Ein neuartiges Getriebekonzept für Helikopter, das flexible Rotordrehzahlen bei konstanter
Motordrehzahl ermöglicht, präsentiert die TU Wien auf der internationalen Pariser Air Show SIAE.
Paris/Wien (tu) - Beim Auto ist es ganz selbstverständlich – das Getriebe erlaubt uns, von einem Gang
zum anderen zu schalten, damit der Motor im vorgesehenen Drehzahlbereich bleiben kann und möglichst wenig
Sprit verbraucht. Beim Fliegen ist die Sache viel komplizierter. Bei heutigen Hubschraubern bleibt die Rotordrehzahl
konstant, das wirkt sich negativ auf den Spritverbrauch aus. An der TU Wien hat man in jahrelanger Arbeit ein Getriebekonzept
entwickelt, das nun den Flugverkehr revolutionieren soll. Zwei gekoppelte Planetengetriebe ermöglichen ein
stufenloses Anpassen der Drehzahl, ganz ohne Kupplung. Bei der Pariser Air Show SIAE, von 17. bis 23. Juni wird
das Konzept nun erstmals der internationalen Luftfahrtbranche öffentlich präsentiert.
Neuartiges Getriebe: Stufenlos und sicher
„Würde man mit Hilfe einer Kupplung den Rotor plötzlich vom Antrieb trennen, würde das Fluggerät
sofort gefährlich absacken, daher muss der Leistungsfluss auch bei einer Drehzahländerung aufrecht bleiben“,
erklärt Dr. Hanns Amri vom Institut für Konstruktionswissenschaften und Produktentwicklung der TU Wien.
„Bei Doppelkupplungsgetrieben, die man aus der Automobilindustrie kennt, hätten wir es mit einem Drehzahlunterschied
bei sehr hohen Drehmomenten zwischen Antriebsseite und Rotorseite zu tun – der Verschleiß am Kupplungselement
wäre extrem hoch.“
Daher startete man im Forschungsbereich Luftfahrtgetriebe an der TU Wien das Projekt „Vari-Speed“, in Kooperation
mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie. Das Ziel war, eine ganz neue Lösung für künftige Hubschraubergenerationen
zu entwickeln.
Bisher waren Motor und Rotor in einem Helikopter fest miteinander verbunden. Man legt die Drehzahl eines Helikopters
für ganz bestimmte Aufgaben aus – für die sogenannte Design Mission. Damit sind dann die Flugeigenschaften
des Hubschraubers fixiert. „Schafft man es stattdessen aber, eine große Bandbreite an Drehzahlen zu ermöglichen,
erhöht das die Flexibilität, erweitert die Grenzen des Flugbereichs und verbessert die Energieeffzienz“,
erklärt Prof. Michael Weigand. „Die Hubschrauber können dadurch höhere Geschwindigkeiten erreichen,
der Lärmpegel wird reduziert und die Leistungsgrenze wird erhöht, sodass die Hubschrauber für ein
breiteres Spektrum an Missionen einsetzbar sind.“
Möglich wird das mit einem ausgeklügelten neuartigen Getriebe, das aus zwei gekoppelten Planetengetrieben
besteht. Es benötigt keine Kupplung und erlaubt, das Übersetzungsverhältnis von Antrieb und Rotor
stufenlos zu variieren.
Allerdings genügt es nicht, sich nur auf die Entwicklung von Getrieben zu konzentrieren. Gleichzeitig muss
sich auch die Konstruktion der Rotorblätter ändern, wenn flexible Drehzahlen ermöglicht werden sollen.
Die Eigenfrequenzen der Komponenten müssen berücksichtig werden, um eine Resonanzkatastrophe bei bestimmten
Drehzahlen zu vermeiden. Das Gesamtsystem Hubschrauber muss neu überdacht werden.
