Appell von Europabischof Zsifkovics bei COMECE-Treffen – "Europa hat seine Herkunft vergessen
und braucht eine Familienaufstellung als Therapie!"
Brüssel/Eisenstadt (martinus) – In rund zwei Monaten werden die EU-Bürger die Mitglieder des Europäischen
Parlaments wählen und damit die Zukunft und Gesetze Europas für die kommenden fünf Jahre bestimmen.
"Die aktuelle Versammlung der EU-Bischöfe fällt in eine Zeit, die für unseren Kontinent nicht
wichtiger sein könnte. Europa ist vor der Wahl mit einem gesellschaftlich schwierigen Klima konfrontiert,
das verstärkt wird durch den chaotischen Brexit und die Zunahme extremer politischer Positionen in verschiedenen
europäischen Ländern", so Bischof Ägidius J. Zsifkovics, der die Österreichische Bischofskonferenz
auf europäischer Ebene vertritt. Mit Nachdruck appelliert der Europabischof "nicht nur an Katholiken,
sondern an alle Menschen guten Willens, zur kommenden Wahl zu gehen und am gemeinsamen Haus Europa mit zu bauen."
Integrative Kraft der Kirche in instabilen Zeiten
In Zeiten der Destabilisierung, der Desorientierung und Verunsicherung sei die gesellschaftlich integrative
Kraft der Kirche besonders gefragt: "Indem die Kirche daran erinnert, dass wir alle Kinder Gottes sind, erinnert
sie zugleich die Staaten daran, sich als Geschwister zu betrachten und zu verhalten. Schließlich sollten
in allen Entscheidungen das Interesse des gesamten Kontinents und letztlich der Menschheit bzw. des Humanen selbst
im Auge behalten werden", betont Bischof Zsifkovics im Rahmen der COMECE-Frühjahrsvollversammlung, an
der auch Kommissionspräsident Jean-Claude Jucker teilgenommen hat.
Christliche Werte in der Politik
Die COMECE sieht es als wichtige Aufgabe an, nach der Wahl mit den politischen Vertretern und Funktionären
ins Gespräch zu kommen: "Wir wollen einen intensiven Dialog führen, auch und gerade über die
Umsetzung christlicher Grundwerte und eines christlichen Menschenbildes", so der Bischof. Dabei haben die
EU-Bischöfe durchaus Prognosen im Blick, die von einer Zunahme EU-und europaskeptischer Stimmen ausgehen.
Bischöfe Großbritanniens weiterhin dabei
Während mit dem Brexit Europa aktuell von Trennung statt von Einheit geprägt ist, positioniert sich
die COMECE als bewusstes Gegenmodell zu Spaltung und Trennung: "Wir haben beschlossen, dass die Bischöfe
Großbritanniens auch künftig ihren Platz in der COMECE-Versammlung haben sollen. Dort, wo die politische
Logik und Eigendynamik versagt, müssen wir als Kirche positiv vorangehen", sagt der Europabischof.
Mehr Anstrengung für soziale Gerechtigkeit
Vom neu gewählten Europaparlament erwarte sich Bischof Zsifkovics eine stärkere Fokussierung für
soziale Gerechtigkeit, eine Aufgabe, die auch von Papst Franziskus als besonders dringlich eingestuft wurde: "Diese
Frage braucht mehr politischen Einsatz, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Schere zwischen Arm und Reich
immer weiter besorgniserregend anwächst und der Mittelstand immer stärker belastet wird." Weitere
dringliche politische Agenden müssten u.a. "Initiative gegen die skandalöse Verschwendung von Nahrung
auf dem europäischen Markt – wir sprechen hier von jährlich 80 Millionen Tonnen weggeworfenen Lebensmitteln
(!) – sowie eine tatsächlich wirksame Initiative gegen Waffenexporte sein. Diese Waffenexporte verstärken
die Massenmigration von Menschen aus Kriegsgebieten im Nahen Osten und in Afrika. Trotz bestehender Verbote exportieren
nach wie vor Staaten Panzer und andere Kriegsgeräte und machen mit diesen todbringenden Waffen Geschäfte",
spricht Bischof Zsifkovics bei der COMECE-Versammlung Klartext. Die COMECE macht sich außerdem für weltweite
soziale Standards gegen Billigarbeit und die Ausbeutung von Arbeitskraft stark.
