ratsvorsitzes äußerst positiv. Sie hoben vor allem den Gipfel in Salzburg
hervor, der, wie Michaela Steinacker (ÖVP) und Reinhard Eugen Bösch (FPÖ) betonten, einen Politikwechsel
in der EU, insbesondere in der Migrationspolitik eingeleitet habe. Auch der Bundeskanzler berichtete über
positive Reaktionen seitens der Staats- und RegierungschefInnen und unterstrich, dass man dabei in der Sache ein
gutes Stück weitergekommen sei. Im Gegensatz dazu sprach seitens der SPÖ Doris Margreiter von einem "peinlichen"
Sitzungsverlauf. Darüber hinaus informierten Kurz und Blümel die Abgeordneten aufgrund der Fragen von
Maximilian Unterrainer (SPÖ) und Peter Schmiedlechner (FPÖ), dass bereits zahlreiche Dossiers abgeschlossen
werden konnten beziehungsweise ein Abschluss in Aussicht stehe.
Kurz und Blümel zum Brexit: Österreich ist um einen Deal bemüht, ist aber auch auf einen harten
Brexit vorbereitet
Was die Brexit-Verhandlungen betrifft, so bewertete die Regierungsspitze das bisherige einheitliche Auftreten der
EU-27 als besonders positiv. In wichtigen Fragen habe man einen Fortschritt erzielen können, schwierig gestalte
sich aber noch immer die Problematik um die Grenze zwischen Irland und Nordirland sowie um die Frage des weiteren
Verhältnisses zwischen Großbritannien und der EU. Wesentlich sei es, ein gutes Ergebnis zu erzielen,
so der Bundeskanzler und der Europaminister gegenüber EU-Abgeordnetem Othmar Karas und den Ausschussmitgliedern
Peter Haubner (ÖVP) und Reinhard Eugen Bösch. Man wolle auf alle Fälle einen harten Brexit vermeiden
und einen Deal erreichen, sagte der Bundeskanzler. Ein mögliches neues Referendum, wie von Andreas Schieder
(SPÖ) angesprochen, liege nicht in der Entscheidung der EU, merkte er an und wies auf die Aussage der britischen
Premierministerin Theresa May hin, wonach das britische Volk nicht noch einmal befragt werde.
Man sei auf jeden Fall auf einen harten Brexit vorbereitet, versuchte Kurz die Bedenken von Bruno Rossmann (PILZ)
zu zerstreuen, der in diesem Zusammenhang der Regierung eine unverantwortliche Untätigkeit vorgeworfen hatte.
"Es gilt, vorbereitet zu sein, aber die Sache nicht breitzutreten", warnten Kanzler Kurz und Minister
Blümel vor einer Verunsicherung der Wirtschaft und wiesen unter anderem auf die intensive Koordinationstätigkeit
im Bundeskanzleramt, auf Programme der Kontrollbank und intensiven Gesprächen mit Unternehmen hin.
Seitens der SPÖ befürchtet man durch einen harten Brexit einen Sozialabbau. Gabriele Heinisch-Hosek drängte
daher darauf, rasch die geplante Europäische Arbeitsschutzbehörde zu errichten und kritisierte im Einklang
mit Pilz-Abgeordnetem Bruno Rossmann scharf die Sozialministerin, die den Sozialministerrat abgesagt habe. Angesichts
der brennenden sozialen Fragen innerhalb der Union werte er dies als "Bankrotterklärung" des österreichischen
Ratsvorsitzes, sagte Rossmann. Der Sozialministerrat sei nicht abgesagt worden, sondern man habe nicht eingeladen,
weil einige EU-MinisterInnen dies nicht für sinnvoll gehalten hätten, konterte der Bundeskanzler mit
Verweis auf den Gipfel mit EU-Sozialpartnern, bei dem man große Fortschritte erzielt habe. Die Sozialpartner
hätten sich darüber auch äußerst positiv geäußert. In Bezug auf die Arbeitsschutzbehörde
sei man zwar weitergekommen, es gebe aber noch immer Bedenken einzelner Mitgliedstaaten, die eine überbordende
Bürokratie befürchten.
Kurz widersprach auch Abgeordneter Selma Yildirim (SPÖ), die die geplante Indexierung der Familienbeihilfe
als europarechtswidrig ansieht. Der Vorstoß Österreichs in dieser Frage werde von vielen europäischen
Staaten geteilt, berichtete Kurz und gab auch zu bedenken, dass bei den europäischen Beamten eine derartige
Indexierung bestehe.
Ein heftiger Disput zwischen SPÖ-Abgeordnetem Schieder und den Regierungsvertretern entstand im Hinblick auf
die Frage, ob die Verhandlungen mit Großbritannien tatsächlich diplomatisch geschickt geführt werden.
