NR-Präsident Sobotka und BR-Präsidentin Posch-Gruska unterstreichen Vielfalt und
Verantwortung – Rudolf Sarközi als Motor der Anerkennung hervorgehoben; österreichische Roma-Politik
beispielgebend
Wien (pk) - Unter dem Motto "Vielfalt und Verantwortung" fand am 16. Dezember im Plenarsaal des
Parlaments eine Matinee aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Anerkennung der Roma als Volksgruppe
statt. Die Roma und Sinti wurden am 16. Dezember 1993 als "Volksgruppe der Roma" anerkannt. Bundesratspräsidentin
Inge Posch-Gruska eröffnete die Matinee. Der Wissenschaftliche Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen
Widerstands Gerhard Baumgartner hielt den Festvortrag, in dem er durch die jüngere Geschichte der Volksgruppe
führte. Barbara Glück, Direktorin des Mauthausen Memorials, führte ein Gespräch mit Manuela
Horvath (33), Angehörige der Volksgruppe der Roma und Gemeinderätin in Oberwart, und dem Roma-Schriftsteller
Stefan Horvath (69), in dem die persönlichen Erfahrungen, aber auch das sich geänderte Bewusstsein zur
Sprache kamen. Nach Ansprachen von Emmerich Gärtner-Horvath, dem Vorsitzenden des Volksgruppenbeirats der
Roma, und Christian Klippl, Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma, sprach Nationalratspräsident
Wolfgang Sobotka die Schlussworte.
Sobotka: Vorurteile sind nachhaltig nur durch eine emotionale Herangehensweise zu bekämpfen
"Vorurteile sind nachhaltig nur durch eine emotionale Herangehensweise zu bekämpfen, und dabei spielt
die Kultur eine wesentliche Rolle", betonte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka als Resümee der
Matinee. Zur Integration gebe es keine Alternative, Integration heiße aber in keinem Fall Assimilation, stelle
er mit Nachdruck fest.
Die heutige Festveranstaltung gelte jenen, die gelitten haben und ermordet wurden, jenen, die Konsequenzen gezogen
haben, jenen, die sich engagiert und andere überzeugt haben, und jenen, die die Arbeit fortsetzen, unterstrich
der Nationalratspräsident, der damit auch einen Auftrag an die Zukunft verbunden sieht. Es gelte vor allem,
ein nachhaltiges Bewusstsein für die Reichhaltigkeit der österreichischen Kultur durch die Volksgruppen
zu schaffen. Gerade in Zeiten der Globalisierung sei es wichtig, die eigene Identität zu pflegen. Die Aufgabe
der Politik sei es, dies auch zu unterstützen und in der Volksgruppenpolitik insgesamt nicht müde zu
werden. Als einen wichtigen Mosaikstein dazu sieht Sobotka, sich in der Schule mit den Volksgruppen und ihrer Geschichte
und Kultur auseinanderzusetzen.
Der Nationalratspräsident hält es auch für eine notwendige europäische "Hausaufgabe",
die Volksgruppen und ein diesbezügliches europäisches Bewusstsein zu fördern, denn die Probleme
gebe es nicht nur in Osteuropa. Deshalb sollte hier die Kommission aktiv werden und Lösungsansätze für
die Mitgliedstaaten bereitstellen. Der Nationalratspräsident setzt hier besonders auch auf die Unterstützung
der BotschafterInnen der betreffenden Länder, die bei der heutigen Matinee zahlreich vertreten waren.
Rund zwei Wochen vor der Anerkennung der Roma hatte am 3. Dezember 1993 die erste Briefbombenserie Österreich
erschüttert. Etwas mehr als ein Jahr nach der Anerkennung der Roma als Volksgruppe, in der Nacht vom 4. auf
den 5. Februar 1995 hatte eine Rohrbombe in einer Roma-Siedlung am Rande von Oberwart vier Menschen das Leben gekostet.
Lebensrealitäten
Im Gespräch mit Barbara Glück und Manuela Horvath erzählte Stefan Horvath (nicht mit Manuela Horvath
verwandt) von seinem von Diskriminierung gekennzeichneten Bildungsweg und dem Rohrbombenattentat 1995, bei dem
sein Sohn und drei weitere Bewohner der Siedlung ermordet wurden. Bereits Monate zuvor, kurz nach der Explosion
einer Rohrbombe in Klagenfurt, bei der ein Polizist im August 1994 beide Hände verloren hatte, bemerkten die
vier Burschen verdächtige Vorgänge rund um die Siedlung. Die Erwachsenen taten es als Hirngespinste ab.