Politik muss Alltagssorgen ernstnehmen
Von den Regierungschefs erwartet sich der Europabischof, dass sich die Politik tatsächlich und wahrhaftig
den täglichen Sorgen und Nöten der Menschen widmet. "Eine Hauptfrage ist für mich: Wie können
wir eine Wirtschafts- und Sozialpolitik auf den Weg bringen, die den Menschen, den Familien und der Gemeinschaft
dient", so Bischof Zsifkovics. Mit Nachdruck fordert der Bischof eine "gesamteuropäische Solidarität"
beim Thema Asyl und Migration: "Ohne diese kann Europa auch nicht seinen eigenen Bürgern dienen. Es braucht,
wie Papst Franziskus sagt, Solidarität in Weisheit. Das heißt eine Solidarität, die freilich auch
umsetzbar und verkraftbar sein muss."
Juncker warnt vor Nationalismus
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei seinem Besuch der COMECE- Vollversammlung: "Europa geht
es nicht gut, aber besser als man denkt. Europa muss als inklusives, nicht als exklusives und ausgrenzendes Projekt
verstanden werden. Was Papst Johannes Paul II. gesagt hat, dass Europa mit seinen beiden Lungenflügeln atmen
muss, müssen wir für uns wiederfinden. Die Werte des Evangeliums und überhaupt eine Politik, die
auf ein werteorientiertes Denken und Handeln nicht vergisst, sind dafür ganz wesentlich." Ausdrücklich
warnt der Kommissionspräsident davor, in nationale oder nationalistische Strukturen zurückzufallen: "Das
wäre die Selbstaufgabe Europas", so Juncker. Daraus folge jedoch keineswegs, dass das Projekt Europa
gegen die Nation gerichtet sei, wohl aber die Zielsetzung eines solidarischen und respektvollen europäischen
Miteinanders.
Ausdrücklich teilte der Kommissionspräsident die Kritik der EU-Bischöfe, dass "das soziale
Europa unterentwickelt ist. Trotz vieler Richtlinien, etwa zur Vermeidung von Sozialdumping, bleiben viele Ungerechtigkeiten",
so Juncker. Die Soziallehre der katholischen Kirche sei dafür ein besonders wichtiger Wertemaßstab,
der jedoch zu wenig umgesetzt werde. Wenn Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten weiterhin derart drastisch zunehmen,
seien gesellschaftliche Unruhen und Rebellionen in Zukunft nicht auszuschließen. Eine "Tragödie"
nennt Juncker das aktuelle Brexit-Chaos. Zugleich ruft er in Erinnerung, dass das europäische Einigungsprojekt
ohne Großbritannien genauso wenig denkbar gewesen wäre wie die Befreiung vom Faschismus.
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Orieschnig: Wo steht das vereinte Europa in diesem Moment?
Bischof Zsifkovics: An einem der wohl kritischsten Punkte seiner Geschichte. In etwa zwei Monaten werden die EU-Bürger
die Mitglieder des Europäischen Parlaments wählen und damit die Zukunft und die Gesetze Europas für
die kommenden 5 Jahre bestimmen. Diese Wahl fällt in ein schwieriges gesellschaftliches Klima in Europa, das
derzeit noch verstärkt wird durch den chaotischen Brexit und das befürchtete Zunehmen extremer politischer
Positionen in verschiedensten europäischen Ländern.
Orieschnig: Was können die Bischöfe hier tun?
Bischof Zsifkovics: Die Kirche muss in dieser schwierigen Zeit noch viel entschiedener auftreten: auf Ebene der
EU, auf Ebene der einzelnen Staaten und auch auf lokaler Ebene, indem sie ganz nah bei den Menschen und ihren Problemen
ist und das auch kommuniziert. Leider sind wir derzeit zu sehr mit uns selbst beschäftigt.
