Über Supraleitung muss ganz neu nachgedacht werden. Experimente an der TU Wien beweisen,
dass unbewegliche Ladungsträger, die als „Klebstoff“ wirken, die Supraleitung erst ermöglichen.
Wien (tu) - Jedes gewöhnliche Kabel, jeder Draht, jeder elektronische Bauteil hat einen gewissen elektrischen
Widerstand. Es gibt allerdings spezielle supraleitende Materialien mit der besonderen Fähigkeit, elektrischen
Strom mit einem Widerstand von exakt null zu transportieren – zumindest bei sehr niedrigen Temperaturen. Ein Material
zu finden, das sich auch bei Raumtemperatur immer noch als Supraleiter verhält, wäre ein wissenschaftlicher
Durchbruch von herausragender Bedeutung, sowohl in theoretischer als auch in technologischer Hinsicht. Es würde
eine Reihe ganz neuer Anwendungen ermöglichen, von schwebenden Hochgeschwindigkeitszügen bis hin zu neuen
bildgebenden Verfahren für die Medizin.
Die Suche nach solchen Hochtemperatur-Supraleitern ist allerdings extrem schwierig, weil viele der Quanteneffekte,
die mit der Supraleitung in Zusammenhang stehen, noch nicht gut verstanden sind. Professor Neven Barišic vom Institut
für Festkörperphysik an der TU Wien experimentiert mit Cupraten, einer Materialklasse, die bei Normaldruck
bis zu einer Temperatur von 140 Kelvin (-133° C) supraleitend bleiben, damit sind Cuprate bis heute die Rekordhalter.
Barišic und seinem Team gelang es nun, bemerkenswerte neue Resultate zu erzielen und neue Ideen vorzustellen, durch
die sich die Art, wie man über komplexe Materialien und Hochtemperatur-Supraleitung denkt, völlig verändern
soll.
Die Suche nach dem Heiligen Gral
„Das Phänomen der Hochtemperatur-Supraleitung wird seit Jahrzehnten eingehend erforscht, aber bisher hat
niemand das Rätsel wirklich gelöst“, sagt Neven Barišic. „Es gibt durchaus einige Materialien, die supraleitendes
Verhalten bei Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunktes zeigen, und bei manchen verstehen wir sogar,
warum das so ist. Aber die wirkliche Herausforderung ist es, Supraleitung in Cupraten zu verstehen, wo sie bei
viel höheren Temperaturen bestehen bleibt. Ein Material, das bei Raumtemperatur supraleitend bleibt, wäre
gewissermaßen der Heilige Gral der Festkörperphysik, und dem kommen wir näher und näher.“
Barišic konnte mit seinem Team nun zeigen, dass es in Cupraten zwei fundamental unterschiedliche Ladungsträger
gibt. Das subtile Wechselspiel zwischen ihnen ist entscheidend für die Supraleitung.
Manche der elektrischen Ladungsträger im Material sind lokalisiert, jeder von ihnen sitzt an ganz bestimmten
Atomen und kann sich nur wegbewegen, wenn das Material aufgeheizt wird. Andere Ladungsträger hingegen sind
mobil und können von einem Atom zum anderen springen. Diese mobilen Ladungsträger sind es, die supraleitend
werden, aber die Supraleitung lässt sich nur erklären, wenn man auch die immobilen Ladungsträger
berücksichtigt.
„Es gibt eine Wechselwirkung zwischen den beweglichen und den unbeweglichen Ladungsträgern, durch die sich
die Energie des Systems verändert“, sagt Barišic. „Die unbeweglichen Ladungsträger wirken als Klebstoff
und binden Paare von mobilen Ladungsträgern aneinander, die sogenannte Cooper-Paare bilden. Die Bildung von
Ladungsträger-Paaren ist die Grundidee hinter klassischen Supraleitern. Erst wenn die Ladungsträger gepaart
werden, können sie supraleitend werden, und das Material transportiert die Ladung ohne jede Streuung und ohne
jeden Widerstand.“
Das bedeutet, dass man die Zahl von mobilen und immobilen Ladungsträgern sorgfältig ausbalancieren muss,
um Supraleitung zu erhalten. Gibt es zu wenige lokalisierte Ladungsträger, steht zu wenig „Klebstoff“ zum
Koppeln der beweglichen Ladungsträger zur Verfügung. Gibt es hingegen zu wenige mobile Ladungsträger,
dann gibt es nichts, was der Klebstoff koppeln könnte. In beiden Fällen wird die Supraleitung geschwächt
oder bricht überhaupt zusammen. Dazwischen gibt es einen optimalen Bereich, in dem die Supraleitung bis hin
zu bemerkenswert hohen Temperaturen erhalten bleibt. Die große Herausforderung war es, herauszufinden, wie
sich diese Balance zwischen mobilen und immobilen Ladungsträgern kontinuierlich ändert, abhängig
von der Temperatur oder der Dotierung des Materials mit anderen Atomen.
„Wir haben viele unterschiedliche Experimente mit Cupraten durchgeführt und riesengroße Datenmengen
gesammelt. Nun können wir schließlich ein umfassendes phänomenologisches Bild der Supraleitung
in Cupraten präsentieren“, sagt Neven Barišic. Fast gleichzeitig veröffentlichte er seine Ergebnisse
nun in mehreren Fachjournalen, darunter „Nature“. Darin konnte nachgewiesen werden, dass Supraleitung graduell
entstehen kann – ein wichtiger Schritt in Richtung des Ziels, Cuprate zu verstehen und noch bessere Supraleiter
zu entwickeln.
Wenn es möglich wird, Materialien zu erzeugen, die auch bei Raumtemperatur noch supraleitend bleiben, hätte
das weitreichende Konsequenzen für unsere Technologie. Man könnte elektronische Geräte bauen, die
kaum noch elektrische Energie verbrauchen würden. Schwebende Züge könnten konstruiert werden, mit
Hilfe von extrem starken supraleitenden Magneten, sodass billiger, ultraschneller Transport möglich werden
würde. „Noch stehen wir nicht vor dem Ziel“, sagt Neven Barišic. „Aber ein tiefes Verständnis von Hochtemperatur-Supraleitung
würde den Weg dorthin ebnen. Und ich glaube, dass wir nun gleich mehrere wichtige Schritte in diese Richtung
genommen haben.“
Orignalpublikation
Pelc et al., Science Advances 25, Vol. 5, no. 1 (2019) http://advances.sciencemag.org/content/5/1/eaau4538
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