Selbst am Abend der Sprengung glaubte Stefan Horvath seinem Sohn nicht, als dieser ein Krachen gehört hatte.
Horvath warf ihm vor, er nehme sich zu wichtig. "Dann hat er sich mit den Worten verabschiedet: Es muss erst
was passieren, bis etwas geschieht", erzählte Horvath bei der Matinee. Wenige Minuten später war
sein Sohn tot.
Das Leben von Stefan Horvath war von Ausgrenzung geprägt. Nach vier Jahren Volksschule befand ihn sein Lehrer
als für die Hauptschule geeignet. Das war 1959 nicht selbstverständlich. Viele beendeten ihre Schulbildung
nach acht Jahren Volksschule. "Ganze zehn Minuten bin ich in der ersten Hauptschulklasse gesessen, als der
Direktor gekommen ist und gesagt hat: "Wir haben noch nie ein Zigeunerkind in unserer Schule gehabt und das
wird so bleiben", berichtete Horvath. Sein Volksschullehrer erkämpfte tags darauf, dass Stefan Horvath
die Hauptschule dennoch besuchen durfte.
Nach vier ausgezeichneten Jahren Hauptschule wollte Horvath in die damals neu errichtete Handelsschule Oberwart
eintreten. Bei der Aufnahmeprüfung war er Drittbester von 1.000 BewerberInnen für 200 Schulplätze.
Dennoch wurde er abgewiesen – aus "Platzmangel", wie es hieß. Er wollte eine Mechaniker-Lehre beginnen
– und wurde abgewiesen, mit der Begründung "Zigeuner stehlen und sind faul". Erst in Wien am Bau
fand er Arbeit – als Hilfsarbeiter, wo er täglich 200 Zementsäcke von Lkws abladen musste. Jeder dieser
Zementsäcke wog mehr als der damals 15-Jährige selbst.
Keine Diskriminierung erfuhr Manuela Horvath. Auch sie ist Roma und stammt aus Oberwart. Ihr Schul- und Ausbildungsweg
verlief wie die Wege vieler Tausender Burschen und Mädchen ihres Alters. Allerdings hatte sie einen Großvater,
Michael Horvath, der von den Nazis verfolgt worden war und sieben Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte.
Für die meisten ehemaligen KZ-Insassen in der Roma-Siedlung in Oberwart war die Zeit des Nationalsozialismus
ein Tabu-Thema. Michael Horvath war eine Ausnahme: Er sprach täglich von seinen Demütigungen durch die
Nazis. Er engagierte sich auch für die Volksgruppe der Roma und verlor zwei Enkel beim Attentat von 1995.
Durch ihn fühlt sich Manuela Horvath verpflichtet, in Schulen bei Kindern und Jugendlichen gegen Vorurteile
anzukämpfen. Auch Stefan Horvath geht als Vertreter von Zeitzeugen in Schulen und berichtet von seinen Diskriminierungen.
Posch-Gruska: Bis in die 1980er-Jahre war Diskriminierung in Schulen und am Arbeitsmarkt Praxis
"Bis in die 1980er-Jahre war es Praxis, die Kinder der Roma-Volksgruppe in Sonderschulen abzuschieben",
berichtete auch Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska. Sie erinnerte daran, dass das Arbeitsamt Oberwart
"ganz offiziell rassistische Stellenausschreibungen mit dem Vermerk 'Bitte keine Zigeuner' noch kurz vor der
Anerkennung der Volksgruppe veröffentlicht hat".
Posch-Gruska betonte, die Volksgruppe der Roma hätte den europäischen Raum und die österreichische
Kultur geprägt. "Nur zehn Prozent der Roma und Sinti haben die Massenmorde der Nazis und die katastrophalen
Zustände in den Konzentrationslagern überlebt", sagte die Bundesratspräsidentin. Und als diese
in ihre Siedlungen zurückkehrten, waren ihre Häuser zerstört und ihre Namen nicht in den Grundbüchern.
Die Moderation der Matinee übernahm Sandra Szabo, für die musikalische Begleitung sorgte Amenza Ketane
unter der Leitung von Hojda Willibald Stojka.
