Turtle: „Es gibt Menschen, die in Gewalt einen gangbaren Weg sehen“
London/Belfast/Wien (epdö) – Einen destabilisierenden Effekt des Brexit auf die Beziehungen zwischen
Protestanten und Katholiken in Nordirland befürchtet der nordirische Methodistenpfarrer David Turtle, Ratsmitglied
der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE). „Nordirland ist ein anderes Land als noch vor zwanzig
Jahren, als wir gerade erst aus dem Konflikt herauskamen. Es gibt nicht mehr dieselbe Unterstützerbasis für
Gewalt, aber eine Sorge liegt darin, dass es ein paar Menschen gibt, die in Gewalt einen gangbaren Weg sehen“,
sagte Turtle im epd-Doppelinterview mit John Bradbury, Pfarrer in der englischen United Reformed Church und Mitglied
des GEKE-Präsidiums. Bradbury sieht im politischen Gerangel um einen Brexit-Deal eine Gefahr für demokratische
Prozesse im Land: „Es ist gewissermaßen eine Bedrohung, wenn Parteien nur dazu bereit sind, an ihre eigene
Parteiposition zu denken und in keiner Form für das Wohl der Nation arbeiten.“ Turtle und Bradbury waren auf
Grund der Sitzung des GEKE-Rats – des Leitungsgremiums der Kirchengemeinschaft – von 7. bis 10. Februar in Wien,
wo sich auch die Geschäftsstelle der GEKE befindet.
Irland: Probleme durch gespaltenes Kirchenterritorium
Eines der wesentlichen Probleme des Brexit aus Sicht der irischen methodistischen Kirche liegt nach Aussage Turtles,
dessen Gemeinde im nordirischen Lisburn liegt, in der Gespaltenheit des Kirchenterritoriums. Das umfasst nämlich
nicht nur das zu Großbritannien zählende Nordirland sondern auch die Republik Irland: „Wenn, und wann
auch immer, der Brexit stattfindet, gibt es in unserer Kirche Menschen, die zur Europäischen Union gehören
und solche, die daraus ausgeschieden sind. Das macht es schwierig, eine gemeinsame Position über das ganze
Land hinweg zu finden.“ Es gebe daher auch keine generelle Meinung zum Brexit, wenngleich Turtle tendenziell bei
Katholiken eher den Wunsch konstatiert, in der EU zu bleiben, während Protestanten mehrheitlich für „Leave“
gestimmt hätten, also dafür, die Union zu verlassen. Gerade nationalistische Kräfte hätten
sich auch für einen Verbleib eingesetzt, da der Austritt die Frage der irischen Einheit weiter verkomplizieren
würde.
Kirchen wollen weiterhin in Europa zusammenarbeiten
Präsidiumsmitglied Bradbury ortet fehlende Einigkeit innerhalb der britischen Kirchen im Umgang mit dem Brexit.
Die Church of Scotland hätte sich zum Beispiel klar gegen einen Austritt ausgesprochen, da die Union eine
der wesentlichen Kräfte gewesen sei, die zur Wahrung von Frieden und internationaler Zusammenarbeit beigetragen
habe. Andere Kirchen seien neutral geblieben, hätten keine dezidierte Stellung bezogen. So auch die United
Reformed Church, der er angehört, was der Vielheit der Meinungen innerhalb der Kirchenmitglieder entspräche.
Alle Kirchen jedoch hätten sich dafür ausgesprochen, unabhängig von der politischen Entscheidung
die kirchliche Zusammenarbeit auf europäischer Ebene beizubehalten.
Aktuell wird in London weiterhin über die Bedingungen des EU-Austritts diskutiert. Einer der Streitpunkte
ist die Grenze zwischen Nordirland und Irland, die bei einem Austritt Großbritanniens zur EU-Außengrenze
würde – dennoch soll es keine harte Grenze geben, um den Frieden in der von einem jahrzehntelangen, 1998 beendeten,
gewaltsamen Konflikt zwischen pro-britischen Protestanten und separatistischen Katholiken geplagten Region nicht
zu gefährden.
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