Wien (öaw) - Verbindungsachsen sind tendenziell wichtiger als Zentren: Was für viele Netzwerke der
Gegenwart gilt, ist auch bei sozialen und geografischen Verbindungen in Antike und Mittelalter der Fall. Dies belegt
eine neue Studie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die erstmals das alte Rom mit China vergleicht
Historische Verflechtungen durch Verkehrsrouten, Handel und soziale Beziehungen – das sind einige der Forschungsschwerpunkte
von Johannes Preiser-Kapeller, Byzanzforscher am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Seine neueste Studie untersucht einige dieser Phänomene im imperialen
China – und zwar im Verlauf vieler Jahrhunderte und im Vergleich zum alten Rom.
Stabilität und Zerfall von Weltreichen im Netzwerkmodell nachgezeichnet
Wichtigstes Ergebnis: Sowohl im alten China als auch im Römischen Reich erwiesen sich die Handels- und Verkehrsnetzwerke
als relativ widerstandsfähig gegenüber dem Ausfall einzelner zentraler „Knoten“ (Städte), etwa durch
Katastrophen (man denke zum Beispiel an Pompeji) oder durch Eroberung. Dies hat zur Langlebigkeit dieser Netzwerke
beigetragen, die selbst beim Verlust ihrer Hauptstadt (Rom im Jahr 410 n. Chr. oder Kaifeng im Jahr 1126) nicht
zugrunde gingen.
Mit seinem Vergleich konnte Preiser-Kapeller auch nachweisen, dass die Strukturen dieser ähnlich großen
Weltreiche (ca. 5 Mio. km²) jener von komplexen Netzwerken der Gegenwart entsprechen, also etwa dem Internet
oder auch hinsichtlich der Verbreitungsmuster von Krankheiten. Epidemien wie in der Tang-Dynastie (7. Jh.) folgten
tatsächlich den Routen, die sich auch im Netzwerkmodell als wichtigste Verbindungen gezeigt haben: Von der
damaligen Hauptstadt Chang’an (dem heutigen Xi’an) ostwärts zur Achse des Kaiserkanals und zu den Knotenpunkten
Luoyang und Kaifeng. Auch andere Epidemien im 16. und 17. Jahrhundert folgten diesen Korridoren, unabhängig
von der jeweiligen Hauptstadt.
Das bedeutet, dass die übergeordneten Verbindungen zwischen mehreren regionalen Clustern deutlich wichtiger
waren als das Zentrum selbst. Konnte oder wollte man die Kosten für den Erhalt oder die Verteidigung aufwendiger
See- und Infrastrukturverbindungen nicht mehr tragen, so konnte ein Imperium aber recht rasch in verschiedene regionale
Cluster zerbrechen. Diese Bruchlinien im Netzwerkmodell ähneln den tatsächlichen historischen Zerfallsprozessen
im Römischen Reich oder im alten China stark – etwa als infolge äußerer Angriffe und struktureller
innerer Probleme die Hauptstadt des Römischen Reichs von Rom nach Konstantinopel verlegt wurde. Konstantinopel
(heute Istanbul) schließlich zeichnete sich durch eine außerordentlich gute Vernetzung aus, insbesondere
zur See nach Ägypten, das für die Getreideversorgung des Reichs essenziell war.
Erstmals Vergleich von Römischem Reich und altem China
Dasselbe Bild zeigt sich in China, wo im Lauf der wechselnden Dynastien auch die Hauptstädte oftmals wechselten.
Nicht nur waren machtpolitische Gründe die Ursache dafür, sondern auch wirtschaftliche. Da einige der
Hauptstädte (insbesondere Chang’an) nur unter großem logistischen Aufwand zu versorgen waren, gab es
fast zwangsläufig eine Verlagerung in Richtung Osten und näher an den Kaiserkanal, der den Norden Chinas
mit dem Mündungsgebiet des Jangtsekiang verband.
Der Hintergrund: Im kontinental geprägten kaiserzeitlichen China spielten Flüsse und Kanäle die
Hauptrolle beim Transport – und nicht Seeverbindungen wie im Römischen Reich. Die Wasserwege Chinas mussten
angesichts der ständigen Verlandung und Verlagerung von Wasserläufen unter hohem Aufwand aufrechterhalten
werden, hatten aber in ihrer originalen Form auch sehr lange Bestand – bis ins 19. Jahrhundert hinein.
Dies zeigt, dass stabile Netzwerke mit intakten Verbindungsachsen sehr widerstandsfähig („resilient“) gegenüber
Einflüssen von außen sind, selbst wenn sich das Zentrum, also die jeweilige Hauptstadt, viele Male ändert.
So zählt die Region rund um den Kaiserkanal und die großen Flüsse, bis heute zu den bevölkerungsreichsten
überhaupt in China.
Eigenes Netzwerkmodell für China entwickelt
Preiser-Kapellers Studie ist der erste Vergleich des Römischen Reichs und des Chinesischen Kaiserreichs aus
Sicht der Netzwerkforschung. Für das Römische Reich konnte Preiser-Kapeller auf bereits existierende
Netzwerk-Modelle („Orbis“, ein Projekt der Stanford University) zurückgreifen, für das alte China entwickelte
er ein eigenes Modell, das die Kosten der Versorgung bzw. Erreichbarkeit einzelner Orte im Netzwerk aufgrund schriftlicher
Quellen aus den beiden Großreichen analysierte. Seine Studie entstand vor dem Hintergrund einer Zusammenarbeit
mit Naturwissenschaftler/innen, Mathematiker/innen und Physiker/innen, unter anderem von der Princeton University
sowie vom Complexity Science Hub in Wien.
Publikation
"Networks and the Resilience and Fall of Empires: a Macro-Comparison of the Imperium Romanum and Imperial
China", Johannes Preiser-Kapeller, ArXiv, 2018
DOI: 10.13140/RG.2.2.32994.99524
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