NHM Wien-WissenschafterInnen erforschen, wie Säugetierbecken neues Licht auf menschliche
Geburtsprobleme werfen können
Wien (nhm-wien) - Komplikationen bei der Geburt sind beim Menschen keine Seltenheit. Ein Grund dafür
ist, dass das weibliche Becken im Vergleich zum Neugeborenen relativ schmal ist. Die Frage, warum das weibliche
Becken im Laufe der Evolution nicht breiter geworden ist, beschäftigt AnthropologInnen und EvolutionsbiologInnen
schon seit Langem. Ein möglicher Grund: Ein schmales Becken und der damit einhergehende starke Beckenboden
tragen zur männlichen Erektion bei.
Frauen haben deutlich breitere Becken als Männer. Dies wird als Anpassung an die Geburt relativ großer
Neugeborener gesehen. Dennoch sind weibliche Becken nicht so breit, dass Geburten immer problemlos verlaufen. Dass
es einen Selektionsdruck gibt, der einer Erweiterung des Beckens entgegenwirkt, gilt daher als wahrscheinlich.
Was dessen Ursache ist, ist jedoch umstritten. Lange Zeit galt die Hypothese des sogenannten „obstetrischen Dilemmas“
als beste Kandidatin, der zufolge der aufrechte Gang des Homo sapiens ein schmales Becken erfordert. Empirische
Belege dafür gibt es hingegen kaum. Eine alternative Hypothese stellt den Beckenboden in den Vordergrund:
Ein zu breites Becken bei aufrecht gehenden Menschen würde den Beckenboden, auf dem das Gewicht des Fötus
sowie der inneren Organe lastet, anfällig für Inkontinenz und ein Organabsenken (Prolaps) machen. Prolaps
und Inkontinenz kommen tatsächlich vermehrt bei Frauen mit besonders breitem Becken vor. Eine Überprüfung
solcher Hypothesen wird jedoch durch die begrenzte Variation hinsichtlich Anatomie und Fortbewegungsmuster innerhalb
des modernen Mensch erheblich erschwert.
Ein internationales Team, dem auch zwei ForscherInnen der Säugetiersammlung des Naturhistorischen Museums
Wien angehören, hat in einem online vorab veröffentlichten Artikel nun einen Weg vorgeschlagen, wie insbesondere
die Beckenbodenhypothese anhand vergleichender Beckenstudien weiter untermauert werden könnte. Nicole Grunstra,
eine mit der Säugetiersammlung des NHM Wien assoziierte evolutionäre Anthropologin und Erstautorin der
Studie, sieht besonders Fledermäuse als erfolgversprechende Studiengruppe an: „Fledermäuse bringen die
relativ größten Neugeborenen aller Säugetiere zur Welt; ihr Gewicht kann bis zu 45% desjenigen
der Mutter betragen. Beim Menschen beträgt dieser Wert nur etwa 5%. Mir war aufgefallen, dass es einen ausgeprägten
Sexualdimorphismus in der Anatomie von Fledermausbecken gibt: während bei Männchen das Becken verknöchert
ist, sind die Becken der Weibchen ausnahmslos offen, was den Geburtskanal überhaupt erst groß genug
macht, um so große Junge zu gebären. Fledermäuse sind aber auch die einzigen fliegenden Säugetiere,
und die meisten von ihnen ruhen mit dem Kopf nach unten; beides Umstände, die den Druck auf den Beckenboden
verringern.“
Diese Entlastung, so die ForscherInnen in ihrem Artikel, könnte den Selektionsdruck auf ein schmales Becken
aufgehoben haben, was es den Fledermausweibchen – im Gegensatz zum Menschen – überhaupt erst ermöglicht
hätte, ihr Becken zu öffnen und derart große Neugeborene zu haben. Da es mehr als 1.000 Fledermausarten
gibt, die sich in ihrem Flug- und Ruheverhalten zum Teil erheblich unterscheiden, können präzise Vorhersagen
getroffen werden: Ist die Beckenbodenhypothese zutreffend, sollten erratisch fliegende sowie aufrecht in Spalten
ruhende Arten aufgrund der größeren Beschleunigungskräfte auf den Beckenboden weniger stark geöffnete
Becken im weiblichen Geschlecht aufweisen. Dies wird derzeit gerade mithilfe der umfangreichen Säugetiersammlung
des NHM Wien weiter untersucht. Grunstra ist überzeugt, dass der Blick über den Tellerrand der Anthropologie
neue Erkenntnisse verspricht: „Der Mensch ist zunächst einmal ein Säugetier, und viele der anatomischen
Herausforderungen, die ihn betreffen, finden sich auch in anderen Gruppen. Ein vergleichender Ansatz ist daher
ganz sicher eine Bereicherung.“
Die ForscherInnen streichen auch heraus, dass Säugetiere insgesamt eine große Bandbreite an relevanter
Variation bezüglich Fortbewegung, Körperhaltung sowie relativer Größe der Neugeborenen aufweisen,
sowohl was Ähnlichkeiten, als auch, was Unterschiede zur Situation beim Menschen anbetrifft. Vergleichende
Studien an verschiedenen Säugetiergruppen können dazu beitragen, ein evolutionär weniger eng gefasstes
Verständnis des Geburtsproblems des Menschen zu erzielen.
„Für den Menschen,“ erklärt Frank Zachos, Leiter der Säugetiersammlung des NHM Wien und Co-Autor
der Studie, „ergibt sich auch ein ganz anderer möglicher Blickwinkel, den wir Mihaela Pavlicev aus Cincinnati
verdanken, die ebenfalls an der Studie beteiligt ist: Ein starker Beckenboden - der durch ein schmales Becken begünstigt
wird - trägt eventuell zur männlichen Erektion, einem Merkmal von offensichtlicher Bedeutung für
die Reproduktion, und somit auch zur evolutionären Fitness bei. Es wäre also möglich, dass die Selektion
für ein schmales Becken primär über das männliche Geschlecht wirkt und eine Verbreiterung des
weiblichen Beckens so lediglich indirekt verhindert wird.“
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