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Bei der Matinee aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Anerkennung der Roma als Volksgruppe im Plenarsaal
des Parlaments zog der wissenschaftliche Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands,
Gerhard Baumgartner, in seinem Festvortrag Bilanz über die jüngere Geschichte der Volksgruppe. Nach einer
Einleitung durch Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska und Ansprachen von Emmerich Gärtner-Horvath,
dem Vorsitzenden des Volksgruppenbeirats der Roma, und von Christian Klippl, Obmann des Kulturvereins österreichischer
Roma, hielt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka die Schlussworte.
Die österreichischen Roma- und Sinti-Gruppen wurden am 16. Dezember 1993 durch einstimmigen Beschluss im Hauptausschuss
des Nationalrates anerkannt. Die Bezeichnung "Volksgruppe der Roma" gilt als Oberbegriff für die
verschiedenen in Österreich lebenden autochthonen Untergruppen. Gerhard Baumgartner erinnerte daran, dass
am 16. Dezember 2018 nicht nur der 25. Jahrestag der Anerkennung der Volksgruppe der Roma als sechste österreichische
Minderheit gefeiert werde, sondern am 10. Dezember der 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
begangen worden ist.
Endpunkt einer mehrere hundert Jahre dauernden Verfolgungsgeschichte
Baumgartner bezeichnete die Anerkennung der Roma als "Meilenstein in der österreichischen Rechtsgeschichte",
als Endpunkt einer mehrere hundert Jahre dauernden Verfolgungsgeschichte, als Höhepunkt österreichischer
Minderheitenpolitik und als Beginn einer "europäischen Erfolgsgeschichte österreichischer Roma-Politik".
Bis dahin hatten Verfassungsjuristen den Roma und Sinti die Anerkennung als Volksgruppe verweigert, weil es ihnen
an einer "dauerhaften Bindung an ein Territorium der Republik Österreich mangle" und weil sie "keinerlei
Selbstorganisation" besäßen.
Das Blatt wendete sich, als Siedlungskurkunden der burgenländischen Roma aus dem Jahr 1674 beigebracht wurden
und als am 15. Juli 1989 der "Verein Roma" in Oberwart gegründet wurde. Vor allem Rudolf Sarközi
betrieb die Anerkennung der Roma und Sinti intensiv. "Er war der rechte Mann am rechten Ort zur rechten Zeit",
hob Baumgartner Sarközi hervor. Auch der 1993 kurz bevorstehende EU-Beitritt Österreichs (1. Jänner
1995) hat Gerhard Baumgartner zufolge eine wichtige Rolle bei der Anerkennung der Volksgruppe der Roma gespielt,
ebenso wie die Aufarbeitung der Zeit Österreichs während des Nationalsozialismus 1938 bis 1945, ausgelöst
durch die "Waldheim-Affäre" 1986.
Baumgartner: Roma waren die Verlierer der Ostöffnung
Im Vergleich mit den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist die Integration der Volksgruppenangehörigen
der Roma vorbildlich verlaufen. "Roma waren die Verlierer der Ostöffnung", sagte Baumgartner. Er
berichtete von einer Studie, bei der mehrere Tausend Menschen in Tschechien, der Slowakei, in Ungarn, Rumänien
und Bulgarien befragt worden waren. Sie ergab, dass das Prädikat "Arm" mit der Volksgruppenbezeichnung
"Roma" gleichgesetzt wird. Baumgartner sprach von einer "Ethnisierung der Armut". Sie sei der
Grund, warum rechtsextreme Gruppen in den betroffenen Ländern einen derartigen Zulauf von armen Menschen habe.
"Wie sonst sollten arme Leute beweisen, dass sie nicht aufgrund ihrer Ethnie arm sind?", stellte Baumgartner
in den Raum.
Posch-Gruska: Ausgrenzung hat viele Gesichter
"Diese erschütternden Einsichten aus der Studie zeigen uns, wie wichtig es ist aufzupassen, dass wir
das Erreichte nicht gefährden", hob Gerhard Baumgartner hervor. Bundesratspräsidentin Inge Posch-Gruska
erinnerte, dass 12 Millionen Roma in Europa immer noch am Rande von Ortschaften wohnen, 35.000 davon in Österreich.
"Ausgrenzung hat viele Gesichter – eines davon ist unser eigenes", unterstrich die Bundesratspräsidentin.
