Ökumenischer Gottesdienst zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht
Wien (epdÖ) – Erinnerung an die Ereignisse von 1938 sei notwendig, es brauche jedoch auch Achtsamkeit
auf Entwicklungen in der Gegenwart – so lautete der Tenor bei einem ökumenischen Gottesdienst der österreichischen
Kirchen am 9. November zum Gedenken an die nationalsozialistischen Novemberpogrome, die sich heuer zum 80. Mal
jähren. Kirchenvertreter erinnerten in der römisch-katholischen Wiener Ruprechtskirche unter dem Motto
„Mechaye Hametim – Der die Toten auferweckt“ an die gezielte Verschleppung und Ermordung von Jüdinnen und
Juden sowie die Zerstörung jüdischer Einrichtungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Den
Gottesdienst gestalteten der evangelisch-lutherische Bischof Michael Bünker, der griechisch-orthodoxe Priester
Athanasius Buk, Abt em. Christian Haidinger, Vorsitzender der österreichischen Männerorden, der altkatholische
Bischof Heinz Lederleitner, der römisch-katholische Pater Alois Riedlsperger und Lydia Rössler, Lektorin
der Ruprechtskirche.
Bünker: „Die nach uns Kommenden werden unser Gericht sein“
„Was hätte ich getan? Hätte ich geholfen? Oder hätte ich weg geschaut, wäre ich vorbei gegangen,
hätte ich womöglich sogar mitgemacht?“ Fragen an die persönliche Verantwortung sprach der evangelisch-lutherische
Bischof Michael Bünker in seinen Worten des Gedenkens an. Nicht immer seien es die eigenen Taten, „die eine
Wende zum Guten bringen oder Schlimmes verhindern. Aber wir können immer etwas tun!“ Zum Handeln rief Bünker
auch mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen auf. Er erinnerte an die „mehr als 1400 antisemitischen Übergriffe
in Deutschland im letzten Jahr, oder die mehr als 500 bei uns in Österreich. Immer haben weit mehr als 90
Prozent einen rechtsextremen Hintergrund.“ Die nach uns Kommenden würden uns vor die Frage stellen: „Habt
ihr nichts gewusst? Habt ihr nichts getan? Sie alle werden vor uns auftauchen und uns anschauen. Sie werden unser
Gericht sein.“
Haidinger: „Christen haben erst nach Shoah Partei für Juden ergriffen“
„Das Unrecht schreit bis heute zum Himmel“, betonte Abt Christian Haidinger. „Nicht anonyme, namenlose Wesen“ hätten
in der Shoah ihr Leben verloren, „sondern Menschen wie du und ich“. Die der Shoah vorausgehenden Novemberpogrome
hätten auch in einem religiösen Antisemitismus und einer „Theologie der Verachtung“ gewurzelt, die maßgeblich
zum Leid der Juden beigetragen hätte. „Erst nach der Shoah haben auch Christinnen und Christen flächendeckend
Partei für die Juden ergriffen.“ Haidinger erinnerte dabei an das Konzilsdokument Nostra Aetate von 1965,
das den „Weg des Zueinanders und Miteinanders geöffnet“ habe. „Aber an die Vergangenheit zu erinnern ist das
eine“, so Haidinger. „Es geht auch um Solidarität in der Gegenwart, in der wieder eine Sprache des Hasses
um sich greift.“
Buk: „Glauben gibt Kraft zum Widerstand“
Der griechisch-orthodoxe Priester Athanasius Buk verlas eine Grußbotschaft des Metropoliten Arsenios Kardamakis,
der an den weitgehend fehlenden Widerstand der Zivilbevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus erinnerte:
„Viele Menschen entschieden sich, das Böse zu tun. Viele schlossen sich nicht an, taten aber auch nichts dagegen.
Es gab aber auch mutige Menschen, die Widerstand leisteten, häufig im Kleinen, wie durch das Verstecken Verfolgter.“
Heute sei vor allem der Glaube eine Quelle der Kraft, „um gegen den Strom zu schwimmen und Widerstand zu leisten.“
Hofmeister: „Pogromgedenken darf nie Selbstzweck werden“
Übermittelt wurde im Gottesdienst auch ein Grußwort des Wiener Gemeinderabbiners Schlomo Hofmeister,
das von Stefanie Plangger vom christlich-jüdischen Koordinierungsausschuss verlesen wurde: „In Zeiten, wenn
‚braune Ausrutscher‘ wieder zu ‚regelmäßigen Einzelfällen‘ des politischen Alltags gehören
und von den politisch Verantwortlichen entweder relativiert und entschuldigt“ würden, dürften „gerade
religiös orientierte Menschen“ es nicht hinnehmen, wenn selbsternannte „Retter der christlichen Werte“ nicht
bereit seien, diese umzusetzen. Auch angesichts dessen plädierte Hofmeister dafür, das Gedenken anlässlich
des Novemberpogroms von 1938 „niemals zum Selbstzweck“ werden zu lassen, sondern nur mit dem Ziel zu begehen, „dass
sich Derartiges oder auch nur im Ansatz, strukturell oder systematisch, Ähnliches nie wieder wiederholt.“
Mit einem Schweige- und Lichtermarsch zum Holocaust-Denkmal am Judenplatz in der Wiener Innenstadt wurde der Gedenkgottesdienst
abgeschlossen. Für die musikalische Gestaltung zeichneten der Chor der Gemeinde St. Ruprecht unter Leitung
von Otto Friedrich, Joanna Jimin Lee am Klavier und Wilhelm Klebel an der Viola verantwortlich.
Nacht der Erinnerung bis in die Morgenstunden
Bei einer anschließenden Nacht der Erinnerung in der Ruprechtskirche wurde in Texten, Musik und Stille der
Gewalt vor 80 Jahren gedacht. Margarete Rabow zeigte ihren Film „66.000“ und sprach über ihr Projekt „Schreiben
gegen das Vergessen“, bei dem die Namen der 66.000 österreichischen Schoah-Opfer in der Prater-Hauptallee
mit Kreide aufgeschrieben wurden. Liedermacher Hans Breuer und das Quartett WanDeRer spielten jüdische Lieder
von Vertreibung und Verfolgung.
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