Vor der Wahl zum Europäischen Parlament hat CLUB WIEN EU-ExpertInnen zum Interview getroffen.
Lesen Sie hier das Gespräch mit Politikwissenschafterin Ulrike Guérot
Wien (rk) - Politikwissenschafterin Ulrike Guérot hat eine Vision: Sie träumt von der Gründung
einer Europäischen Republik. Wie Europa bei den Menschen ankommen kann und was es mit der Zahl 5.0 auf sich
hat, haben wir in einem ausführlichen Interview in Erfahrung gebracht.
Frau Guérot, Sie sind Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der
Donau-Universität Krems. Woran arbeiten Sie dort? Was wollen Sie vermitteln, was sind aktuelle Herausforderungen?
Ich mache schwerpunktmäßig drei Sachen: Zum einen haben wir ein mehrjähriges Forschungsprogramm
über Regionen in Europa. Es schien mir, dass die Bürgerinnen und Bürger von Europa entkoppelt sind,
dass sich viele Regionen von Europa abgehängt fühlen, dass es schwer vermittelbar ist: Warum überhaupt
Europa? Deswegen haben wir REGIOPARL ins Leben gerufen. Wie kann eine Neuordnung Europas aussehen, in der die Regionen
politisch besser wegkommen? Dazu betreiben wir Feldforschung. Wir gehen in den nächsten fünf Jahren in
insgesamt 14 Regionen in sieben Ländern.
Die zweite Sache ist, dass ich den Anspruch, in die Gesellschaft hineinzuwirken, sehr ernst nehme. Ich bin sichtbar,
halte Vorträge und gebe Interviews, vor allem im Vorfeld der EU-Wahl. Es gibt zum Beispiel Workshops für
Jugendliche, die Fragen an Europa nach dem Motto formulieren: "Was ich schon immer von Europa wissen wollte".
Mir ist wichtig, dass Wissenschaft nicht nur im Elfenbeinturm stattfindet.
Die dritte findet auf theoretischer Ebene statt. Mein Schwerpunktinteresse ist "europäischer Republikanismus".
Das ist im Bereich der politischen Theorie angesiedelt und in der Wissenschafts-Community gerade stark im Kommen.
Daran lassen sich verschiedene politische Theorien festmachen: Was ist die Nation? Was ist die Republik? In diesem
Fall arbeiten wir wissenschaftlich und theoretisch.
Sie sind zudem Gründerin des European Democracy Lab. Worum handelt es sich dabei? Zu welchem Zweck wurde
es ins Leben gerufen?
Das Lab habe ich 2014 gegründet. Schon vor fünf Jahren, nach der Euro-Krise sowie dem aufkommenden Populismus
und Nationalismus, war klar: Man muss Europa neu denken. Das ist vergleichbar mit Chemikerinnen und Chemikern,
die in ihren Laboratorien ein neues Medikament suchen und ständig Reagenzgläser schütteln. Deshalb
haben wir des European Democracy Lab gegründet. Ohne Reagenzgläser, aber mit der gleichen Idee, dass
wir ein bisschen schütteln und neu mixen müssen. So soll herausgefunden werden, was Europa, europäische
Demokratie, das europäische Projekt sein sollen.
Seit Ihrem Studium beschäftigen Sie sich mit der Integration Europas und einer neuen Identität der
EU. Was fasziniert Sie an der Idee Europa?
Wir denken ja schon lange über diesen Kontinent nach. Offensichtlich ist "Europa" ein Sehnsuchtsort,
den dieser Kontinent seit Langem sucht und nicht findet. Nach den verheerenden Zerstörungen des letzten Jahrhunderts
haben wir über Umwege die EU geschaffen. Aber wir haben jetzt 20, 30 Jahre später das Gefühl, dass
der Sehnsuchtsort Europa noch nicht da ist. Für Österreich gibt es vom European Democracy Lab und vom
Austrian Democracy Lab erhobene neue Panelstudien. Da wurden Bürgerinnen und Bürger gefragt: Finden Sie
die EU auf einer Skala von 0 bis 10 gar nicht gut oder sehr gut? Die Österreicherinnen und Österreicher
befinden sich auf dieser Skala genau bei 5.0. Das heißt: Niemand findet es ganz schlecht, aber niemand findet
es ganz gut. Es reicht nicht für den Öxit - 5 ist zu viel, um austreten zu wollen. Aber von 10 ist man
auch weit entfernt. Mich interessiert die Differenz von 5 zu 10.
