Innsbruck (universität) - Dem Schwarmverhalten von Lebewesen und Robotern sind Wissenschaftler der Universitäten
Innsbruck und Konstanz mit künstlicher Intelligenz auf der Spur. Sie benutzen Methoden des maschinellen Lernens,
um kollektive Bewegung zu modellieren, ohne dabei das Verhalten der Individuen von vornherein festzulegen. Im Fachjournal
PLoS One untersuchen sie auf diese Weise das Verhalten von Wanderheuschrecken.
Wie kann man kollektives Verhalten erklären? In Vogelschwärmen, Menschenmengen oder bei Wanderheuschrecken
bewegen sich viele Individuen perfekt aufeinander abgestimmt in komplexen Mustern. Wie ihnen das ohne einen zentralen
Anführer gelingt, beschäftigt Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen. Bisher wurde bei der Simulation
kollektiver Bewegung das Verhalten von Individuen in der Regel vorab postuliert und in Algorithmen übersetzt,
um die daraus resultierende kollektive Bewegung zu untersuchen. Katja Ried und Hans Briegel vom Institut für
Theoretische Physik der Universität Innsbruck und Thomas Müller vom Fachbereich Philosophie der Universität
Konstanz schlagen nun eine neue Methode vor, Schwarmverhalten zu modellieren, die ohne diese Vorannahme auskommt
und so einen natürlicheren und realistischeren Blick auf das Individuum erlaubt. Die Individuen werden von
ihnen als lernende Agenten modelliert, die nicht einfach eine vorprogrammierte Reaktion auf ein Ereignis zeigen,
sondern ihr Verhalten im Laufe der Zeit individuell anpassen, indem sie Erfahrungen aus dem bisher Erlebten sammeln.
„Stellt sich eine Entscheidung im Nachhinein als richtig heraus, wird der Agent belohnt und ist beim nächsten
Mal geneigt, in der gleichen Situation diese Entscheidung noch einmal zu treffen“, erläutert Katja Ried den
aus dem Maschinellen Lernen kommenden Ansatz. „Die Agenten sammeln in unserem Modell Feedback und lernen dabei,
was sie tun müssen, um möglichst gute Chancen auf eine Belohnung zu haben“, erklärt die Physikerin.
Das dabei zum Einsatz kommende Lernmodell der Projektiven Simulation haben Forscher um den Quantenphysiker Hans
Briegel vor einigen Jahren selbst entwickelt und bereits in anderen Bereichen erprobt, etwa bei der Suche nach
optimierten Experimenten im Quantenlabor oder dem Entwurf kreativer Maschinen.
Heuschrecken, Bienen und Roboter
Die in der nun veröffentlichten Studie im Fachjournal PLoS One formulierte allgemeine Methode zur Modellierung
kollektiver Bewegung haben die Wissenschaftler auf Wanderheuschrecken angewendet. Ein einziger Schwarm kann aus
mehr als einer Milliarde Tiere bestehen und der von ihnen verursachte wirtschaftliche und humanitäre Schaden
ist für die betroffenen Länder meist beträchtlich. „Heuschrecken überwinden gemeinsam große
Distanzen, um immer wieder neues Futter zu finden“, schildert Katja Ried deren Verhalten. „Diese kollektive Bewegung
haben wir mit unseren Algorithmen simuliert. Auf diese Weise können wir etwas über das Verhalten der
einzelnen Heuschrecke lernen.“ In der Untersuchung ging es den Forschern zunächst darum, ihr Modell zu überprüfen.
Dabei konnten sie die Ergebnisse von experimentellen Studien mit Heuschrecken reproduzieren. Nun wollen die Physiker
gemeinsam mit Biologen grundlegende Fragen nach den Ursachen dieses Verhaltens sowie dem individuellen Verhalten
von Heuschrecken im Labor erforschen. „Hier kann zum Beispiel geklärt werden, wie sich eine Heuschrecke verhält,
wenn sie von einer anderen Heuschrecke an der Seite berührt wird oder sich andere um sie herum auf eine bestimmte
Weise bewegen“, erklärt Ried. Mit solchen Erkenntnissen kann das theoretische Modell weiter verfeinert werden.
Noch ist sich die Forschung uneins, in welchem Maße Heuschrecken ihr Verhalten im Schwarm erlernen oder anpassen
können. Andere Schwarmtiere zeigen hingegen eine ausgeprägte Lernfähigkeit, so zum Beispiel Honigbienen.
Sie lassen sich im Labor soweit trainieren, dass sie zu unterschiedlichen Tageszeiten bevorzugt auf Blumenattrappen
unterschiedlicher Farben landen. Auch diese Verhaltensanpassung kann mit Hilfe der lernenden Agenten modelliert
werden, was Aufschluss darüber gibt, wie Bienen die Informationen verarbeiten. Das Modell lässt sich
aber auch sehr leicht auf Roboter umlegen. Soll ein Roboterschwarm mit einem bestimmten Ziel losgeschickt werden,
kann dessen Verhalten am Computer simuliert und trainiert werden.
„Modelle von lernenden Agenten können unser Verständnis für die Ursprünge von kollektiven Bewegungen
weitreichend verbessern“, resümiert Hans Briegel. Sein Team wird das neue Modell nun mit Erkenntnissen aus
der Biologie und Ökologie kombinieren, um das Phänomen der kollektiven Bewegung in komplexeren Umgebungen
weiter zu untersuchen.
Publikation
Modelling collective motion based on the principle of agency: General
framework and the case of marching locusts. Katja Ried, Thomas Müller, Hans J. Briegel. PLoS ONE 14(2): e0212044
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0212044 (Open Access)
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