Pröll: Herausfordernde Situation, die mit Angst und Hetze nicht bewältigt werden
kann – Große Resonanz bei Club Niederösterreich-Vortrag von Gerald Faschingeder
Pixendorf/Wien (club nö) - "Oberflächlichkeit, Populismus und Nationalismus, wie wir sie
in Zusammenhang mit dem Thema Flucht und Migration derzeit erleben, helfen uns nicht, die Situation zu verstehen
und noch viel weniger mit ihr auf sinnvolle Weise umzugehen. Vielmehr braucht es einen Paradigmenwandel in der
Entwicklungshilfe, globale Kooperationen, Empathie und viel mehr Wissen um Hintergründe und internationale
Zusammenhänge", zeigte sich der Präsident des Club Niederösterreich, Erwin Pröll, anlässlich
des Vortrages "Perspektive Europa" von Gerald Faschingeder überzeugt. Auch wenn ein Großteil
der Wanderungsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent selbst ende, so handle es sich bei der Migration aus Afrika
nach Europa um eines der großen Zukunftsthemen. Grund genug für den Club Niederösterreich, sich
damit auseinanderzusetzen, betonte Pröll einleitend. "Als Gründungsmitglied und langjährige
Partnerin des Club Niederösterreich ist es für die Raiffeisenfamilie geradezu eine Selbstverständlichkeit,
Gastgeberin dieser hochkarätigen Veranstaltung zu sein. Dies umso mehr, als die gewählte Thematik von
hoher Brisanz ist und mit Gerald Faschingeder eine beeindruckende Persönlichkeit als Vortragender gewonnen
werden konnte", erklärte der stellvertretende Generaldirektor der Raiffeisen-Landesbank Niederösterreich
Wien, Reinhard Karl.
Gerald Faschingeder, Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Leiter des Paulo Freire Zentrums für
transdisziplinäre Entwicklungsforschung und dialogische Bildung, bestätigte, dass rund zwei Drittel der
weltweiten Migration nach wie vor im regionalen Rahmen stattfinde und in den meisten Ländern Europas, darunter
auch Österreich, die Zuwanderung aus Afrika bedeutend geringer sei, als man aus der öffentlichen Debatte
schließen könne. Dennoch: Allein schon die Tatsache, dass Prognosen zufolge im Jahr 2050 eine knappe
halbe Milliarde relativ alter Europäer/innen rund 2,5 Milliarden relativ jungen Menschen aus Afrika gegenüberstehen
werden, mache deutlich, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Faktoren, die zu Flucht und Migration führen,
unabdinglich sei. Pull-Faktoren seien soziale und ökonomische Sicherheit, Frieden und Rechtssicherheit sowie
familiäre Netzwerke zwischen Afrika und Europa, als wesentliche Push-Faktoren nannte Faschingeder Kriege,
politische Instabilität, Verfolgung und Diskriminierung genauso wie demografische Probleme, Naturkatastrophen,
Klimawandel und Armut - Faktoren, die er am Beispiel mehrerer afrikanischer Länder und insbesondere Nigerias
erörterte.
Europas Mitverantwortung
Ein Gutteil der Migrationsursachen stehe auch in direktem Wechselspiel mit der europäischen Gesellschaft,
der Geschichte und der Politik europäischer Länder. So etwa zeige der Kolonialismus immer noch Wirkung,
eine Folge etwa seien historisch gewachsene Netzwerke, und mache der - weitgehend von der nördlichen Halbkugel
verursachte - Klimawandel ganze Landstriche zunehmend unbewohnbar. Einseitige Handelsabkommen und -verträge
wiederum zerstören häufig lokale Wirtschaftskreisläufe. So etwa können örtliche Geflügelproduzenten
mit Dumping-Exporten von Fleischteilen, die der europäische Markt nicht braucht, nicht mithalten. Auch die
Fischereiabkommen zwischen der EU und insbesondere westafrikanischen Staaten wirken sich negativ auf die Erwerbsmöglichkeiten
der Menschen in den betroffenen Ländern aus. Nicht selten führe die daraus resultierende Arbeitssuche
andernorts insbesondere Frauen in die Zwangsprostitution nach Europa. Schätzungen gehen davon aus, dass rund
drei Viertel der 11.000 nigerianischen Sexarbeiterinnen in Österreich Opfer von Menschenhandel sind. Die größte
Müllhalde Europas wiederum befindet sich in Ghana, wo Elektroschrott aller Art legal und auch illegal entsorgt
wird und eine ökologische wie auch soziale Katastrophe verursacht. Die Liste der Verstrickungen von europäischer
Mitverantwortung könne, so Faschingeder, noch fortgesetzt werden.
Lösungsansätze: Engagement auf allen Ebenen gefragt
So vielfältig die Migrationsursachen sind, so vielschichtig gelte es schließlich auch Lösungen
anzustreben. Dazu gehöre es, sich von stereotypen Afrika-Bildern zu lösen und im Sinne echter Partnerschaften
afrikanische Initiativen und Netzwerke zu unterstützen, die insbesondere eine Verbesserung der Lebensqualität
anstreben. Es gelte, die Entwicklungszusammenarbeit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu stärken
und auf Augenhöhe mit den Akteuren vor Ort voranzutreiben, insbesondere was den Ausbau der Infrastrukturen
und die Förderung lokaler Wertschöpfungsketten angehe. Handelsabkommen im Rahmen der WTO müssen
so getroffen werden, dass sie nicht zu De-Industrialisierung, Verlust an Arbeitsplätzen und Souveränität,
Kapitalflucht, ökologischer Zerstörung und noch größerer Armut führen.
"Ganz wird man die Wanderungsbewegungen von Afrika nach Europa auch bei größtmöglichem
Engagement, von dem wir ohnedies weit entfernt sind, freilich dennoch nicht eindämmen können. Und angesichts
der demografischen Herausforderung, vor der Europa steht - Stichwort Bevölkerungsrückgang und Überalterung
- wird Zuwanderung allen populistischen Zurufen zum Trotz in ganz Europa nötig sein. Ein Teil davon kann und
wird aus Afrika stammen", resümierte Gerald Faschingeder abschließend.
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