Was hat Sie persönlich an Europa begeistert?
Ich bin im Rheinland geboren, in einer Grenzregion zu Luxemburg, den Niederlanden und Belgien. Ich habe eine
Oma, die aus Schlesien kommt. Ich bin 1964 geboren, ich habe einen Großvater im Krieg verloren. Ich habe
einen anderen, der kam ohne Beine zurück, beide waren im Russlandfeldzug. Ohne selber vom Krieg berührt
gewesen zu sein, wurde mir über die Familie Kriegserfahrung transportiert. Insofern kann ich natürlich
einer Friedenserzählung sehr viel abgewinnen. Die ersten Männer, in die ich verliebt war, waren zufällig
Franzosen: Frédéric mit 14, dann habe ich einen Franzosen geheiratet. Mit 16, 18, 20 ist man dann
in der Situation, dass man ständig nach Paris fährt. Dann fängt es an: Mitterand und die deutsch-französischen
Beziehungen, Europa, Binnenmarkt. Ich habe meine Doktorarbeit über die Europapolitik der französischen
Sozialistinnen und Sozialisten geschrieben. Auf einmal wird aus dem persönlichen Interesse ein berufliches.
Das Thema ist immer der Sehnsuchtsort Europa und wie wir ihm in diesem Jahrhundert vielleicht noch einen Schritt
näher kommen.
Wie sieht für Sie allgemein der Status quo der Europäischen Union aus?
Die vorhin erwähnte 5.0 sagt alles: Es steht auf der Kippe. Wir vollziehen gerade einen Drahtseilakt. Wir
haben inzwischen das Bewusstsein, dass wir viel zu verlieren haben: Europa, Freiheit, Frieden. Wir haben das Bewusstsein,
dass wir nicht dahin zurück wollen, wo wir im letzten Jahrhundert waren: Nationalismus, Populismus. Wenn wir
uns quer durch Europa die Daten anschauen, so hat zumindest noch eine satte Zweidrittelmehrheit der europäischen
Bevölkerung dieses Bewusstsein. Denn beim Populismus von Wilders, Orban, Le Pen, PiS, FPÖ sind wir nicht
bei Mehrheiten. Wir sind bei plus/minus 30 Prozent.
Diese Wahlen sind ja mitnichten zu vergleichen mit den letzten. 2014 hat das niemanden interessiert. Wir waren
mitten in der Euro-Krise, niemand ist zur Wahl gegangen. In Portugal beispielsweise waren das gerade einmal 29
Prozent der 18- bis 20-Jährigen – also gut ein Viertel. Europaweit hatten wir eine durchschnittliche Wahlbeteiligung
von 42 Prozent. 2019, fünf Jahre später, sind wir durch die Krise, wir sehen, dass sich Populismus und
Nationalismus ausbreiten wie ein Fußpilz. Deswegen wird bis zum Umfallen diskutiert. Noch nie hat die Europäische
Kommission so viel Geld für Wählerinnen- und Wählermobilisierung und für Europaprojekte aller
Art ausgegeben. Vielleicht schaffen wir es gerade noch einmal, nicht vom Drahtseil zu fallen.
Sie haben als Festrednerin zum 68. Städtetag letztes Jahr festgehalten, dass die EU durch die Finanz- und
Wirtschaftskrise um das Jahr 2008 ökonomisch wie politisch eine ganze Dekade verloren habe. Was ging im Detail
verlustig?