Orieschnig: Wie ist das gemeint?
Bischof Zsifkovics: Papst Franziskus fordert uns Bischöfe völlig zurecht auf, dem Fehlverhalten kirchlicher
Amtsträger gerade im Bereich Missbrauch alle Aufmerksamkeit und Nulltoleranz in Hinblick auf Aufklärung,
Prävention und Transparenz zu widmen. Gleichzeitig warnt Papst Franziskus aber auch, so wie bereits vor ihm
Papst Benedikt XVI., vor einer Reduktion der Kirche auf eine soziale Einrichtung, eine Art NGO. Diese Reduktion
erleben wir derzeit und sie ist nicht dem gegenwärtigen öffentlichen Diskurs und den Medien anzulasten,
sondern den Vertretern der Kirche selbst.
Orieschnig: Inwiefern?
Bischof Zsifkovics: Viele Bischöfe in Westeuropa laufen Gefahr, in einer chronischen Angst- und Verteidigungsstarre
die aktive Gottesrede zu vergessen und nur mehr von der Systemoptimierung kirchlicher Organisation zu sprechen.
Ich schäme mich jeden Tag für das, was Menschen in kirchlichen Einrichtungen angetan wurde. Aber ich
weiß auch, dass die Aufarbeitung nicht ehrlich sein kann, wenn Christus, der menschgewordene Gott, nicht
täglich im Mittelpunkt unserer Identität, unserer Gebete und unseres Tuns steht.
Die Missbrauchskrise steht für eine tiefe Krise der Spiritualität und der Tugendhaftigkeit in unserer
Kirche.
Orieschnig: Aber ist das nicht Teil des Problems, dass gerade die Fixiertheit auf die jenseitigen Sphären
den Blick auf menschliche Fehler im System Kirche so lange verhindert hat?
Bischof Zsifkovics: Wer den Kopf ständig in den Wolken des Ideals hat, kann natürlich leicht in den nächsten
Graben fallen. Doch wir sind und bleiben trotz aller Bemühungen eine Kirche der Sünder. Der menschliche
Makel wird durch menschliche Mittel wohl niemals ganz ausradierbar sein. Aber eben dazu ist ja einer für die
Menschen am Kreuz gestorben! Wenn die Kirche das ausblendet und die wesenhafte Erlösungsbedürftigkeit
des Menschen in eine simple organisatorische Behebbarkeit von Systemfehlern ummünzt, betrügt sie die
Menschheit und sich selbst. Dann entwickeln wir uns in Richtung des Beichtroboters und der vollautomatisierten
Kommunionsspendung - und auch diese wären wohl letztlich fehleranfällig.
Orieschnig: Das ist nun sehr philosophisch. Was heißt das konkret?
Bischof Zsifkovics: Ich antworte wieder mit Franziskus: Als Bischöfe den Stock des Pilgers wieder aufnehmen,
denn die kirchliche Wanderschaft war nie leicht, und als Hirten am Anfang, in der Mitte und am Ende der Herde gehen!
Nicht stehenbleiben und den Blick auf den Weg verlieren, weil wir nur mehr unsere eigene Krätze im Blickfeld
haben! Die Menschen erwarten sich viel von uns - daher empören sie sich auch so über unsere Fehler. Und
das ist ein großer Auftrag und soll uns eigentlich Mut machen!
Orieschnig: Was heißt das in Bezug auf Europa?
Bischof Zsifkovics: Die Bischöfe Europas und ComECE rufen, trotz der Asche auf unseren Häuptern, in dieser
kritischen Situation unseres Kontinents die Menschen mit allem Nachdruck auf, zur kommenden Wahl zu gehen und die
Zukunft Europas aktiv mitzugestalten. Wir appellieren dabei nicht nur an Katholiken, sondern an alle Menschen guten
Willens. Es geht uns darum, das Mitbauen am Gemeinwohl im gemeinsamen Haus Europa nicht nur als staatsbürgerliche
Möglichkeit aufzufassen, sondern als christliche und als ganz allgemein menschliche Pflicht. Und wir bitten
die Menschen, ihre Stimme verantwortungsvoll zu vergeben, im Hinblick auf eine Politik des Konstruktiven und der
Inklusion - und nicht der Spaltung und der Ausgrenzung.