Es liege in unserer Verantwortung, als Mitglieder einer Gesellschaft hinzusehen und zu handeln, wenn Menschen Unrecht
geschehe. Sie zeigte auf, dass 2018 in Österreich durchschnittlich jede Woche eine rechtsextreme oder fremdenfeindliche
Straftat bekannt geworden ist und mahnte: "Lasst uns unsere kulturelle Vielfalt als die Bereicherung sehen,
die sie ist, und auf sie achten! Lasst uns aufeinander achten!"
Gärtner-Horvath: Die österreichische Roma-Politik ist beispielgebend in Europa
Der Vorsitzende des Volksgruppenbeirats der Roma, Emmerich Gärtner-Horvath, setzt sich vor allem für
die Bewahrung der Kultur und Sprache der Roma ein. Die österreichische Roma-Politik wertet er als beispielhaft
in Europa, deren Anerkennung als Volksgruppe als wichtiges politisches Signal. Dennoch, so stellte er mit Sorge
fest, gibt es noch immer in unserer Gesellschaft Menschen, die große Vorurteile gegenüber der Volksgruppe
der Roma haben.
Gärtner-Horvath ging auf die Geschichte der Anerkennung ein und thematisierte vor allem auch die damaligen
Probleme im Bereich der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Es hätten sich aber dann zahlreiche Projekte entwickelt,
nicht nur um dieser Diskriminierung entgegenzuwirken, sondern auch um die Roma-Kultur aufzuarbeiten. In diesem
Zusammenhang nannte er vor allem das Sprachprojekt "Kodifizierung und Didaktisierung des Roman", das
Theater-Projekt "I Kali Tschasarkija – die schwarze Kaiserin", Roma-Tanzgruppen, Roma-Bands, ferner die
einsprachige Kinderzeitschrift "Mri nevi Mini Multi", zweisprachige und einsprachige Zeitungen und Märchenbücher
und Roma-Blogs. Besonders hob er die namentliche Erfassung der Roma und die Zeitzeugendokumentation "Mri Historija"
hervor.
Ein besonderes Danke gelte dem Nationalfonds und seinen MitarbeiterInnen unter der Leitung von Hannah Lessing.
Durch dessen Einrichtung 1995 hatten die Angehörigen der Roma-Volksgruppe erstmals einen Zugang zu einer Einrichtung
der Republik, die den Roma und deren Leidensgeschichte Aufmerksamkeit schenkte, sagte Gärtner-Horvath. Die
Menschlichkeit sei bei diesen einfühlsamen Gesprächen immer im Vordergrund gestanden.
Klippl: Die Mehrheit der Roma in Europa lebt in elenden Umständen
Auf die triste Situation der Mehrheit der 12 Millionen Roma in Europa, vor allem in Südosteuropa, machte der
Obmann des Kulturvereins österreichischer Roma, Christian Klippl, aufmerksam. Fast 80% der Volksgruppenangehörigen
haben keinen Job, sie leben unter Ausgrenzung und Diskriminierung. Es gebe zwar den EU-Rahmenplan zur Integration
der Roma bis 2020 – Zugang zur Bildung, zum Arbeitsmarkt, zum Gesundheitssystem und zu Wohnraum – aber ein Bericht
aus dem Jahr 2016 habe gezeigt, dass die Mitgliedstaaten die Ziele weitgehend verfehlen, beklagte er. Die Politik
würde kaum helfen, aus Angst vor dem Unmut der anderen Bevölkerungsschichten.
Auch Klippl hob die Bedeutung der Vereinstätigkeit, vor allem im Burgenland und in Wien, sowie den ORF-Burgenland
mit eigenen Fernseh- und Radiosendungen hervor. Auch gebe es eine eigene Roma-Pastoral in der Erzdiözese Eisenstadt,
der Klippl besondere Bedeutung beimisst.
Um der noch immer bestehenden Diskriminierung zu begegnen, schlug Klippl vor, die Geschichte der Roma als fixen
Lehrstoff in den Unterricht zu integrieren. Er drängte auch auf ein zentrales Mahnmal in Wien für die
Opfer der Roma und Sinti. Auch auf europäischer Ebene sieht er noch viel zu tun. Um dem mehr Nachdruck zu
verleihen, kann er sich einen Friedensmarsch nach Brüssel vorstellen.
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