Wachstumseinbruch bisher nicht aufgeholt
Wien (wifo) - Die Finanzkrise 2008 hatte in Österreich einen tiefen Einbruch der Wirtschaftsleistung
zur Folge: Das reale Bruttoinlandsprodukt schrumpfte 2009 um fast 4%, und die Euro-Schuldenkrise 2012 bewirkte
eine weitere Abschwächung. Das Niveau der Wirtschaftsleistung ist derzeit um nur 10% höher als vor zehn
Jahren und liegt um gut ein Zehntel unter dem (verlängerten) Vorkrisentrend. Gemäß der mittelfristigen
Prognose des WIFO wird das BIP in den nächsten Jahren um 2% pro Jahr wachsen. Der Wachstumsrückstand
wird damit auch in der Periode 2017/2023 nicht aufgeholt werden.
Die auf die Finanzkrise folgende anhaltende Trendabsenkung entspricht nicht den bisherigen Erfahrungen und erscheint
aus zumindest drei Gründen erklärungsbedürftig:
- Die Tendenz einer Rückkehr zum Trend setzte in der
Vergangenheit stets unmittelbar nach dem Einbruch ein und führte relativ rasch zum alten Trend zurück.
Selbst nach Finanzkrisen wurden die wirtschaftlichen Folgen nach acht Jahren, die politischen (Stärkung der
extremen Rechten, Aversion gegen Minoritäten, zunehmende Streiks) nach fünf Jahren überwunden.
- Das Phänomen ist in allen Industrieländern zu
beobachten, unbeschadet ihrer unterschiedlichen Strukturen: in allen EU-Ländern trotz deren unterschiedlicher
Betroffenheit von der Finanzkrise, aber auch in den USA trotz deren expansiver Konjunkturpolitik.
- Erklärungsbedürftig erscheint auch, warum Analysten
wie Unternehmen die relativ zur Vorkrisenzeit eher unbefriedigende Wirtschaftslage erstaunlich günstig
beurteilen.
Als Ursachen der mangelnden Rückkehr zum Vorkrisentrend kommen verzögerte Anpassung, Nachfrage- bzw.
Strukturschwäche, Kumulierung verunsichernder Schocks oder ein Strukturbruch in Frage.
Gegen eine Erklärung als verzögerte Anpassung spricht nicht bloß die überdurchschnittliche
Dauer, sondern vor allem das Fehlen jeglicher Annäherungstendenz.
Unzureichende Nachfrage kann bestenfalls einen (kleinen) Teil des mangelnden Aufholprozesses erklären:
Konsum und Export liegen zwar deutlich unter ihrem Vorkrisentrend, doch die gute Kapazitätsauslastung und
die optimistische Einschätzung der Konjunktur lassen keine generelle Nachfrageschwäche erkennen.
Für eine Erklärung durch Strukturschwächen spricht die markante Verlangsamung des Produktivitätswachstum;
die verschiedenen Ansätze könnten zwar die mangelnde Annäherung an den Vorkrisentrend erklären,
nicht aber dessen abrupte Absenkung.
Eher könnte das die These eines Strukturbruchs infolge geänderter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen:
Aufholen der Entwicklungsländer, vor allem Chinas, Stagnation der weltweiten Wertschöpfungsketten, Expansion
von Märkten, die zu starker Konzentration neigen ("winner-take-all markets"), Verschiebung von realen
zu Finanzinvestitionen sowie von internem zu externem Wachstum (Unternehmenskäufe und Fusionen), aber
auch zunehmend ungleiche Verteilung, Erosion der Arbeitsmarktregulierung und eine in der Bevölkerung
verbreitete Attitüde einer "Generation der Verlierer". Sie haben den Verlust der Marktdominanz der
westlichen Industrieländer zur Folge, ein Phänomen, das durch die Finanzkrise schockartig bewusst
wurde.
Die derzeit am ehesten plausibel erscheinende These erklärt Trendabsenkung wie Trendbruch als Folge einer
Kumulierung verunsichernder Schocks: Auf den schockierenden Verlust der Marktdominanz folgten die Schocks der Finanzkrise
2008, der Euro-Schuldenkrise (2012) und der Migrationskrise (2015) sowie der desintegrierenden Brexit-Abstimmung
(2016). Mit der Wahl von Präsident Trump in den USA Ende 2016 und dem Regierungswechsel in Italien (2018)
setzte eine Periode generell verunsichernder und EU-kritischer Politik ein. Gemeinsam mit dem Mangel an qualifizierten
Kräften dürfte das bei Unternehmen wie Politik eine Revision der längerfristigen Wachstumserwartungen
ausgelöst haben, wie sie von umwelt- und klimabewussten Gruppierungen schon lange vorweggenommen worden
war. Offenbar sehen die Unternehmen die Niveauabsenkung der Wirtschaftsaktivität und die Abwanderung von Märkten
(vor allem nach Asien) unter den gegebenen Umständen als "normal" an und haben ihre Pläne darauf
abgestellt. Da das Wachstum überdies etwas rascher ausfiel als zunächst erwartet, die Gewinnlage
gut und die Kapazitätsauslastung befriedigend war, schwand der Pessimismus, und es wurden Investitionen nachgeholt.
Da sich die Arbeitsmarktlage unter der Bedingung eines anhaltenden Wachstumsrückstandes eher verschlechtern
wird, befindet sich die Wirtschaftspolitik in einer schwierigen Situation. Der Spielraum der Nachfragepolitik ist
eng begrenzt; sie könnte bestenfalls sehr selektiv und nachhaltig vorgehen (etwa Verbesserung der Infrastruktur,
Risikoabsicherung im Export). Zur Milderung des Strukturbruches muss gegen die Verdrängung auf strategisch
wichtigen Märkten angekämpft werden. Anstelle der sich offenbar anbahnenden Politik von Handelsbeschränkungen
und nationaler Abschottung erscheint eine Forcierung der Technologiepolitik als die dafür adäquate Strategie.
Effizient und erfolgreich kann eine solche Politik vor allem auf EU-Ebene geplant und durchgeführt werden.
Manche Strukturänderungen, wie etwa die zunehmend ungleiche Einkommensverteilung oder der Trend zur Dominanz
der Finanzmärkte ("financialisation"), können aber auch durch nationale Maßnahmen
zumindest gemildert werden. In Österreich setzt das vor allem Maßnahmen im Bereich der Exportstruktur
und der dahinterliegenden Produktionsstruktur sowie der Verteilung voraus. Die Politik sollte rascher als
bisher auf die neuen weltwirtschaftlichen Herausforderungen reagieren, die Struktur auf rasch wachsende Märkte
und Produktkategorien umorientieren und die Effizienz generell steigern.
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