Von der Euro- und Sparpolitikkrise 2011 haben Österreicherinnen und Österreicher, Deutsche, Niederländerinnen
und Niederländer nichts mitbekommen. Ich habe letztes Jahr in Niederösterreich Jugendliche im Rahmen
eines Tags der offenen Tür gefragt: "Was ist für dich Europa?" Die heutigen durchschnittlichen
16-jährigen Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher haben von Sparpolitik und den dazugehörigen
Verwerfungen keine Ahnung. Die Tatsache, dass das nicht thematisiert wurde, ist bereits Teil des Problems. Weil
wir in den betroffenen Ländern - Portugal, Griechenland, Italien - ein völlig anderes Krisenbewusstsein
haben.
Es wurden Fehler gemacht, bewusst Interessen verfolgt, die einen Politikschwenk in Richtung europäische Finanzverfassung
oder europäische Arbeitslosenversicherung verhinderten. Wer nicht hören will, muss fühlen. Wir fühlen,
dass irgendetwas schiefgelaufen ist. Das eigentliche Problem ist, dass die meisten Leute diese Gründe nicht
in Zusammenhang mit der heutigen Populismus- und Nationalismuskrise bringen. Das wird nicht in der "Krone"
oder der "Bild" verhandelt. Denn Flüchtlinge können Sie sehen, aber diese sozioökonomische
Geschichte können Sie nicht sehen.
Stichwort Bürgerinnen- und Bürgernähe: Wie könnte es gelingen, dass Europa für die
Bürgerinnen und Bürger nicht immer als "die in Brüssel" gesehen wird? Wie kann Europa
näher bei den Menschen sein?
Dass die Bürgerinnen und Bürger das vergessene Subjekt in der Geschichte der europäischen Integration
ist, wird uns jetzt klar. Im Vorfeld der EU-Wahlen wird man ganz hektisch: Auf einmal müssen die Bürgerinnen
und Bürger mit der Nase auf Europa gestoßen werden. Aber sie sind immer noch Bürgerinnen und Bürger
von Nationalstaaten. Im Rahmen einer Staatsbürgerschaft sind sie direkt an das politische österreichische
System gekoppelt. Sie wählen in Österreich. Es heißt: Alle Souveränität geht vom Volk
aus. Das löst das österreichische System ja auch ein. Das europäische System tut das nicht. Wir
wählen das Europäische Parlament, aber nicht die europäische Kommissionspräsidentin oder den
europäischen Kommissionspräsidenten, weil das in letzter Konsequenz der Rat entscheidet. Mag sein, dass
der Rat unserem Votum folgt. Mag aber auch sein, dass er das nicht tut.
Die Leute sind ja nicht dumm. Und sie merken, dass ihre Stimme zwar irgendwie gehört wird, aber eigentlich
doch nicht zählt. Ich glaube, dass dieses europäische System Mängel hat und dass diese Mängel
benannt gehören, dass die Leute klug genug sind, diese Mängel zu verstehen. Deswegen sage ich: Europäische
Republik. Wir koppeln die Bürgerinnen und Bürger direkt an den politischen Überbau, und gut ist's.
Mit dem Schriftsteller Robert Menasse haben Sie das "European Balcony Project" ins Leben gerufen.
Im November letzten Jahres wurde über Balkone quer über den Kontinent schließlich die Europäische
Republik ausgerufen. Wie kam es zu dieser Aktion?
