Nationaler Bildungsbericht 2018 über Umgang mit Veränderungen im Schulwesen
Wien (pk) - Wie unterrichtet man einen Klassenverband aus SchülerInnen unterschiedlicher Herkunft und
mit einem Fähigkeitsspektrum, das von Lernbehinderung bis Hochbegabung reicht? Dieser Frage müssen sich
LehrerInnen in Österreich immer öfter stellen, geht aus dem Nationalen Bildungsbericht 2018 (III-268
d.B .) hervor. Als Gründe für die wachsende Heterogenität im Bildungssystem nennt der vom Bildungsministerium
und vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens (BIEFIE) verfasste
Bericht unter anderem die Migrationsbewegungen nach Österreich und Vorgaben der Vereinten Nationen zur Inklusion.
Der Umgang mit unterschiedlichen Potentialen, die Kosten im Bildungsbereich und die Verteilung der Schülerströme
sind drei der zentralen bildungspolitischen Themen, die der 900-seitige Bildungsbericht behandelt. Auf Grundlage
nationaler und internationaler Studien soll darin eine Gesamtschau des heimischen Bildungsbereichs vermittelt werden.
Neben einem zeitlichen Rückblick, vor allem auf die Entwicklung seit Herausgabe des letzten Bildungsberichts
2015, bietet das aktuelle Dokument auch Zukunftsperspektiven und politische Empfehlungen.
Vielfalt im Bildungswesen erfordert…
Die zunehmende sprachliche, kulturelle und religiöse Vielfalt in Österreich spiegelt sich an den Schulen
wider. Das Berichtsteam führt das nicht zuletzt auf die jüngsten Migrationsbewegungen, auch aus dem außereuropäischen
Raum, zurück. So sei der Anteil von SchülerInnen mit nichtdeutscher Umgangssprache von 22,2% im Schuljahr
2014/15 auf 25,3% im Schuljahr 2016/17 gestiegen. Allerdings trage die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
im Bildungsbereich durch die Aufnahme von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF)
in Regelklassen ebenfalls zur Heterogenität bei. 2018 waren von den 5,4% SchülerInnen mit SPF laut Statistik
Austria 63,5 % an allgemeinen Schulen integriert. Eine weitere Steigerung dieses Anteils wird allerdings nicht
erwartet, auch die Einrichtung inklusiver Modellregionen in Österreich habe nicht zu einer durchgängigen
Erhöhung der Durchmischung geführt. Hinsichtlich hochbegabter SchülerInnen fehlten dem Bericht aussagekräftige
Daten, Schätzungen gehen von 2,5 % der Schülerpopulation aus.
Besonders augenscheinlich werden die Leistungsunterschiede an den Neuen Mittelschulen, vermuten die AutorInnen
mit Verweis auf die leistungsheterogenen Stammklassen, die beim Unterricht in Deutsch, Englisch und Mathematik
die Leistungsgruppen der Hauptschulen ersetzten. An der Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule (AHS)
steige die Heterogenität in geringerem Maß. Als Grund dafür wird die Entwicklung der Schülerströme
beim Übertritt aus der Volksschule angeführt, wodurch sozial benachteiligte SchülerInnen, darunter
überdurchschnittlich viele Kinder mit Migrationshintergrund, vorwiegend in die Mittelschulen gelangten. Für
die Kompetenzentwicklung sei jedoch eine heterogene Klasse zielführender, wird anhand von Kompetenzmessungen
bei unterschiedlichen Schülergruppen festgestellt. Leistungsschwächere SchülerInnen würden
bessere Lernergebnisse erzielen, leistungsstarke SchülerInnen profitierten speziell in ihrer sozialen Entwicklung.
…neue Lehrmethoden
Basis für einen erfolgreichen inklusiven Unterricht sei eine gute Beziehung zwischen Lehrkräften und
Lernenden beziehungsweise zwischen den SchülerInnen, heißt es im Bericht. Die Selbständigkeit der
SchülerInnen sollte genauso gefordert und gefördert werden wie die Zusammenarbeit beim Lernen. Hinsichtlich
der Lehrmethoden reichen die Empfehlungen von Strategien für selbstgesteuertes und kooperatives Lernen über
Projektarbeit bis hin zu differenzierten Aufgabenstellungen für die unterschiedlichen Niveaus in einer Klasse.
