SPÖ-Misstrauensantrag von FPÖ und JETZT mitgetragen
Wien (pk) - Erstmals in der Zweiten Republik zeitigte am 27. Mai im Nationalrat ein Misstrauensantrag
Erfolg. SPÖ, FPÖ und JETZT versagten auf Antrag der SozialdemokratInnen der gesamten Bundesregierung
das Vertrauen, gemeinsam verfügten die drei Parteien über die dafür nötige Mandatsmehrheit.
Bundeskanzler Sebastian Kurz betreibe eine einzig von Machtinteressen der ÖVP getriebene Politik, wurde das
ausgesprochene Misstrauen begründet. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat somit den Auftrag,
Kurz und sein Regierungsteam aus ÖVP-MinisterInnen sowie ExpertInnen des Amtes zu entheben und bis zur Neuwahl
für eine Übergangsregierung zu sorgen. Ein nur gegen den Kanzler gerichteter Misstrauensantrag der Liste
JETZT wurde in weiterer Folge nicht mehr abgestimmt.
Gegen das Misstrauensvotum traten bei der heutigen Sondersitzung des Nationalrats die Abgeordneten von ÖVP
und NEOS auf. Kurz habe auf das Ibiza-Skandalvideo richtig reagiert, indem er die Koalition mit den Freiheitlichen
aufkündigte und deren Ressorts mit unabhängigen ExpertInnen besetzte, erklärte die Volkspartei.
Eine Entlassung dieser Regierung gefährde die Stabilität im Land. Die NEOS mahnten, das Vertrauen in
die Politik durch vollständige Aufklärung sämtlicher Vorwürfe gegen die ehemalige Regierungspartei
FPÖ wiederherzustellen. In Angriff nehmen solle dies eine stabile "Verwaltungsregierung" ohne parteipolitische
Interessen.
Auslöser der politischen Kapriolen war ein 2017 auf der spanischen Ferieninsel Ibiza geheim gefilmtes Gespräch
von Heinz Christian Strache, damals Chef der oppositionellen FPÖ, und Ex-FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus
mit einer vermeintlichen russischen Geschäftsfrau. Von den Politikern wurden dabei Aussagen getätigt,
die unter anderem den Verdacht auf illegale Parteienfinanzierung und geplante Vereinnahmung von Medien weckten.
Nach den Rücktritten von Strache und Gudenus forderte die ÖVP auch von Innenminister Herbert Kickl die
Niederlegung seines Amtes ein. Argumentiert wurde dies mit der Sicherstellung ungehinderter Ermittlungen über
Finanzströme in Richtung Freiheitliche, da Kickl zum Zeitpunkt des Ibiza-Videos als Generalsekretär der
FPÖ fungiert hatte.
Angesichts der politischen Turbulenzen wurde ein Antrag auf vorzeitige Beendigung der XXVI. Gesetzgebungsperiode
und Ausrufung von Neuwahlen im September 2019 dem Verfassungsausschuss des Nationalrats zugewiesen. Abgelehnt wurde
ein Fristsetzungsantrag von JETZT. Der Antrag zielt darauf ab, die Forderung, ein Minderheitenrecht zur Ministeranklage
in die Bundesverfassung aufzunehmen, noch vor der Neuwahl, konkret bis zum 11. Juni 2019, im Verfassungsausschuss
zu behandeln.
Rendi-Wagner: Bundeskanzler Kurz hat Vertrauen schamlos verspielt
Den Misstrauensantrag ihrer Fraktion brachte SPÖ-Klubobfrau Pamela Rendi-Wagner mit der Erklärung ein,
Bundeskanzler Kurz habe das Vertrauen in seine staatspolitisch verantwortungsvolle Amtsführung verspielt.
"Ein schamloser, zügelloser, verantwortungsloser Griff nach Macht" präge das Handeln von Kurz,
so Rendi-Wagner, die dem Kanzler vorhielt, nicht im Sinne des Gemeinwohls Neuwahlen anzustreben, sondern nur deswegen,
weil die ÖVP nicht das Innenministerium bekommen hat. Entrüstet zeigte sich die SPÖ-Chefin auch
über den Umgang des Kanzlers mit den Oppositionsparteien im Parlament. Kurz habe ihnen nicht den nötigen
Respekt und ausreichend Dialogbereitschaft entgegengebracht, obwohl "Kooperation und Dialog die Basis für
Vertrauen bilden". Folglich verweigere die SPÖ ihre Zustimmung zu einer "ÖVP-Alleinregierung",
wie sie Kurz mit dem Austausch der FPÖ-MinisterInnen durch ExpertInnen geplant habe. Der Kanzler handle nicht
im Bewusstsein, dass die Macht in einer Demokratie vom Volk ausgeht, vielmehr stelle er "das Ich vor das Wir",
rügte ihn Rendi-Wagner, nicht für die Menschen in Österreich zu arbeiten.