Wir haben das letztes Jahr wegen "100 Jahre 1918" gemacht. 1918 sind verschiedene Republiken ausgerufen
worden: Die Weimarer, die Österreichische, die Ungarische und so weiter. Wir rufen jetzt als theatralische
Inszenierung die Europäische Republik aus. Die Republik ist das Erbe der französischen Revolution. Wir
reden im Moment so viel von den Werten. Was sind die Werte Europas? Liberté, Égalité, Fraternité,
also Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Aktion haben wir schließlich mit ungefähr 150 Theatern
europaweit gemacht. Es war im Prinzip die Aufforderung an die europäischen Bürgerinnen und Bürger,
sich als Bürgerinnen und Bürger zu emanzipieren. Wir haben viele Video-Clips bekommen, von Leuten, die
sich selbst gefilmt haben. Einer der rührendsten Clips, die ich bekommen habe, war aus dem Burgenland. Dort
haben sie sich auf einen rostigen Eimer gestellt und in verschiedenen Dialekten diese Ausrufung gemacht.
Es geht dabei ja auch um den Umbau der Brüsseler Trilogie aus Rat, Kommission und Parlament, eine neue
europäische Ordnung. Kann man das so sagen?
Ja. Es geht um eine politische und territoriale Neuordnung Europas. Wenn man irgendwo hinwill, etwa zum Sehnsuchtsort
Europa, dann muss man sich das vorstellen. Wenn Sie ein Haus bauen, dann machen Sie einen Plan. Das wollte ich
auch mit der Europäischen Republik. Was ich vorschlage, hat zwei Komponenten. Die eine ist die republikanische
Komponente. Die heißt ganz schlicht: Allgemeiner politischer Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen
Bürgerinnen und Bürger. Die zweite heißt: Die Regionen werden zu den konstitutionellen Trägern
Europas. Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän, die Bürgerinnen und Bürger sind
gleich vor dem Recht, wir haben Gewaltenteilung. Wir haben eine stärkere Rolle von Regionen in Europa.
Nichts daran ist revolutionär, nichts daran ist anrüchig. Im Gegenteil: Das sind die Prinzipien, nach
denen die Republik Österreich aufgebaut ist. Im Grunde möchte ich mit der Europäischen Republik
nichts anderes, als dass die Demokratie auf der europäischen Ebene dem entspricht, was wir auf nationalstaatlicher
Ebene nie infrage stellen würden. Ich wollte den Sehnsuchtsort Europa wie eine Architektenzeichnung malen.
Wie ein Traumhaus bauen. Vielleicht wird es doch nicht das Traumhaus, vielleicht stellen wir fest, der Balkon muss
weg, weil er zu teuer ist. Nichts anderes haben wir mit den anderen Projekten gemacht: ein Markt, eine Währung.
Das war auch kein Ponyritt, aber wir haben es gemacht.
Sie haben es schon angesprochen: Um ein Fortbestehen der Europäischen Union zu sichern, schlagen Sie ein
Europa der Regionen, nicht der Nationen, vor. Was hat es damit auf sich?
Wenn ich sage "Europa der Regionen", dann meine ich nicht, dass wir aus Regionen neue Nationen machen.
Mir geht es nicht darum: "Katalonien kann es auch allein", "Bayern kann es auch allein", "Schottland
kann es auch allein". Kulturelle Vielfalt ist nicht national. Auch in Frankreich nicht: Da gibt es Korsinnen
und Korsen sowie Bretoninnen und Bretonen, das ist kulturell nicht das gleiche. Warum aber sind die Korsinnen und
Korsen sowie Bretoninnen und Bretonen Französinnen und Franzosen? Weil Sie das gleiche Recht der französischen
Republik genießen. Sie sind als Wienerin oder Wiener nicht deshalb genauso Österreicherin oder Österreicherin
wie eine Tirolerin oder ein Tiroler, weil Sie das gleiche Dirndl teilen, sondern weil sie das gleiche Recht teilen.
Gehen wir von 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus, teilen wir die durch zehn, dann hätten
wir 50 Regionen à zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Dann könnte jede Region zwei Senatorinnen
und Senatoren in einen europäischen Senat entsenden. Somit hätten die Regionen eine direkte politische
Mitsprache in einer zweiten Kammer Europas. Die Bürgerinnen und Bürger wären über ihre jeweilige
Region sofort an den politischen Überbau Europas gekoppelt. Das hätte zur Folge, dass das, was die meisten
Bürgerinnen und Bürger wollen, nämlich ein starkes Europa gegenüber der Welt - China, Russland,
USA -, eingelöst wird. Die Regionen hätten mehr Mitsprache. Gleichzeitig verliert niemand Identität,
niemand verliert Heimat.