Bildungspolitisch seien Maßnahmen wie gestufte Standards in Lehrplänen und die Bereitstellung differenzierter
Unterrichtsmaterialien notwendig, außerdem müsse die Datengrundlage verbessert werden, etwa im Rahmen
der Bildungsstandüberprüfungen. Dabei sei zu erheben, wie viel externe Unterstützung zur fachspezifischen
Förderung für leistungsschwache und hochbegabte SchülerInnen es gibt. Für die Unterrichtsorganisation
wünschen sich die AutorInnen mehr Handlungsspielraum der Schulstandorte im Rahmen der Schulautonomie.
Mittelschulen kosten am meisten
Im EU-Vergleich gibt Österreich überdurchschnittlich viel Geld für die Bildung aus, zeigt der Bericht
auf. An allgemeinbildenden Schulformen liegen die durchschnittlichen staatlichen Ausgaben pro SchülerIn hierzulande
bei knapp 10.000 € jährlich (Stand 2015/16). Die Volksschulen sind aufgrund der geringeren Wochenstundenzahl
und der vergleichsweise niedrigeren Gehälter der Lehrkräfte mit rund 8.100 € am günstigsten, in
der Sekundarstufe I beanspruchen die Neuen Mittelschulen (NMS) – nunmehr nur noch "Mittelschulen" genannt
– mit 12.400 € das meiste Geld.
Die hohen Kosten der NMS resultieren primär aus dem höheren Lehraufwand des sogenannten "Team-Teaching",
erklärt das Berichtsteam den 10%-igen Mehraufwand an Lehrressourcen im Vergleich zu den NMS-Vorgängern,
den Hauptschulen (HS). Vergleichsweise gering seien dagegen die Ausgaben an AHS-Unterstufen. Diese liegen mit durchschnittlich
rund 8.250 € um 36 % unter jenen der HS und um 50 % unter jenen der NMS, schon aufgrund der geographischen Verteilung
der Schultypen. AHS befinden sich mehrheitlich in Ballungszentren, was zu tendenziell größeren Schulklassen
und geringeren Durchschnittskosten führe.
Herkunft und Sprache entscheidend für Schulwahl
Mit Blick auf die Schülerströme zeigt der Bildungsbericht einen ungebrochenen Trend, nach der Volksschule
in die gymnasiale Unterstufe zu wechseln. Wien lag dabei im Jahr 2016/17 mit 55% deutlich über dem Bundesschnitt
von 38% (2006/7: 33%). Generell wird im städtischen Raum das Gymnasium (Langform) präferiert, wobei in
der Sekundarstufe II durch die Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) regionale Unterschiede bei der Schulwahl
etwas ausgeglichen werden. Zwei Drittel der BHS-SchülerInnen haben zuvor eine Haupt- oder Neue Mittelschule
besucht. Hat ein Volksschulkind Migrationshintergrund, tritt die Bedeutung des Wohnorts bei der Schulwahl in den
Hintergrund. Während 73% der deutschsprachigen Wiener VolksschulabgängerInnen in eine AHS-Unterstufe
wechseln, sind es bei Kindern mit nichtdeutscher Alltagssprache lediglich 41%.
"Herkunftsbedingte Ungerechtigkeiten prägen den gesamten Bildungsverlauf", folgern die VerfasserInnen
des Berichts. An der sozialen Zusammensetzung von StudienanfängerInnen zeigten sich somit die "Selektionsprozesse
des vorangegangenen Schulwesens", maßgeblich beeinflusst vom Bildungsniveau des Elternhauses. Jugendliche
von PflichtschulabsolventInnen seien mit 21% überdurchschnittlich häufig nicht mehr in Ausbildung bzw.
mit 17 Jahren noch in einer Pflichtschule, während Gleichaltrige aus Akademikerhaushalten zum Großteil
eine AHS-Oberstufe besuchen.
Aufgezeigt wird im Bericht auch, dass trotz der nach Ende der Volksschule eintretenden Differenzierung im österreichischen
Schulsystem beträchtliche Leistungsunterschiede innerhalb bestehender Schulklassen bestehen, ablesbar an Testungen
wie den Bildungsstandards. 2017 haben demnach bei der Bildungsstandardüberprüfung Mathematik in der 8.
Schulstufe 24% der SchülerInnen aus Hauptschulen und 16% der SchülerInnen aus Neuen Mittelschulen die
mittleren Leistungen der AHS-SchülerInnen übertroffen. Auf die Praxis der Notengebung wirkt sich die
Leistungsheterogenität den BerichtsautorInnen zufolge wiederum kaum aus. Die verfügbaren Notengrade würden
vor allem klassenbezogen und "unabhängig vom Leistungsspektrum" vergeben.
