Bundeskanzlerin stellt im Nationalrat Übergangsregierung vor
Wien (pk) - "Für Verlässlichkeit stehen wir und um Vertrauen werben wir", bekräftigte
die erste Bundeskanzlerin der Republik, Brigitte Bierlein, am 12. Juni zu Beginn ihrer Erklärung vor
dem Nationalratsplenum. Sie unterstrich diesen Leitgedanken mit einem Zitat von Cicero: "Nichts hält
das Gemeinwesen besser zusammen als die Verlässlichkeit." Bierlein betonte, sie übernehme ihre Aufgabe
mit großer Demut.
Die Bundeskanzlerin stellte heute die am 3. Juni von Bundespräsident Alexander Van der Bellen angelobte Übergangsregierung
- bestehend aus 12 Expertinnen und Experten - vor, die nun die Regierungsgeschäfte leiten wird, nachdem die
Bundesregierung unter Sebastian Kurz aufgrund eines Misstrauensantrags abberufen wurde. Im Hinblick auf den Neuwahlbeschluss,
der ebenfalls heute auf der Tagesordnung steht, bat Bierlein, rasch und gemeinsam die nötigen Vorkehrungen
zu treffen, um einen Wahltermin festlegen zu können. Sie hätte sich, so wie der Bundespräsident,
einen früheren Termin gewünscht, merkte sie an. Selbstverständlich respektiere sie aber die Entscheidung
des Nationalrats.
Appell Bierleins, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen
Bierlein appellierte vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation an die Verantwortung des Parlaments,
das Gemeinsame von das Trennende zu stellen. Das Miteinander habe in Österreich Tradition, so die Bundeskanzlerin,
wir alle seien verschieden, dennoch müsse das verbindliche Element, nämlich die Menschlichkeit, beachtet
werden. Als Herausforderungen für die Politik nannte die Bundeskanzlerin die Digitalisierung, den Klimawandel,
die Sicherung des Sozialsystems und den demographischen Wandel, wobei sie für ein lebenswertes, wirtschaftlich
erfolgreiches und weltoffenes Österreich plädierte.
Sowohl Bierlein als auch Vizekanzler Clemens Jabloner lobten die Bundesverfassung, die für die derzeitige
einmalige Situation kluge Vorkehrungen getroffen habe. Bierlein sprach von einer einmaligen Situation, da erstmals
eine Bundesregierung vom Bundespräsidenten eingesetzt wurde. Dabei habe sich gezeigt, was in der Bundesverfassung
stecke und wie verlässlich sie sei, sagte Bierlein. Trotz einer ungewöhnlichen und heiklen Zeit könne
von Staatskrise keine Rede sein, wies Jabloner auf die solide Bundesverfassung hin. Bierlein dankte in diesem Zusammenhang
auch dem Bundespräsidenten explizit für dessen umsichtiges und ruhiges Vorgehen.
Bierlein thematisierte die einmalige Situation, dass ihre Übergangsregierung weder direkt noch indirekt gewählt
sei. Man werde daher kein politisches Programm abarbeiten, man habe auch keine Wahlversprechen umzusetzen. Auch
die Tagespolitik werde nicht kommentiert und man werde auf das tagespolitische Kalkül verzichten. Wichtige
und absehbare politische Fragen müssten von der kommenden Regierung beantwortet werden, so die Kanzlerin.
Diese Bundesregierung werde jedoch Stabilität und Sicherheit gewährleisten und in diesem Sinne sei sie
auch voll handlungsfähig. Bierlein versprach dabei auch, höchste Sparsamkeit walten zu lassen. Selbstverständlich
werde man die Beschlüsse des Parlaments mit bestem Wissen und Gewissen umsetzen, so Bierlein, denn im Hohen
Haus schlage das Herz der österreichischen Demokratie und dieses schlage heftig und lebendig.
Wie schon nach ihrer Angelobung bekräftigte Bundeskanzlerin Bierlein abermals, einen breiten Dialog mit den
politischen Parteien, der Zivilgesellschaft und den Religionsgemeinschaften führen zu wollen.
Personalentscheidungen auf EU-Ebene: Österreich muss weiterhin als starke Stimme wahrgenommen werden
Die Bundeskanzlerin warf in ihrer Rede auch einen Blick über die Staatsgrenzen hinaus und versicherte, ihre
Regierung werde die Interessen in Europa und der Welt wahrnehmen. Österreich bleibe ein verlässlicher
Partner.
Sie verhehlte jedoch nicht, dass nach den Europawahlen wesentliche Weichen auf EU-Ebene gestellt werden müssen
– man denke an den Mehrjährigen Finanzrahmen, an den Brexit und an Personalentscheidungen – und dass dort
hoch komplexe politische Strukturen vorherrschen. In diesem Sinne rief sie vor allem im Hinblick auf Personalentscheidungen
für die EU dazu auf, Personen mit fachlicher Expertise und politischem Können vorzuschlagen und in diesem
Prozess Einigkeit zu zeigen. Denn es sei wichtig, in Brüssel weiterhin als starke Stimme wahrgenommen zu werden.
Jabloner: Rechtsstaat und Grundrechte sind oberste Handlungsmaxime
Auch Vizekanzler und Justizminister Clemens Jabloner ging auf die aktuelle Situation ein, in der die neue Bundesregierung
nicht auf eine gesicherte Mehrheit im Nationalrat zurückgreifen kann. Die Regierung stehe unter Beobachtung
des Nationalrats und deshalb gelte es, dessen Vertrauen ständig zu erwerben. Die Bundesregierung sei jedoch
durch den Bundespräsidenten, der vom Volk direkt gewählt wird, demokratisch legitimiert.
Die Handlungsmöglichkeiten sieht der Vizekanzler beschränkt, hält dies aber für angebracht.
Jabloner sieht die Aufgabe des Kabinetts in einer sachkundigen Fortführung der Amtsgeschäfte, wobei es
auch darum gehe, gegebenenfalls möglichen Schaden abzuwenden. Man werde aber keine Initiativen setzen, diese
sollen der nach den nächsten Nationalratswahlen legitimierten Bundesregierung vorbehalten bleiben, ist er
sich mit der Bundeskanzlerin einig.
Als Justizminister sind für ihn Rechtsstaat und Grundrechte oberste Handlungsmaxime. Besonders die Europäische
Menschenrechtskonvention steht für ihn unverrückbar im Zentrum des politischen Handelns. Jabloner bekräftigte,
vor allem die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit stärken zu wollen.
Was den Föderalismus und die Verwaltungsreform betrifft, wird diesen Themen nicht jene Bedeutung zukommen,
wie bei der vergangenen Regierung, hielt Jabloner fest. Das heiße aber nicht, dass er keine Überlegungen
dazu anstellen werde.
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