Wie können dennoch Zusammenhalt und Stabilität innerhalb der EU gewährleistet werden?
Die Frage dazu lautet: Wollen wir zusammen in Europa einen Staat bauen? Einen, der handlungsfähig ist, der
uns gegen China, Russland und die USA schützt, der unsere Industrien gemeinsam aufstellt. Der dafür sorgt,
dass wir bei der Digitalen Agenda gemeinsam und nicht gegeneinander handeln. Der uns beim Klima anders aufstellt.
Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir eine europäische Verfassung. US-Gründervater Alexander Hamilton
sagte schon 1776: "Ohne Verfassung ist alles nichts." Europa ist ganz viel. Aber ohne Verfassung ist
Europa eben nichts. Warum? Weil wir letztlich die Frage nicht geklärt haben: Wer entscheidet? Die österreichische
Ratspräsidentschaft? Herr Kurz? Herr Tusk? Herr Juncker? Vielleicht übermorgen wer anderer? Solange das
nicht geklärt ist, kann Europa sehr viel Gutes bieten: beste Sozialsysteme, funktionierende Demokratien, beste
Wissenschaftslandschaft. Aber wir wissen nicht: Wer entscheidet? Das ist aber die klassische Frage von Max Weber:
Wer hat das legitime Gewaltmonopol? Wer entscheidet?
Frieden und gegenseitiger Respekt sollten Selbstverständlichkeiten innerhalb der EU sein, sind aber zunehmend
in Gefahr. Wie kann sichergestellt werden, dass sie nicht zu bloßen Schlagworten verkommen?
Sind sie ja leider schon. Wenn man über die Dinge redet, sind sie meistens schon verloren. Das ist in Beziehungen
auch so: Wenn Sie anfangen, mit Ihrer Partnerin, Ihrem Partner über Ihre Beziehung zu reden, dann stehen Sie
meistens kurz vor der Scheidung. Insofern stellt sich schon die Frage, ob wir uns in dem Moment, ab dem wir über
Respekt, Frieden, Demokratie reden, bewusst werden, dass wir sie schon lägst verloren haben. Deswegen müssen
wir gerade so intensiv darüber reden. Vielleicht ist das Reden darüber nur das Entsetzen über den
Verlust. Die eigentliche Frage ist: Können wir den Riss noch einmal kitten? Wenn man die Frage so stellt,
kann man das wahrscheinlich nicht tun. Das ist wie ein Holzscheit: Wenn Sie da eine Axt reingehaut haben, dann
ist er gespalten. Wir reden ja jetzt über gespaltene Gesellschaften. Es gibt vernünftige - auch ökonomische
- Theorien, die sagen, wenn einmal gespalten ist, dann ist gespalten. Dann stellt sich die Frage: Ist der Versuch
zu kitten überhaupt vernünftig? Oder kommt etwas Neues?
Was mir viel zu kurz kommt: Niemand redet über die sozioökonomischen Gründe. Diese Gesellschaften
sind sozial gespalten worden, lange bevor wir jetzt die Auswirkungen der sozialen Spaltung verhandeln. Wir wissen
aus den Sozialwissenschaften, soziale Krisen bringen Gewalt hervor, bringen Ressentiments hervor, bringen Revolutionen
hervor. Vor jeder Krise steht eine soziale Spaltung. Wenn wir das alles lösen wollen, müssen wir zusehen,
dass die Leute ein bisschen gleicher sind: Liberté, Égalité, Fraternité. Das sind Einkommensspannen
von eins zu 278 bei niedrigsten und höchsten Gehältern in Deutschland. Da bekommen Sie die Égalité
nicht mehr ins System. Und ohne Égalité keine Demokratie.