Beste LehrerInnen für schwächste Klassen
Als Risikofaktoren, die dem Bildungserfolg entgegenstehen, nennen die VerfasserInnen einen bildungsfernen Hintergrund
der SchülerInnen, einen niedrigen soziökonomischen Status der Familie sowie eine nichtdeutsche Alltagssprache.
Unter MigrantInnen würden 80% einen dieser sozialen Faktoren aufweisen, meist eine andere Muttersprache. Bei
4% der SchülerInnen mit Migrationshintergrund kumulieren alle drei Risikofaktoren.
Geht es nach der Einschätzung der BildungsexpertInnen, sollten die "schwierigsten Klassen" die erfahrensten
Lehrpersonen erhalten. Die Schulleitungen seien beim Einsatz der Lehrkräfte dementsprechend zu sensibilisieren.
Hilfreich wäre in diesem Zusammenhang ein Berufsverständnis, das eine hohen Anerkennung der Unterstützung
benachteiligter SchülerInnen durch besonders kompetente LehrerInnen vorsieht.
Ganztagsschulen gleichen Bildungsnachteile nur bedingt aus
Inwieweit Ganztagsschulen in Bezug auf die Chancengleichheit in der Bildungslaufbahn einen Ausgleich schaffen,
wird im Bildungsbericht anhand der – noch dürftigen - vorhandenen Daten dazu hinterfragt. Bei der schulischen
Nachmittagsbetreuung in der 4. Klasse Volksschule sind zwar österreichweit sowohl Kinder mit Eltern, die höchstens
einen Pflichtschulabschluss haben, und jene, von denen zumindest ein Elternteil einen tertiären Abschluss
aufweist, häufiger vertreten als SchülerInnen mit mittlerer Bildungsherkunft. Je dichter eine Gemeinde
besiedelt ist, desto stärker steigt jedoch der Anteil von Kindern mich höherer Bildungsherkunft in den
Ganztagsschulen. Vergleicht man die Angebote der Bundesländer, zeigt sich der größte Mangel an
schulischer Nachmittagsbetreuung in Niederösterreich, Tirol und Vorarlberg. Hoch ist das Ausmaß dagegen
im Burgenland und in Wien.
Volkswirtschaftlicher Nutzen von Bildung
Europaweit ein Problem sind jene Jugendliche, die sich weder in der Schule oder in Ausbildung befinden und zudem
nicht beschäftigt sind (NEETs). In Österreich umfasst der Anteil an NEETs rund 25.000 Jugendliche (5,5%).
Damit liegt das Land über dem Schnitt der EU-Länder in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (OECD). Mit der im Schuljahr 2017/18 gestarteten Initiative "AusBildung bis 18" soll
dieser Wert gesenkt werden, zumal die Arbeitslosenquote bei 15 bis 24-Jährigen um drei Viertel höher
ist als der Vergleichswert in der gesamten Erwerbsbevölkerung.
Im Gegensatz dazu weisen AbsolventInnen von BHS und Hochschulen bei der Erwerbstätigkeit den höchsten
Prozentsatz auf (82% bis 87%), ihre Arbeitslosenrate ist mit rund 3% niedrig. Ein weiterer sozioökonomischer
Vorteil höherer Bildung ist die größere Wahrscheinlichkeit eines stabilen Beschäftigungsverhältnisses.
Das persönliche Wohlbefinden steigt dem Bildungsbericht zufolge ebenfalls, je höher ein Bildungsabschluss
ist, wobei dies vor allem auf Frauen zutreffe. Mit Blick auf die Geschlechterunterschiede bei den Einkommen geht
aus dem Bericht hervor, dass in Österreich die Differenz zwischen Männern und Frauen bei der Entlohnung
ausnehmend hoch ist. Demnach erhalten in den Gruppen der gering und der hoch Gebildeten vollzeitbeschäftigte
Frauen im Durchschnitt nur 75% des Jahreseinkommens der Männer.
Weiterentwicklung der Schulen am Beispiel Schulcluster
"Schulcluster" ist aus Sicht der AutorInnen des Bildungsberichts eines der Schlagworte für die Weiterentwicklung
des heimischen Schulwesens. Ablesen lasse sich daran - wie auch an "Schulautonomie" - ein Trend hin zu
regionalen und lokalen Steuerungsebenen, wodurch die ortsbezogene Verankerung der Schulen stärker zutage trete.