Wöginger: Misstrauensantrag richtet sich gegen Stabilität im Land
Für den Klubobmann der ÖVP, August Wöginger, ist das Agieren der SPÖ "unfassbar und unglaublich".
Mit ihrem Misstrauensantrag gegen Bundeskanzler Kurz und sein Regierungsteam handle die größte Oppositionspartei
gegen den Willen der Bevölkerung, verwies er auf das erfolgreiche Abschneiden der Volkspartei bei der gestrigen
EU-Wahl und auf persönliche Gespräche mit BürgerInnen. "Rot-Blau stürzt das Land ins Chaos."
Kurz habe dagegen auf die Veröffentlichung des Ibiza-Videos "umsichtig und verantwortungsvoll" reagiert
und in Absprache mit Bundespräsident Van der Bellen die vakanten Regierungsämter mit ExpertInnen besetzt,
um Österreichs Stabilität zu gewährleisten. "Die Neuwahlen sind kein Wunsch, sondern eine Notwendigkeit",
unterstrich Wöginger, im September würden dann die BürgerInnen über die Zukunft des Landes
entscheiden. Entscheidend sei, bis dahin für "volle Transparenz und Aufklärung zu sorgen",
spielte er auf mutmaßlich ungeklärte Spenden an die Freiheitlichen an. Mit einem ehemaligen FPÖ-Generalsekretär
als Innenminister wäre dies nur schwer möglich.
Kickl: Alte ÖVP will wieder an die Macht
Als Nationalratsabgeordneter der FPÖ trat Herbert Kickl zum Rednerpult im Plenarsaal. Der ehemalige Innenminister
zeigte sich heute überaus enttäuscht vom früheren Koalitionspartner: Die Volkspartei sei nicht zu
den Koalitionsvereinbarungen gestanden, während die FPÖ gleich nach Bekanntwerden des Ibiza-Skandals
die notwendigen personellen und inhaltlichen Konsequenzen gezogen habe. Besonders Bundeskanzler Kurz hielt Kickl
vor, die gesamte FPÖ wegen des Fehlverhaltens zweier Mitglieder in "Sippenhaft" zu nehmen, um den
eigenen Machtbereich zu vergrößern. "Ihr Griff nach der Macht ist widerlich." Nicht die "Enthüllungen"
haben in Kickls Augen "die Regierungsarbeit zerstört", sondern die "Machtinteressen der alten
ÖVP", von denen sich Kanzler Kurz treiben lasse. Einzig um die Wiedererlangung des Innenministeriums
sei es der Volkspartei gegangen, analysierte Kickl, der dabei Kenntnisse über ein verdecktes "Sittenbild"
andeutete, vor dem Ibiza verblasse.
Meinl-Reisinger: Neue politische Kultur der Transparenz schaffen
Die Klubobfrau der NEOS, Beate Meinl-Reisinger, mahnte eine weniger emotional geprägte Debatte ein. Wohl sei
sie bestürzt über die Vorkommnisse der letzten Woche, doch wenig überrascht: Immerhin hätten
die NEOS schon lange gewarnt, "mit Populisten ist kein Staat zu machen". Auch die Nähe der FPÖ
zu Russland habe ihre Fraktion im Parlament thematisiert, gerade hinsichtlich der Parteienfinanzierung. "Ich
bedaure, dass wir Recht gehabt haben." In Anspielung auf das Ibiza-Video befand Meinl-Reisinger, die FPÖ
sei bereit, für Machtgewinn die "Schätze Österreichs", etwa das Trinkwasser, zu verkaufen.
Allerdings tue sich hier ein über Jahrzehnte unter SPÖ und ÖVP genauso gewachsenes System von Intransparenz,
Postenschacher und versteckter Parteienfinanzierung auf. Die derzeitige Krise sei daher als Chance zu begreifen,
für größtmögliche Transparenz zu sorgen, appellierte Meinl-Reisiger, denn "Macht macht
anfällig für Machtmissbrauch". Sinnvoll wäre nun eine reine Verwaltungsregierung, die von wahltaktischen
und parteipolitischen Manövern Abstand hält und für Aufklärung sorgt.
Noll: Kurz fehlt es an Vertrauenswürdigkeit
JETZT-Verfassungssprecher Alfred Noll ging es namens seiner Fraktion mit einem eigenen Antrag darum, einzig und
alleine Bundeskanzler Kurz das Vertrauen zu entsagen. Kurz habe sich seit Beginn 2017 zweimal für eine Regierung
verpflichtet, zunächst in Koalition mit der SPÖ, zuletzt mit der FPÖ, und beide Male vorgezogene
Neuwahlen erzwungen. "Schon wieder war Ihre Unterschrift nichts wert", warf Noll dem Kanzler mangelnde
Pakttreue vor. Die Politik von Kurz beschrieb der JETZT-Mandatar als "politisches Raubrittertum", mit
unglaubwürdigen Zusagen, die letztlich nur "taktische Sprossen auf der eigenen Karriereleiter" darstellten.