Orieschnig: Welche Bedeutung kann so ein Appell für das künftige Zusammenspiel der Staaten überhaupt
haben?
Bischof Zsifkovics: Eine nicht unerhebliche! Die ursprüngliche Botschaft des Evangeliums stellt ja den Zentrifugalkräften
der menschlichen Gesellschaft die nötigen Zentripetalkräfte entgegen. Die christliche DNA heißt
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" In Zeiten der Destabilisierung zwischen Staaten erkennen
sogar kirchenskeptische politische Kräfte die Wichtigkeit dieser DNA. Indem die Kirche alle Menschen als Kinder
Gottes in Erinnerung ruft, ermahnt sie ja auch die Staaten, einander als Geschwister zu betrachten, die in allen
Entscheidungen immer auch das Interesse unseres ganzen Kontinents und letztlich der gesamten Menschheit im Auge
behalten müssen.
Orieschnig: Wie geht die ComECE mit dem Brexit um?
Bischof Zsifkovics: Sie begegnet ihm mit dem Geist der Einheit als Gegengift gegen jegliche Form der Spaltung.
Als Zeichen, dass Einheit und nicht Trennung die Leitlinien des christlichen Menschenbildes in Europa sind, hat
die ComECE beschlossen, dem Szenario des Brexit auf kirchlicher Ebene das einzig vernünftige Gegenmodell gegenüberzustellen:
Wir haben beschlossen, dass die Bischöfe Großbritanniens auch in Zukunft ihren Platz in der ComECE-Versammlung
haben sollen. Dort, wo die politische Vernunft versagt, müssen wir als Kirche positiv vorangehen.
Orieschnig: Inwiefern ist dieses ComECE-Gegenmodell zum Brexit "vernünftig"
Bischof Zsifkovics: Ende des Jahrhunderts werden wir Europäer 4 Prozent von 10 Milliarden Erdbewohnern ausmachen.
Wir werden also auch geopolitisch bescheidener werden müssen. In die nationalen Strukturen zurückzufallen,
wäre eine völlige Selbstaufgabe. Wir können in Zukunft nur mehr als europäische Einheit bestehen.
Diese Einheit muss aber, um Bestand zu haben, einem Mosaik gleichen, nicht einem Cocktail. Ich halte es hier mit
Robert Schumann, der 1950 sagte: Europa kann nicht gegen die Nationen entstehen, sie dürfen nicht aufgelöst
werden in einem europäischen Durcheinander. Das heißt aber auch, dass Europa seine nationalen Einheiten
verstehen und respektieren muss. Wir müssen auch die Patrioten mögen und schätzen.
Orieschnig: Befürchtet die Kirche einen Rechtsruck bei der kommenden EU-Wahl
Bischof Zsifkovics: Nach der Wahl könnte es dazu kommen, dass euroskeptischere Stimmen am Ruder sind. Es wird
dann die wichtige Aufgabe sein, als ComECE auch mit neuen politischen Vertretern und Funktionären ins Gespräch
zu kommen und einen intensiven Dialog zu führen, in dem christliche Werte nicht zu kurz kommen. Die Kirche
ist die einzige Organisation, die durch die Jahrhunderte geht. Sie wird auch noch da sein, wenn einzelne politische
Protagonisten und Parteien, Staaten und wirtschaftlich-politische Zusammenschlüsse nicht mehr da sind. Daher
hat sie die Pflicht und Verantwortung, die Menschen zu begleiten. Vor allem in dieser jetzigen schwierigen Situation.
Orieschnig: Was erwarten Sie sich als österreichischer Europabischof vom künftigen EU-Parlament?