Mit der im Vorjahr geschaffenen Möglichkeit, zwei bis acht benachbarte Schulstandorte zu Clustern zusammenzuschließen,
wollte man besonders den Problemen der ländlichen Schullandschaft beikommen. Das Berichtsteam mahnt wiederum
für eine erfolgreiche Zusammenführung von Schulen transparente, nachvollziehbare und strukturierte Kriterien
ein, die auch existierende regionalspezifische Zusatzangebote und Netzwerke miteinbeziehen. Vermieden werden soll
der Eindruck, dass ein Schulcluster einzig der Einsparung dient. Frei werdende Ressourcen hätten vielmehr
zur Unterstützung und Weiterentwicklung der Schulen beizutragen. Andererseits ließen sich Beschaffungsvorgänge,
etwa bei der Gebäudeverwaltung, ressourcenschonend bündeln. Zur Realisierung eines Schulclusters regen
die AutorInnen eine Erprobungsphase an, in der ausgelotet wird, durch welche Aktivitäten die Ziele der regionalen
Schulkooperation am besten erreicht werden.
Hingewiesen wird im Bericht allerdings auf bestehende Unsicherheiten über die Verortung der gemeinsamen Verantwortung
für verschiedene Schulformen in einem Cluster bzw. die Spielräume für eigenständiges Handeln
der Standorte im Sinne der Schulautonomie. Die Clusterleitung habe daher über "Führungskompetenzen"
zu verfügen, die möglichen Fehlentwicklungen der zusammengeführten Schulen entgegenwirken. Seitens
der Schulaufsicht brauche es eine "klarere Rollentrennung" zwischen Beratung – vor allem zur Schul- und
Personalentwicklung – und Ergebniskontrolle. Zwecks Sicherstellung der Qualifikation von SchulaufsichtsbeamtInnen
und SchulleiterInnen rät das Berichtsteam zu einer schulformübergreifenden Herangehensweise mitsamt eines
professionsorientierten Masterstudiums für pädagogische Führungskräfte.
Digitalisierung im Unterricht vorantreiben
Die Vermittlung digitaler Kompetenzen sollte im schulischen Bildungsangebot Österreichs noch mehr Bedeutung
erhalten, wird im Bildungsbericht unterstrichen. SchülerInnen müssten an der Gesellschaft, die sich aufgrund
der vermehrten Digitalisierung laufend verändere, selbstbestimmt und aktiv mitgestalten können. Zwar
habe sich seit 2015 an den Schulen in diesem Bereich einiges zum Positiven entwickelt, erwähnt das Berichtsteam
die Einführung der verbindlichen Übung "Digitale Grundbildung" in der Sekundarstufe I, ferner
das Schulnetzwerk "eEducation" und die Formulierung der Initiative "Schule 4.0". Dennoch bestünden
weiterhin Mängel bei der IKT-Ausstattung der Schulen, bei der entsprechenden Ausbildung der Lehrkräfte
und bei der nachhaltigen Implementierung von Informatik und Medienbildung im Unterricht. Zu letzterem Punkt wird
die Etablierung eines eigenen Fachs eingefordert, ohne die Befassung mit digitalen Inhalten in anderen Fächern
auszuschließen.
Bemängelt wird im Bericht, dass Medienkompetenz als Querschnittsmaterie nicht ausreichend in der PädagogInnenbildung
NEU berücksichtigt wird, obwohl die Motivation der Lehrenden essentiell in der digitalen Bildung sei. Zur
Netzwerkausstattung der Schulen verweist der Bericht auf eine Studie aus dem Jahr 2016, der zufolge 72% der Bundesschulen
einen Internetanschluss im lokalen Netzwerk (LAN) hatten und 99,6% das Internet im Unterricht nutzten. Demgegenüber
verfügten die Volksschulen über die schlechteste Internetanbindung. Durchschnittlich wiesen 38,7% der
Pflichtschulen einen LAN-Anschluss auf, die Internetnutzung im Unterricht betrug immerhin 94%. Eingeräumt
wird, für kleinere Gemeinden als Pflichtschulerhalter stelle die Zurverfügungstellung einer adäquaten
Ausstattung einen großen Aufwand dar, sowohl finanziell als auch in Hinblick auf die Ausschreibung.
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