SPÖ: Kurz strebt nach ÖVP-Alleinregierung
Auch der weitere Verlauf der Debatte machte den Vertrauensbruch zwischen der ÖVP und den übrigen Parteien
deutlich. "Konflikte, Auseinandersetzung, Konfrontation" waren die Worte, mit denen SPÖ-Abgeordneter
Johannes Jarolim den Stil der Bundesregierung qualifizierte. Nach außen hin habe Kanzler Kurz salbungsvoll
gesprochen, nach innen habe er aber Machtmissbrauch betrieben, lautete der Vorwurf des Justizsprechers der Sozialdemokraten.
Wir brauchen Demokratie statt Egomanie, das werde auch Kurz zur Kenntnis nehmen müssen. In dasselbe Horn blies
Jarolims Fraktionskollegin Gabriele Heinisch-Hosek, die dem Kanzler vorwarf, keinerlei Gespräche mit der Opposition
geführt zu haben. Kurz sei es nur darum gegangen, für seine Partei ein Wahlkampfkabinett aufzubauen,
da sei das Vertrauen einfach nicht mehr gegeben.
Die SPÖ habe sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht, meinte Andrea Kuntzl (SPÖ) und bezichtigte
den Bundeskanzler ebenfalls der Dialogverweigerung und des respektlosen Umgangs mit dem Parlament. Auch in der
Krise habe Kurz nicht staatsmännisch agiert, sondern vielmehr eine beinharte Wahlkampfrede gehalten und dann
unter dem Titel "Expertenregierung" eine verdeckte ÖVP-Alleinregierung installiert. Kuntzl sprach
vom Versuch einer kalten Machtübernahme und fügte an, so erwerbe man sich das Vertrauen nicht. Nach Ansicht
von Peter Wittmann (SPÖ) ist das Misstrauen über Jahre entstanden, zumal der Bundeskanzler den Weg des
Konsenses verlassen habe und ausschließlich an der Erweiterung seiner eigenen Macht interessiert sei. Es
gehe nicht an, mit 35% der Wählerstimmen eine ÖVP-Alleinregierung zu etablieren, dies sei ein gefährliches
Spiel auf dem Rücken der Republik.
FPÖ: ÖVP hat mit Forderung nach Kickl-Rücktritt rote Linie übeschritten
Eine beliebte und erfolgreiche Koalition sei zu rasch und zu leichtfertig zu Ende gegangen, bedauerte namens
der FPÖ Norbert Hofer und hob Maßnahmen wie die Anti-Schuldenpolitik, den Familienbonus, die Sicherheitspolitik
oder etwa das Vorgehen gegen illegale Migration hervor. Vieles sei offen geblieben, so die Mindestpension, die
Nahverkehrsmilliarde oder das Modell der direkten Demokratie. Keine Regierung könne ohne Mehrheit im Parlament
arbeiten, betonte der FPÖ-Klubobmann, für den allerdings feststeht, dass es dadurch nun keine Krise des
Staates gibt, zumal die Bundesverfassung auch für diese schwierige Situation Vorkehrungen getroffen hat. Auch
Walter Rosenkranz (FPÖ) zeigte sich nicht glücklich über den Bruch der Regierung. Es sei ursprünglich
klar gewesen, dass die beiden Rücktritte genügen würden. Mit ihrer Forderung nach dem Innenministerium
habe die ÖVP aber eine rote Linie überschritten. Nun gelte es, das freiheitliche Lager vor den Wahlen
wieder entsprechend für Österreich aufzustellen, könne das Reformprojekt doch nur mit der FPÖ
funktionieren.
NEOS fordern Transparenz bei Parteifinanzen
Irmgard Griss (NEOS) interpretierte das Ibiza-Video als einen Weckruf. Eine Politik, bei der es nicht um das Gemeinwohl,
sondern um das Wohl der eigenen Partei geht, müsse nun ein Ende haben. Vielmehr gehe es darum, Lösungen
im Ausgleich mit den anderen zu suchen. Die Neuwahl biete eine Chance dazu. Ihr Fraktionskollege Nikolaus Scherak
kritisierte das System der Parteienfinanzierung als intransparent und sanktionslos und forderte eine echte Einsichtnahme
und Prüfungsrechte für den Rechnungshof in die Parteifinanzen sowie die Verankerung eines Straftatbestands
der illegalen Parteifinanzierung. Mit Nachdruck rief er überdies die ÖVP auf, ihre Finanzen offenzulegen.
