Vergleichende Forschungen rücken Mittelalter in neues Licht
Wien (öaw) - Forscher/innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität
Wien haben ein neues Tor zum Mittelalter aufgestoßen: Aus einer globalen Perspektive konnte im Großprojekt
"Visions of Community" ein Disziplinen, Kulturen und Räume übergreifendes Bild vom Zusammenspiel
der Weltreligionen und Weltregionen des Mittelalters gewonnen werden. Die wichtigsten Ergebnisse der Forschungen
zum globalen Mittelalter präsentieren die Wissenschaftler/innen vom 21. bis 22. Februar bei einer internationalen
Abschlusskonferenz in Wien.
Rund 50 Wissenschaftler/innen aus Disziplinen wie der Mittelalterforschung, der Sozialanthropologie und der Buddhismuskunde
gingen seit 2011 einer Frage nach: Welchen Einfluss hatten die Weltreligionen Christentum, Islam und Buddhismus
nach dem Zusammenbruch antiker Imperien auf die Herausbildung neuer politischer Einheiten und Gemeinschaften? Die
Suche nach Antworten führte sie im Rahmen des vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Spezialforschungsbereichs
"Visions of Community" (VISCOM) in die unterschiedlichsten Weltregionen - vom abendländischen Europa
über die arabische Welt bis nach Süd- und Ostasien. Dabei stießen sie auf eine Vielzahl unerwarteter
Gemeinsamkeiten - aber auch großer Unterschiede.
"VISCOM hat einen völlig neuen Zugang zur Erforschung des Mittelalters eröffnet", fasst VISCOM-Sprecher
Walter Pohl, Direktor des Instituts für Mittelalterforschung der ÖAW und Professor an der Universität
Wien, zusammen. "Die durchgängig interdisziplinäre Ausrichtung des Spezialforschungsbereichs ermöglichte
es, Wissen aus verschiedensten Bereichen zusammenzuführen. So können wir die gleichzeitige Ausbreitung
der Weltreligionen und ihre Auswirkungen viel besser verstehen."
"Bisher diente Europa meist als Maß der kulturellen Entwicklung und des gesellschaftlichen Fortschritts.
Ein neues Geschichtsverständnis, das auf globaler Vielfalt beruht, kann viel von anthropologischen Zugängen
profitieren", erläutert ferner Andre Gingrich, Direktor des Instituts für Sozialanthropologie der
ÖAW, den methodischen Ansatz des Projektes. "Erst wenn wir unterschiedliche lokale und regionale Entwicklungen
genauer erforschen, können wir auch globale Zusammenhänge verstehen", so der stellvertretende Sprecher
des Spezialforschungsbereichs.
Weltreligionen legitimierten Völker und Staaten
Ein tieferes Verständnis konnten die Forscher/innen beispielsweise von dem Verhältnis zwischen Weltreligionen
und neuen Staaten gewinnen. Als das Weströmische Reich ab 400 n. Chr. zerfiel, entstanden in Europa politische
Gebilde, die - wie beispielsweise die Reiche der Burgunder, Franken oder Angeln - nach einzelnen Völkern oder
ethnischen Gruppen benannt wurden. Auch wenn manche von ihnen nur von kurzer Dauer waren, setzte sich das Prinzip
der Benennung von Staaten nach Völkern in Europa durch. Daher finden sich auf der Karte Europas schon vor
1000 Jahren viele Namen heutiger Staaten: England, Frankreich, Dänemark oder Ungarn.
Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt gerade der globale Vergleich. Neue Staaten betraten auch in der
islamischen Welt und in Ostasien nach dem Zerfall großer Imperien die politische Bühne. Anders als in
Europa waren sie meist nach den herrschenden Dynastien und nicht nach Völkern benannt und gingen oft wieder
in neuen Imperien auf.
Wie die Wissenschaftler/innen im Rahmen von VISCOM zeigen konnten, hatte dabei die Religion einen wichtigen Einfluss:
Alle drei universalen Weltreligionen - Christentum, Islam und Buddhismus - wurden zur Legitimation großer
wie kleinerer staatlicher Gebilde herangezogen. Bei den politischen Umwälzungen im mittelalterlichen Europa
war das Christentum aber auch in einer weiteren Hinsicht ein wichtiger Faktor: Gemäß der biblischen
Aufforderung "Gehet hin und lehret alle Völker" konnte das Christentum seinen universalen Anspruch
mit und in vielen Staaten gleichzeitig verfolgen. Auf diese Weise war es möglich, dass sich in Europa eine
Vielzahl relativ stabiler Staaten entwickeln konnte - und damit jene Grundlage, auf der schließlich die modernen
Nationen des Kontinents entstanden.
Globales Mittelalter: 60 Bücher und hunderte Artikel
Auf überraschende Ähnlichkeiten stießen die Forscher/innen auch zwischen klösterlichen Gemeinschaften.
Durch den detaillierten Vergleich der gesellschaftlichen Funktionen von tibetisch-buddhistischen und europäisch-katholischen
Klöstern mit südarabischen ‚Hijras' gelang die Einsicht, dass zwar alle drei Einrichtungen der ungestörten
Entfaltung religiösen Lebens und vielfältigen Wissens dienten, islamische Zentren der Gelehrsamkeit aber
mehr Meinungsvielfalt zuließen und den Vertretern abweichender Meinungen Schutz vor staatlichen Eingriffen
boten.
Diese und zahlreiche weitere Forschungsergebnisse des VISCOM-Projekts können in inzwischen etwa 60 Büchern
und hunderten weiteren Publikationen nachgelesen werden. Eine Auswahl wird zudem bei der internationalen Abschlusskonferenz
"Adventures in Comparison: The Global Middle Ages" vom 21. bis 22. Februar 2019 präsentiert: Insgesamt
23 hochkarätige Vortragende aus dem In- und Ausland sind dafür an der ÖAW sowie der Universität
Wien zu Gast und diskutieren auch Ergebnisse aus vergleichbaren Großprojekten in anderen europäischen
Ländern. Erstmals erlaubt die Konferenz damit zugleich einen Erfahrungsaustausch über Forschungen, die
einen "global turn" in der Untersuchung des Mittelalters mitgestalten. VISCOM hat gezeigt: Wenn wir Europa
besser verstehen wollen, dann müssen wir seine Geschichte im globalen Zusammenhang untersuchen.
Termin
VISCOM Abschlusskonferenz: Adventures in Comparison: the Global Middle Ages
Zeit: Donnerstag, 21. Februar 2019 und Freitag, 22. Februar 2019
Ort: Donnerstag: Theatersaal (ÖAW), Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien; Freitag: Sky Lounge (Universität Wien),
Oskar-Morgenstern-Platz 1, 1090 Wien
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