Sie und andere Sozialwissenschafter wie Jürgen Habermas, Claus Offe oder Colin Crouch attestieren der Europäischen
Union ein gewisses Demokratiedefizit. Wie kann dieses behoben werden? Wie kann Europa in Zukunft sozialer und demokratischer
werden?
Ich biete immer noch die Europäische Republik als Ansatz. Das hieße: Allgemeiner politischer Gleichheitsgrundsatz,
wobei wir schon zwischen EU 19 und EU 28 unterscheiden müssten. Ich will nicht morgen Rumänien oder Bulgarien
in österreichische Verhältnisse hieven, das wäre ja naiv. Unterschiede sozioökonomischer Art
bestehen innerhalb der EU 19 nicht mehr zwischen Ländern. Das ist nicht mehr Österreich gegen Italien
gegen Portugal, sondern Burgenland gegen Apulien, während Turin genauso gut ist wie Frankfurt und Lyon. Wenn
man das so auflöst, müssen wir uns angewöhnen, dass wir sagen, wir haben Stadt-Land-Gefälle
in der gesamten Eurozone. Wenn wir die Republik ermöglichen, entscheidet das Parlament. Alle Bürgerinnen
und Bürger sind gleich repräsentiert, alle bekommen das gleiche raus, den gleichen Mindestlohn, die gleiche
Arbeitslosenversicherung. Dann würden diese "Wir gegen die"-Spielchen aufhören. Wir Österreicherinnen
und Österreicher gegen die Italienerinnen und Italiener, wir Deutsche gegen die Griechinnen und Griechen.
Dann ist das auch keine Transferunion mehr, sondern eine europäische Finanzverfassung. 500 Millionen Europäerinnen
und Europäer zahlen in eine europäische Arbeitslosenversicherung ein und bekommen im Fall der Arbeitslosigkeit
das gleiche raus.
Das ist ein Schritt in Richtung "Sehnsuchtsort Europa".
Ja. Dann hätten wir auch die ganzen Probleme gelöst, die uns im Alltag in der Politikgestaltung diese
großen Verwerfungen machen. Was machen wir mit Ländern wie zum Beispiel Rumänien? Die bringen staatliche
Mittel auf, um ihre Universitäten zu finanzieren und um die medizinische Fakultät Bukarest aufrechtzuerhalten.
Da werden mit rumänischem Steuergeld supergute Medizinerinnen und Mediziner ausgebildet, und was machen diese,
wenn sie fertig sind? Ab nach Wien, ab nach Brüssel, ab nach Berlin. Was haben die Rumänen davon? Nichts.
Ich würde es ja auch so machen, wäre ich rumänische Ärztin und weiß, dass ich in Wien
das Vierfache verdiene. Sie können das nicht auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger austragen.
Deswegen können wir nicht sagen: Wir machen nur die Rechtsgleichheit für Güter und das Kapital,
aber nicht für Bürgerinnen und Bürger. Das geht nicht. Staat und Markt sind miteinander auf einer
Steuerungsebene verkoppelt. Und es ist egal, ob Sie rechts oder links sind. Das ist bei Karl Marx und Friedrich
August von Hayek das Gleiche.
Das Interview führte Christian Kisler.
Zur Person
Ulrike Guérot ist Politikwissenschafterin und Publizistin. Seit April 2016 leitet sie das Department
für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Im März 2014 gründete
sie das European Democracy Lab in Berlin. Davor arbeitete sie in verschiedenen Think Tanks und Forschungsinstituten
und lehrte an verschiedenen Universitäten in Europa und den USA. 2016 entwickelte sie vor allem aus Frust
über zunehmend EU-integrationskritische Tendenzen das Konzept der Europäischen Republik. Sie ist Autorin
mehrerer Sach- und Fachbücher, darunter " Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie"
und "Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde". Zuletzt erschien von ihr "Wie
hältst du's mit Europa?"
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