Bischof Zsifkovics: Ich erwarte mir mehr soziale Gerechtigkeit für die Menschen Europas. Diese ist noch unterentwickelt,
die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer, der Mittelstand immer stärker belastet. Ich erwarte
mir aber auch Initiativen gegen die skandalöse Verschwendung von Nahrung auf dem europäischen Markt.
80 Millionen Tonnen Nahrung werden jährlich weggeworfen - das ist ein Skandal und eine Schande! Und ich erwarte
mir wirksame Initiativen gegen Waffenexporte - viele Staaten halten die bereits bestehenden Verbote nicht ein!
Diese Waffenexporte verstärken indirekt die Massenmigration von Menschen aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten
und in Afrika. Die liefernden Staaten und die Namen der exportierten Panzer und anderen Kriegsgeräte sind
lange bekannt. Doch offensichtlich wird hier sehr wirksam Einfluss auf die Politik genommen, um ungestört
weitermachen zu können.
Orieschnig: Wie haben Sie das Gespräch mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erlebt?
Bischof Zsifkovics: Als sehr interessant. Der Vollblutpolitiker Juncker ist natürlich eine schillernde Persönlichkeit,
die charmant und unterhaltsam sein kann. Ich habe den Eindruck, dass er in der öffentlichen Wahrnehmung und
den Medienberichten schlechter wegkommt als er es verdient. Mir war sehr wichtig, ihm persönlich zu danken
für seinen Dienst am vereinten Europa, der sicher nicht leicht war und einen Menschen in seiner Postion unter
gewaltigen Druck durch verschiedenste Erwartungen und Einflussversuche setzt.
Orieschnig: Welche seiner Statements haben für besondere Aufmerksamkeit gesorgt?
Bischof Zsifkovics: Mich hat verwundert, wie kirchlich seine Ansichten eigentlich sind und dass er ein reiches
katholisches Glaubenswissen besitzt. Das ist ja bei der Kommissionsarbeit nicht immer so rübergekommen. So
hat Juncker etwa gemeint, wir Europäer müssen uns erinnern, woher wir kommen und uns immer wieder auf
die christlichen Werte beziehen. Juncker hat in diesem Zusammenhang explizit die Wiederentdeckung der Katholischen
Soziallehre in der Politik gefordert, die er übrigens sehr genau kennt und aus der er zitiert hat. Als Bischof
hätte ich es nicht kirchlicher formulieren können. Natürlich war Juncker darauf eingestellt, dass
er vor Bischöfen sprach, aber man sollte das nicht als situationsadäquate Schmeichelei eines Politikers
vor Weiheträgern abtun.
Orieschnig: Erklingt hier der alte Ruf nach der vielzitierten "Seele Europas", einem von Johannes
Paul II. geprägten Begriff?
Bischof Zsifkovics: Natürlich! Juncker sprach - bewusst oder unbewusst - das an, was unser eigentliches Problem
ist: Die Krise Europas ist nämlich eine Identitätskrise. Die "Seele Europas" ist nichts, was
wir konstruieren müssten, sondern wir müssen das Vorhandene wieder freilegen. Die Ablehnung der EU bei
vielen ihrer Bürgerinnen und Bürger liegt ja wohl auch darin, dass die EU für viele zu künstlich,
zu konstruiert wirkt, als etwas Abgehobenes, das vom Leben der Menschen weit weg scheint. So ist es in Wahrheit
natürlich nicht und ich muss an dieser Stelle eine Lanze für die EU brechen!
Orieschnig: Wie sieht das aus?
Bischof Zsifkovics: Wenn etwa in der Flüchtlingsthematik immer wieder behauptet wird, die EU tue nichts gegen
das Problem, dann muss man doch auch sehen, dass die EU allein von 2015 bis heute über 730.000 Migranten aus
Seenot gerettet hat, dass sie Milliarden Euro in Afrika und anderen Regionen investiert hat, um Menschen das Schicksal
der Flucht zu ersparen.
