Österreich soll Anwaltschaft in EU-Heranführung des Westbalkans übernehmen
Tirana/Wien (pk) – Albanien sieht Österreich als Schlüsselland für die Heranführung
des Westbalkans an die Europäische Union, wie der albanische Parlamentspräsident Gramoz Ruçi am
6. Mai in Gesprächen mit Bundesratspräsident Ingo Appé und Abgeordneten im Parlament sagte.
Es gebe Staaten wie Russland und China, die in der Region präsent seien und kein Interesse daran hätten,
dass Südosteuropa Teil der EU wird. Dieses Momentum werde von einigen EU-Mitgliedsländern nicht bemerkt.
Umso wichtiger sei die Haltung und Rolle Österreichs, betonte Ruçi, der seine Anerkennung für
das bisherige Engagement an das Anliegen knüpfte, im EU-Heranführungsprozess gegenüber skeptischen
Mitgliedsstaaten die Anwaltschaft für den Westbalkan zu übernehmen, um die Wichtigkeit der Region für
ganz Europa vor Augen zu führen. "Ich denke, dass ein integrierter Westbalkan kein zusätzliches
Problem für die EU ist, sondern ein nicht integrierter Westbalkan", so der Gast aus Tirana.
Albanien und Nordmazedonien würden nach Erfüllung der Bedingungen auf den von Brüssel für heuer
ins Auge gefassten Beginn der Beitrittsgespräche warten. Die EU-Beitrittsgespräche oder der Beitritt
sollten kein Geschenk sein, Albanien kenne seine Verantwortung und habe mit großer Intensität an Reformen
gearbeitet, "wir hoffen dieses Jahr auf eine positive Antwort der EU", so Ruçi. Als positiven
Indikator für Albaniens Fortschritte nannte er etwa die 2017 gestartete Justizreform. "Weder Korruption
noch Kriminalität können ohne unabhängige Justiz bekämpft werden. Deswegen ist sie die wichtigste
all unserer Reformen", so der Parlamentspräsident, der zudem darüber informierte, dass nach dem
Vetting der albanischen Justiz 70% der RichterInnen an den Höchstgerichten aus ihrem Amt enthoben wurden.
Bis Juni sollen der Verfassungsgerichtshof sowie der Oberste Gerichtshof neu besetzt und wieder funktionsfähig
sein. Was den Kampf gegen Kriminalität und Drogenhandel betrifft, sieht der Parlamentspräsident Albanien
auf einem positiven Weg. Es handle sich dabei allerdings um Probleme, die kein Land alleine bewältigen könne,
deshalb seien Vereinbarungen wie mit Österreich in diesem Bereich von großer Bedeutung.
Bundesratspräsident Appé betonte gegenüber Ruçi, dass sich Österreich seiner Vermittlerrolle
bewusst sei und auch mit skeptischen EU-Mitgliedsländern Gespräche führe, um das europäische
Projekt in Südosteuropa zu finalisieren. Angesichts des Friedensprozesses sowie wirtschaftlicher Aspekte sollte
es das Ziel sein, die gesamte Region in die EU zu integrieren. Die weitere Unterstützung Österreichs
auf Albaniens Weg in die EU betonte ebenfalls der Obmann des EU-Unterausschusses Reinhold Lopatka (ÖVP). Im
österreichischen Parlament gebe es fraktionsübergreifenden Konsens zur EU-Westbalkan-Integration, informierte
der Abgeordnete. Natürlich würde es eine Zeit dauern, bis neue Mitgliedstaaten zu Nettozahlern werden,
allerdings müsse man im Fall der südosteuropäischen Region auch "Nichterweiterungskosten"
miteinbeziehen.
Geht es um die teilweise gewaltsamen Proteste in Tirana, meinte Ruçi, dass diese ausschließlich von
der Opposition organisiert würden. Diese würde "wie jede politische Partei, die die Regierung übernehmen
möchte", vorgezogene Wahlen erzwingen wollen, wie er gegenüber Susanne Fürst (FPÖ) sagte.
In den Protesten seien jedenfalls keine Gewerkschaften oder Interessengruppen wirtschaftlicher oder sozialer Art
involviert. Fürst machte gegenüber dem albanischen Gast geltend, dass die Integration des Westbalkans
in die EU ein Anliegen der FPÖ sei. "Das würde dem Frieden in Österreich und der EU gut tun",
so die Abgeordnete.
Angesprochen von Birgit Sandler (SPÖ) auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit sowie die Landflucht in Albanien,
meinte Ruçi, dass es in den letzten vier Jahren im Vergleich mit anderen Ländern in der Region positive
Entwicklungen gebe, das Problem aber noch nicht gelöst sei.
Angelehnt an seinen Themenschwerpunkt als Bundesratspräsident erkundigte sich Appé auch über die
Situation des Trinkwassers in Albanien. "Wir sind ein Land, das sich bemüht, diesen Schatz nicht zu missbrauchen",
sagte dazu Ruçi. Albanien würden nicht die Wasserquellen fehlen, in den letzten drei Jahrzehnten seien
diese allerdings nicht optimal verwaltet worden.
Der albanische Parlamentspräsident Gramoz Ruçi befindet sich diese Woche zu einem mehrtägigen
Besuch in Wien. Heute stand eine Aussprache mit MandatarInnen der bilateralen parlamentarischen Gruppe Österreich-Albanien,
des Außenpolitischen Ausschusses und des Ständigen EU-Unterausschusses des Nationalrats sowie ein Arbeitsgespräch
bei Bundesratspräsident Ingo Appé am Programm.
Der Präsident des albanischen Parlaments setzt am 7. Mai seinen Besuch im Parlament fort. Nationalratspräsident
Wolfgang Sobotka wird ihn am Nachmittag im Palais Epstein zu einem Arbeitsgespräch empfangen, davor besucht
Ruçi die Demokratiewerkstatt.
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