Josef Schellhorn (NEOS) beanstandete parteipolitische Bestellungen seitens des Bundeskanzlers und übte heftige
Kritik an untergelagerten Vereinen zwecks Parteienfinanzierung. Die aktuelle Krise biete nun die Chance, für
politische Hygiene zu sorgen und endlich aufzuräumen.
JETZT: Kurz geht es nur um die Macht
Daniela Holzinger-Vogtenhuber (JETZT) warnte vor einer Alleinregierung der ÖVP und warf Kurz vor, die Regierungsarbeit
weitgehend am Parlament vorbei geführt zu haben und nun die Schwäche des Koalitionspartners auszunützen,
um sich die Macht alleine zu sichern. Parallelen zwischen Sebastian Kurz und Karl Heinz Grasser zog Peter Pilz
(JETZT). Grasser sei es um Finanzielles gegangen, bei Kurz stehe die Macht im Vordergrund, das Parlament interessiere
ihn nicht. Die Zusage, Klubobleute der Opposition als "Muppets" in den Ministerrat zu holen, begründe
jedenfalls kein Vertrauen, meinte Pilz.
Bißmann und Dönmez rufen zu Achtung und Menschlichkeit in der Politik auf
Die fraktionslose Abgeordnete Martha Bißmann kündigte an, sich ihrer Stimme zu enthalten, und rief zu
einem Wertewandel in Richtung von mehr Menschlichkeit in der Politik auf, um das angeschlagene Vertrauen wieder
herzustellen. Efgani Dönmez (o.F.) pflichtete ihr bei und stellte fest, Achtung und Zurückhaltung sei
nun im Wahlkampf gefordert. Den Misstrauensantrag werde er nicht unterstützen, da er Freunden und Weggefährten
nicht in den Rücken fallen wolle, betonte Dönmez.
ÖVP sieht Misstrauensantrag als ungerechtfertigt und will Reformkurs fortsetzen
ÖVP-Abgeordneter Martin Engelberg zeigte keinerlei Verständnis für den Misstrauensantrag, den er
als ungerechtfertigt gegenüber dem Bundeskanzler und auch gegenüber der Bundesregierung einschließlich
der nunmehr angelobten ExptertInnen bezeichnete. Sämtliche politischen Kommentare der letzten Tage hätten
nur Kopfschütteln für die Aktion der SPÖ übrig, erinnerte er und mahnte zu Besonnenheit und
zu einem Handeln über die Parteigrenzen hinweg. Der Weg, den die ÖVP mit Sebastian Kurz eingeschlagen
hat, sei ein guter Weg gewesen, "wir werden diesen Weg fortsetzen", bekräftigte Gabriela Schwarz
(ÖVP). An die SPÖ gerichtet verwies sie auf Aussagen Hans Peter Doskozils und sprach von einem rot-blauen
"Kickl-Kurs", was auch Karl Nehammer (ÖVP) mit den Worten bestätigte, er sei überrascht
von der "Rendi-Wagner-Kickl-Koalition" mit Verschwörungstheorien und Anschuldigungen. Nehammer diagnostizierte
bei der SPÖ Chaos statt staatpolitischer Verantwortung, ging aber auch mit der FPÖ scharf ins Gericht,
der er vorwarf, mangels Einsichtsfähigkeit die Koalition gesprengt zu haben und nun vom Ibiza-Video abzulenken.
Die ÖVP werde sich jedenfalls nicht erpressen lassen, sie werde vielmehr weiterhin das Vertrauen der BürgerInnen
suchen, um den Reformkurs für Österreich fortzusetzen.
Der Misstrauensantrag der SPÖ gegen die gesamte Bundesregierung wurde schließlich mit Stimmenmehrheit
angenommen.
Am Ende der heutigen Sondersitzung gelangte noch ein Fristsetzungsantrag des Abgeordneten Alfred J. Noll zur Abstimmung.
Der Parlamentsklub JETZT wollte mit ihrer Initiative erreichen, dass die Ministeranklage zu einem parlamentarischen
Minderheitsrecht wird. Konkret soll bereits einem Drittel der Abgeordneten die Möglichkeit eingeräumt
werden, Regierungsmitglieder wegen schuldhafter Rechtsverletzungen im Zuge ihrer Amtsführung beim Verfassungsgerichtshof
(VfGH) anzuklagen. Nach aktueller Rechtslage braucht es dafür einen Mehrheitsbeschluss des Nationalrats.
Der Verfassungsausschuss sollte darüber möglichst rasch beraten und dem Plenum einen Bericht bis zum
11. Juni 2019 vorlegen. Der Fristsetzungsantrag fand jedoch keine Mehrheit.
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