Orieschnig: Also einerseits ein Zuwenig an staatsbürgerlicher Identifikation mit Europa, andererseits ein
Zuviel an Erwartungen an die EU als Institution?
Bischof Zsifkovics: Die Europäische Union ist eben keine Sowjetunion, der Kommissionspräsident kein Diktator,
daher kann Brüssel den Mitgliedstaaten auch nicht befehlen, ihre eigenen Beschlüsse umzusetzen. Europäische
Politiker fahren zwar gerne nach Brüssel, wenn sie anschließend Erfolge zuhause als eigenen Sieg verkaufen
können. Wenn aber etwas schief läuft, schiebt man es gerne "denen dort in Brüssel" in
die Schuhe. Das ist ein billiger politischer Taschenspielertrick, den die Menschen daheim durchschauen und abstrafen
müssen.
Orieschnig: Zurück zur "Seele Europas": Worin genau liegt diese nun?
Bischof Zsifkovics: Die Seele Europas liegt in den geistigen Quellen, deren Wasser unsere Kultur geformt und haben
und sie weiterhin wie feine Adern lautlos durchströmen. Diese Strömungen lassen sich festmachen an bestimmten
Orten, Erzählungen und Personen. Europa hat diese Orte, Erzählungen und Personen, von denen es abstammt,
weitgehend vergessen und bräuchte dringend eine Familienaufstellung als Therapie.
Orieschnig: Wie ist das zu verstehen?
Die EU erweist sich zunehmend als religionsblind und kann mit ihrer juristischen Technik, ihrer rechtsstaatlichen
Denkweise und Arbeitssprache größtenteils nur dann mit dem Glauben des Menschen etwas anfangen, wenn
sich Bezüge zum Binnenmarkt ergeben. Doch das ganze europäische Menschenbild ist ohne das christliche
Konzept der menschlichen Seele und ihres heiligen Wertes nicht vorstellbar. Ohne Golgotha keine Auferstehung und
ohne Auferstehung keine göttliche Würde des Menschen! Genau davon zeugen die Erzählungen, Orte und
Persönlichkeiten, die Europas Seele sichtbar machen. Dieses Salz muss in der europäischen Suppe spürbar
bleiben!
Orieschnig: Wen also würde der "Psychoanalytiker" Ägidius Zsifkovics nun zur "Familienaufstellung"
einladen, um dem "Patienten" Europa zu helfen?
Bischof Zsifkovics (lacht): Hier in der Hauskapelle der ComECE hängen die Ikonen der sechs Heiligen Europas:
Benedikt von Nursia, Kyrill und Methodius, Birgitta von Schweden, Caterina von Siena und Edith Stein. Sie stehen
stellvertretend für die vielen Frauen und Männer, die in den verschiedensten Epochen unseres Kontinents
Europas Menschenbild mitgeformt haben. Diese Damen und Herren sind unbedingt zur Familienaufstellung einzuladen.
Die Programmschrift, nach der sie lebten, tragen sie alle unter den Arm: das Evangelium, von Petrus und Paulus
verkündet. Es gehört gemeinsam mit dem Alten Testament und den Epen Homers zu den gestaltenden Texten
unseres Kontinents, ebenso wie die großen Gesetzestexte, die Werke der Aufklärung, die Klassiker der
Literatur. Der große Kardinal Carlo Maria Martini hat in seinem "Gebet für Europa" von den
Philosophen, Gesetzgebern und Weisen gesprochen, die Gott unserem Kontinent geschenkt hat als Vorläufer Jesu.
Europa beginnt also nicht bei Jesus Christus, es wird aber zugrunde gehen, wenn es die Anthropologie des von Gott
geschaffenen, bedingungslos geliebten und mit einer unsterblichen Seele und Würde ausgestatteten Menschen
über Bord wirft.
Orieschnig: Gegen dieses transzendent begründete Menschenbild gibt es gehörigen Widerstand, nicht
zuletzt von naturwissenschaftlicher Seite. Erst vor kurzem hat sich die preisgekrönte österreichische
Biochemikerin Renée Schroeder dahingehend geäußert, dass sie gar nicht verstehen könne,
dass Frauen heute überhaupt noch in die Kirche gehen, wo Gott doch "eine Erfindung der Männer"
sei...
