Brüssel (ec) - Die EU-Kommission hat am 16. April eine Diskussion über die verstärkte Nutzung
der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in der Sozialpolitik angestoßen. Damit soll die Entscheidungsfindung
dort, wo die EU bereits zuständig ist, zügiger, flexibler und effizienter werden. In den meisten Bereichen
der Sozialpolitik, in denen die EU Handlungsbefugnisse hat, wird bereits mit qualifizierter Mehrheit entschieden.
Für einige wenige Bereiche gelten jedoch weiterhin Einstimmigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten sowie besondere
Gesetzgebungsverfahren, bei denen das Europäische Parlament nicht gleichberechtigt mit dem Rat als Mitentscheidungsorgan
fungiert.
In seiner Rede zur Lage der Union 2018 hatte Präsident Juncker eine umfassende Überprüfung aller
in den EU-Verträgen vorgesehenen Überleitungsklauseln angekündigt. In der Folge wurden bereits drei
Mitteilungen angenommen: zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (September 2018), zur Besteuerung
(Januar 2019) und zu Energie und Klima (April 2019). Die Mitteilung über die Überleitungsklauseln in
der Sozialpolitik ist die vierte in dieser Reihe.
Der für den Euro und den sozialen Dialog, für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und die Kapitalmarktunion
zuständige Vizepräsident der Europäischen Kommission Valdis Dombrovskis sagte: „Um auf den raschen
Wandel in der Gesellschaft und auf den Arbeitsmärkten reagieren zu können, brauchen wir auf EU-Ebene
eine zügige, flexible und effiziente Beschlussfassung in der Sozialpolitik. Mit der heutigen Mitteilung stoßen
wir die Debatte darüber an, wie wir bestehende Vertragsbestimmungen in diesem Sinne nutzen können. Der
Fokus liegt auf Fällen mit eindeutigem EU-Mehrwert, damit eine Kultur des Kompromisses und der Entscheidungsfindung
gefördert wird, die den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger im Rahmen eines fairen Binnenmarkts
entspricht.“
Die für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität zuständige
EU-Kommissarin Marianne Thyssen erklärte: „So unterschiedlich sie auch sind, streben alle Mitgliedstaaten
letztlich nach einer faireren Gesellschaft auf der Grundlage von Chancengleichheit und nach einer zukunftsfähigen
sozialen Marktwirtschaft. Angesichts des Wandels in der Arbeitswelt müssen wir alle uns zur Verfügung
stehenden Instrumente uneingeschränkt nutzen können, um die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen.“
Der Umstand, dass es in miteinander verbundenen Politikbereichen sowohl die Beschlussfassung mit qualifizierter
Mehrheit als auch die Einstimmigkeit der Beschlussfassung gibt, hat zu einer uneinheitlichen Entwicklung des sozialpolitischen
Besitzstands geführt. Auch wenn das Schutzniveau insgesamt hoch und umfassend ist, gibt es einige Lücken.
Außerdem hat das Europäische Parlament bei besonderen Gesetzgebungsverfahren keine gleichberechtigte,
wichtige Rolle als Mitentscheidungsträger, sondern wird häufig lediglich konsultiert, obwohl es die Bürgerinnen
und Bürger repräsentiert, die unmittelbar von der EU-Sozialpolitik profitieren. In Zeiten des raschen
und manchmal auch tiefgreifenden Wandels ist es heute wichtiger denn je, dass die EU in der Lage ist, zügig
wirksame politische Antworten zu formulieren.
Mit dieser Mitteilung eröffnet die Kommission eine Debatte über die verstärkte Nutzung der Beschlussfassung
mit qualifizierter Mehrheit in der Sozialpolitik, um die Entscheidungsfindung dort zügiger, flexibler und
effizienter zu gestalten, wo die EU bereits zuständig ist. Diese Möglichkeit ist in den EU-Verträgen
für mehrere spezifische Bereiche (siehe Hintergrund) durch sogenannte Überleitungsklauseln vorgesehen.
Diese Klauseln erlauben unter bestimmten Umständen den Übergang von der Einstimmigkeit zur Beschlussfassung
mit qualifizierter Mehrheit.
Nach gründlicher Abwägung schlägt die Kommission in einem ersten Schritt zunächst vor, die
Anwendung der Überleitungsklausel zur Erleichterung der Beschlussfassung in Fragen der Nichtdiskriminierung
zu erwägen. Dies würde zur Weiterentwicklung des Schutzes vor Diskriminierung beitragen. Die Anwendung
der Überleitungsklausel könnte schon bald auch in Betracht gezogen werden, um Empfehlungen im Bereich
der sozialen Sicherheit und des sozialen Schutzes von Arbeitnehmern anzunehmen. Dies würde den Prozess der
Modernisierung und der Konvergenz der Sozialschutzsysteme unterstützen.
Der Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ändert nichts an den Zuständigkeiten.
Der Anwendungsbereich und die Voraussetzungen für die Ausübung der Befugnisse der EU bleiben unberührt.
Die Mitgliedstaaten bleiben beispielsweise weiterhin dafür verantwortlich, die Merkmale ihrer eigenen Sozialschutzsysteme
festzulegen. Die Sozialpartner behalten ihre Kompetenzen und die nationalen Traditionen des sozialen Dialogs bleiben
unberührt. Wie in den Verträgen verankert, wird die Union weiterhin nur dort tätig, wo es notwendig
ist und eindeutige Vorteile bringen kann.
Die Aktivierung der Überleitungsklausel nach Artikel 48 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische
Union müsste der Europäische Rat einstimmig, ohne Einwände der nationalen Parlamente und mit Zustimmung
des Europäischen Parlaments beschließen.
Die nächsten Schritte
Die Kommission ruft den Europäischen Rat, das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts-
und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen, die Sozialpartner und alle Interessenträger auf, sich auf
der Grundlage der Mitteilung an einer offenen Debatte über einen verstärkten Einsatz der Beschlussfassung
mit qualifizierter Mehrheit und des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens im Bereich der Sozialpolitik zu beteiligen.
Hintergrund
Eine begrenzte Anzahl von Bereichen der EU-Sozialpolitik unterliegt noch immer der Einstimmigkeit im Rat sowie
besonderen Gesetzgebungsverfahren, bei denen das Europäische Parlament keine gleichberechtigte Rolle als Mitentscheidungsträger
innehat, nämlich:
- Nichtdiskriminierung aus verschiedenen Gründen (Geschlecht,
Rasse oder ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung);
- soziale Sicherheit und sozialer Schutz von Arbeitnehmern
(außer in grenzüberschreitenden Fällen);
- Schutz der Arbeitnehmer vor Kündigungen;
- Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer-
und Arbeitgeberinteressen und
- Beschäftigungsbedingungen der Drittstaatsangehörigen,
die sich rechtmäßig in der Union aufhalten.
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