Spezialisten für Gestaltung und Auslegung von Rotorblättern von der TU München waren ebenso Partner
im Projekt wie der Getriebespezialist Zoerkler aus Österreich, der seine Erfahrung mit Fertigung und Betrieb
von Getrieben einbrachte. Die TU Wien war nicht nur für das Getriebekonzept verantwortlich, sondern bringt
auch ihre Expertise in Tribologie und Optimierung von Getriebeschmierung ein.
TU Wien: Expertise auch bei Zertifizierung und Marktstrategien
Für den Bau eines neuen Hubschraubertyps oder – allgemeiner gesprochen – eines neuen Drehflüglers, ist
eine ganze Reihe von Schritten nötig, bei denen das Team der TU Wien Kooperationspartner kompetent begleiten
kann: Beginnend bei der Massenabschätzung des Antriebsstranges im Vorentwurf, über die Konzeption und
Entwicklung des Antriebsstranges bis hin zu Qualifizierungs- und Zulassungsfragen.
„Die Sicherheitsstandards sind bei Fluggeräten extrem hoch, daher spielt die Zertifizierung eine wichtige
Rolle im Konstruktionsprozess“, erklärt Michael Weigand. „Uns stehen an der TU Wien wichtige Prüfmaschinen
und Messgeräte zur Verfügung, um unsere Firmenpartner auch bei der Zulassung des Geräts optimal
unterstützen zu können.“ Und was nicht direkt an der TU Wien geprüft werden kann, wird in Kooperation
mit der TVFA getestet, der Technischen Versuchs- und Forschungsanstalt, die gemeinsam vom TÜV AUSTRIA und
der TU Wien betrieben wird.
Die Marktchancen für das neue Hubschraubergetriebe mit variabler Drehzahl schätzen Weigand und Amri als
sehr gut ein. Bis sich ein marktreifer und zertifizierter neuer Drehflügler in die Luft erhebt ist allerdings
mit einer Umsetzungsphase von 7 bis 12 Jahren zu rechnen. Ein wesentlicher erster Schritt wurde durch die Aktivitäten
des Forschungsbereichs Maschinenelemente und Luftfahrtgetriebe der TU Wien gesetzt.
Öffentlich einem breiten Fachpublikum präsentiert werden die Ergebnisse nun erstmals auf der Internationalen
Luft- und Raumfahrtausstellung SIAE Le Bourget, in Paris von 17. bis 23. Juni 2019, in Halle 4 an Stand G17.
Neben Know-how des Institutes für Konstruktionswissenschaften und Produktentwicklung werden auch Innovationen
und Angebote aus vier weiteren Instituten, aus vier Fakultäten der TU Wien sowie der TÜV AUSTRIA TVFA
für die internationale Luftfahrtindustrie vorgestellt:
- Bearbeitung für höchste Qualität in der Luftfahrt:
verbesserte vibrationsunterstützte Bearbeitung (VAM), deterministisches Oberflächenhämmern (MHP),
hochqualitative Bearbeitung von CFK-Bauteilen, Stacks und hochwarmfesten Titan- und Nickelbasislegierungen, wie
z. B. Inconel
- Prüfung und Inspektion von Flugzeugbauteilen in TUW-eigenen
Labors sowie durch die TVFA und in Kooperation mit dem TÜV AUSTRIA: Mechanische Komponenten unter realen Belastungen,
großes EMV-Prüflabor und Prüffeld
- Aktive Turbulenzunterdrückung – um bis zu 10 % reduzierte
Werte von Kraftstoffverbrauch und CO2-Emissionen, höhere Sicherheit und verbesserter Reisekomfort
- Multiphysikalische Simulationssoftware NGSolve für
komplexe Geometrien und Effekte in der Luftfahrttechnik – leicht in den bestehenden Workflow integrierbar
- Hochleistungspolymere, die bis 650° C hochstabil sind,
auf umweltfreundlich hergestellten Polyimiden basieren und besonders geringes Gewicht aufweisen – was sie prädestiniert
für vielfältigen Einsatz in der Luft- und Raumfahrt.
|