Bischof Zsifkovics: Da die Vorstellungen von Gott immer Spiegelbilder der jeweiligen Gesellschaft sind, hat Frau
Schroeder insofern sogar recht, da in patriarchalischen Gesellschaften das Gottesbild zur Projektionsfläche
männlicher Vorstellungen verkommen kann. Aber ebenso dürften die pauschalisierenden Aussagen Frau Schroeders
Projektionen ihrer eigenen Innenwelt sein. Ich will aber solche Grenzüberschreitungen, die im übrigen
automatisch auch Frauen jüdischen, muslimischen und sonstigen Gottesglaubens ins Lächerliche ziehen,
nicht weiter kommentieren.
Orieschnig: Warum Grenzüberschreitungen?
Bischof Zsifkovics: Weil auch ich als Theologe und Priester nicht zu Fragen der Biochemie meinen öffentlichen
Senf dazugebe. Außerdem haben dogmatische Auftritte jeglicher Fachrichtung für mich etwas Totalitäres,
das mich an ein dunkles Kapitel der Kirchengeschichte erinnert. Inquisition zeichnet sich immer dadurch aus, zu
definieren und vor allem zu verabsolutieren, was Wahrheit ist. Inquisition will andere Sichtweisen verbieten, im
harmlosesten Fall verächtlich oder, wie es heute modern ist, unter wissenschaftlicher Schminke lächerlich
machen. Die Kirche hat zum Glück in Jahrhunderten gelernt, mit höflicher Bescheidenheit im Wahrheitsanspruch
aufzutreten. Manche Vertreter der "Wissenschaftskirche" haben diesen Prozess noch vor sich.
Orieschnig: Es gibt den Begriff "Machbarkeitswahn". Ist einseitige Technologie- und Wissenschaftsgläubigkeit
Teil der europäischen Identitätskrise?
Bischof Zsifkovics: Wir dürfen nicht vergessen: Es waren die begabtesten Wissenschaftler, die die Gaskammern
und die schrecklichsten Vernichtungswaffen der Menschheit gebaut haben. Ödön von Horvath hat literarisch
prophezeit, wohin eine Gesellschaft und eine "Jugend ohne Gott" marschieren. Hitler und Stalin haben
diese Prophezeiung eingelöst. Im Letzten sehe ich es aber positiv: Sogar die kirchenkritische Aufklärung
ist eine Tochter des Christentums, so wie auch die Menschenrechte und Grundfreiheiten. Wissenschaft und Forschung
waren in Europa über Jahrhunderte die Domäne christlicher, teils auch muslimischer Gelehrter in einer
Kultur der klösterlichen Skriptorien und Bibliotheken. Das erste Observatorium Europas stand im Vatikan.
Orieschnig: Ist das nicht die "Welt von gestern", um mit Stefan Zweig zu sprechen?
Bischof Zsifkovics: Bis in die Gegenwart gibt es religiöse Menschen, die auf den Gebieten der modernen Wissenschaft
internationale Topleistungen erbringen. Sie alle wissen, dass Glaube nicht bedeutet, "nichts zu wissen",
sondern dass der Glaube eine eigene Erkenntnisweise des Menschen ist, so wie etwa die Kunst. Und dass diese Erkenntnisweise
nicht notwendigerweise im Widerspruch zu den Naturwissenschaften steht, sondern sie sich beide gegenseitig bereichern.
Wenn also eine atheistische Naturwissenschaftlerin gläubige Frauen kritisiert, dann soll und darf sie das
in unserer europäischen Gesellschaft tun, innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit freilich. Ob allerdings
die Abschätzigkeit gegenüber religiösen Menschen ein persönliches oder wissenschaftliches Ruhmesblatt
ist, ist ein anderes Thema.
Orieschnig: Danke für das Gespräch.
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