Schieder ortete zu viel Egoismus, eine enge Sichtweise und eine mangelnde Kompromissbereitschaft seitens der EU.
Dem setzte Europaminister Blümel entgegen, dass der Brexit nicht auf Wunsch der EU erfolge und man die Wahrung
der vier Grundfreiheiten sowie der Rechte der EU-BürgerInnen und die geforderte Lösung der Grenzfrage
zwischen Irland und Nordirland nicht unter dem Begriff Egoismus subsummieren könne. Zum Brexit habe vor allem
die Angst vor zu viel Migration und Wohlstandsverlusten geführt, weshalb sich auch die österreichische
Ratspräsidentschaft schwerpunktmäßig mit diesen Themen befasse.
Kurz: Ziel ist, illegale Migration zu stoppen und Geschäftsmodell der Schlepper zu zerschlagen
Zweites großes Thema war die Frage der Migration, wobei der Bundeskanzler die Kritik an seinen Aussagen über
die Seenotrettung durch "Ärzte ohne Grenzen", die im Ausschuss insbesondere von Bruno Rossmann (PILZ)
aufgeworfen wurde, zurückwies. Wenn Rettungsschiffe Menschen retten, die ertrinken würden, dann sei dies
eine moralische Pflicht und diesem Vorgehen voller Respekt zu zollen, sagte Kurz. Wenn aber versucht werde, der
libyschen Küstenwache zuvorzukommen mit dem Ziel, Menschen den Weg nach Europa zu öffnen, dann unterstütze
man das Geschäft der Schlepper, stellte er dezidiert fest. Wenn wir es mit der Rettung von Menschenleben ernst
nehmen und nicht nach Effekten haschen, dann müsse man gegen Schlepper ankämpfen und ihr Geschäftsmodell
zerschlagen, so der Bundeskanzler, der sich darin einer Meinung mit den anderen Staats- und RegierungschefInnen
sieht. Mit der bisherigen Politik habe man tausende Tote im Mittelmeer riskiert und verursacht, durch die Trendwende
habe man die Zahl reduzieren können.
Der Bundeskanzler unterstrich in diesem Zusammenhang auch die gute Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Ländern.
Voll zufrieden zeigte er sich mit der Zusammenarbeit mit Ägypten und Libyen. Selbstverständlich sei auch
noch Luft nach oben, meinte er und räumte Fehler in den vorangegangenen Verhandlungen mit Marokko ein.
Die Kritik Rossmanns an einem zu niedrigen Beitrag Österreichs zum Treuhandfonds für Afrika, beantwortete
der Bundeskanzler mit dem Hinweis, dass Österreich innerhalb der EU solide liege und einen stärkeren
Fokus auf Wirtschaftspartnerschaften lege. Die Bekämpfung der Fluchtursachen stehe ganz oben auf der Agenda,
sagte Kurz und kündigte in diesem Zusammenhang einen Afrikagipfel im Dezember in Wien an.
Was die geplante Stärkung von Frontex betrifft, so hätten einige Staaten noch immer Sorge im Hinblick
auf ihre Souveränitätsrechte, daher werde es noch Nachschärfungen des Kommissionsvorschlags geben,
berichtete der Bundeskanzler weiter. Er bekräftigte einmal mehr, dass man von der Politik der verpflichtenden
Quoten abgekommen sei, da diese nicht funktioniere und auch kein nachhaltiges Konzept darstelle. Auch hält
er die ursprünglich angedachten kontrollierten Zentren innerhalb der EU für kaum realisierbar. Nun spreche
man von einer verpflichtenden Solidarität, was bedeute, dass jeder seinen Beitrag leisten müsse, und
das könne auf unterschiedliche Weise geschehen. Ziel sei es, die illegale Migration zu verhindern, hielt er
gegenüber Erwin Angerer (FPÖ), Doris Margreiter (SPÖ), Andreas Schieder (SPÖ) und Bruno Rossmann
(PILZ) fest. Schieder hatte die Fortschritte in dieser Frage als mager bezeichnet.
NEOS-Abgeordneter Josef Schellhorn replizierte auf die Aussagen des Kanzlers und des ÖVP-Abgeordneten Wolfgang
Gerstl, wonach die illegalen Grenzübertritte seit 2015 um 95% gesunken seien, und thematisierte damit die
geplante Verlängerung der Binnengrenzkontrollen, die er für europarechtswidrig hält. Er wies auch
auf die sinkende Zahl der Asylanträge hin. Dazu meinte der Bundeskanzler, er sehe keinen Widerspruch zum EU-Recht,
zumal die EU die Binnengrenzkontrollen gestattet habe. Selbstverständlich sei es Ziel, ein Europa ohne Grenzen
zu schaffen. Die noch immer bestehenden Sicherheitsprobleme sowie die weiterhin vorhandene Binnenmigration machten
aber eine Verlängerung erforderlich.
Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn: Präzises und seriöses Vorgehen
Bei den Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und Ungarn gehe es dem österreichischen Ratsvorsitz
um eine seriöse und präzise Vorgangsweise, berichtete Kanzleramtsminister Gernot Blümel. Das Verfahren
gegen Polen laufe bereits länger und sei von der Kommission eingeleitet worden, weil diese vor allem bei den
Richterernennungen strukturelle Probleme im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit sieht. Die Bedenken gegen die
laufende Justizreform konnten bislang nicht ausgeräumt werden.
Mit dem Verfahren gegen Ungarn, das vom Europäischen Parlament eingeleitet worden ist, betrete man absolutes
Neuland, sagte Blümel, deshalb wolle man präzise vorgehen, weil man damit einen Präzedenzfall schaffe.
Im Gegensatz zu Polen habe es mit Ungarn keinen strukturierten Meinungsaustausch gegeben, weshalb man als nächsten
Schritt Ungarn um eine schriftliche Stellungnahme ersucht habe. Die EU-Kommission wurde gebeten, einen Überblick
über die Vertragsverletzungsverfahren, die gegen Ungarn laufen, vorzulegen. Einen Abschluss beider Verfahren
noch vor den Wahlen zum Europäischen Parlament hält er für schwierig, wie er gegenüber EU-Abgeordnetem
Othmar Karas anmerkte.
Mehrjähriger Finanzrahmen: Schwierige Verhandlungen, aber dennoch Fortschritte
Thema im Ausschuss waren auch die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen, wobei sowohl Bundeskanzler
Kurz als auch Minister Blümel die Erwartungen hinsichtlich eines baldigen Abschlusses dämpften. Beide
bezeichneten die Fortschritte, die bisher erzielt wurden, als beachtlich, die Verhandlungen laufen ihnen zufolge
gut. Blümel unterstrich einmal mehr die österreichische Position, wonach man in einer kleineren EU nicht
mehr Geld ausgeben dürfe und sah sich dabei einer Meinung mit FPÖ-Abgeordnetem Erwin Angerer. SPÖ-Abgeordnete
Gabriele Heinisch-Hosek plädierte in der Debatte für eine Umverteilung der Mittel für den ländlichen
Raum und sprach sich vor allem für mehr Geld für Frauenförderprogramme und soziale Dienste aus.
Kurz mahnt Einhaltung der Maastricht-Kriterien ein
Der Bundeskanzler sprach auch kurz den Eurogipfel an und meinte, man sei bereit über die Vertiefung der Wirtschafts-
und Währungsunion zu verhandeln, keinesfalls wolle man aber unkalkulierbare Risiken uneingeschränkt übernehmen.
Vereinbartes, wie die Maastricht-Kriterien, seien einzuhalten, stellte er vor allem im Hinblick auf Italien unmissverständlich
fest.
Was die Sorge von Doris Margreiter (SPÖ) im Hinblick auf die Freihandelsabkommen mit Investitionsschutz -
beispielsweise mit Singapur - betrifft, so wies der Kanzler auf die große wirtschaftliche Dynamik der ASEAN-Staaten
hin. Das Problem sei, dort für die österreichischen Unternehmen faire Bedingungen zu schaffen. Man werde
jedenfalls die Abkommen genau prüfen, ergänzte Blümel.
Priorität Cybersicherheit
Sowohl Bundeskanzler Sebastian Kurz als auch Europaminister Gernot Blümel bestätigten die Priorität
des Themas Cybersicherheit, die von Josef Schellhorn (NEOS) angesprochen wurde. Die EU plane, ein eigenes Kompetenzzentrum
aufzubauen, informierte Blümel. Österreich werde auch eine entsprechende Richtlinie mit dem Netz- und
Informationssicherheitsgesetz umsetzen. Der Entwurf befinde sich gerade in Begutachtung. Im Rahmen des EU-Ratsvorsitzes
plane man zudem eine eigene Cyber-Security-Konferenz.
Am Beginn der Sitzung wurde die NEOS-Klubobfrau Beate Meinl-Reisinger einstimmig zum Mitglied des Ständigen
Unterausschusses des Hauptausschusses gewählt. Einstimmig fiel auch die Wahl auf Beate Meinl-Reisinger und
Bruno Rossmann (PILZ) als Ersatzmitglieder im EU-Unterausschuss.
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